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Aserbaidschan hat den zweiten Krieg um Berg-Karabach gewonnen. „Fast alle Politiker haben mir gesagt, es gebe keine militärische Lösung des Konfliktes“, frohlockte Präsident Ilham Alijew am 10. November. „Aber wir haben bewiesen, dass es eine gibt.“ Genau darin liegt das Problem für Europas Sicherheit: Nach den großen fühlen sich auch die kleineren Staaten nicht mehr an Prinzipien der KSZE-Schlussakte wie Gewaltverzicht und friedliche Konfliktregelung gebunden. Der Westen nimmt es bislang relativ klaglos hin, Sanktionen drohen Baku nicht.

In anderen Staaten mit ungelösten Territorialkonflikten wird man das aufmerksam registriert haben. Noch am 29. Oktober hatte Außenminister Heiko Maas im Bundestag gesagt: „Eine militärische Lösung des schon lange andauernden Konfliktes wird von der internationalen Staatengemeinschaft nicht akzeptiert werden. Eine bessere Verhandlungsposition lässt sich nicht auf dem Schlachtfeld erringen.“

Letzteres ist nun geschehen. Armenien hat den Krieg verloren. Das am 9. November unterzeichnete Waffenstillstands-Abkommen wird im Land als Kapitulation wahrgenommen. Baku hat mit militärischen Mitteln all das erreicht, was im Konferenzraum seit Ende des ersten Krieges 1994 nicht zu erlangen war. Sogar mehr als das: Bis zum 1. Dezember müssen die armenischen Streitkräfte alle Gebiete rund um Berg-Karabach räumen, die sie über ein Vierteljahrhundert als Pufferzone besetzt hielten.

Vom einstigen „Autonomen Gebiet Berg-Karabach“, das sich 1991 von der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik gelöst hatte, bleiben nach aserbaidschanischen Geländegewinnen nur rund zwei Drittel unter armenischer Kontrolle. Einen völkerrechtlichen Status erhält die international nicht anerkannte „Republik Arzach“, so die armenische Eigenbezeichnung, hingegen nicht. Die Friedensformel „Status gegen Territorien“, die jahrelang auf dem Verhandlungstisch der „Minsk-Gruppe“ der OSZE lag, ist damit Makulatur. Der Waffenstillstand wird für die nächsten fünf Jahre von 1960 russischen Soldaten bewacht.

Frankreich und die USA, die neben Russland den Ko-Vorsitz der Minsk-Gruppe stellen, spielten in den entscheidenden Stunden vor dem Waffenstillstand offenkundig keine Rolle mehr. Die Konfliktlösung im multilateralen Rahmen der OSZE ist damit vorerst gescheitert. Dagegen stimmte sich Moskau direkt mit Ankara ab. Die Türkei hatte ihren Verbündeten Aserbaidschan massiv unterstützt, und zwar nicht nur rhetorisch: Syrische Söldner wurden von türkischen Militärs an die Kaukasus-Front expediert.

Baku hat mit militärischen Mitteln all das erreicht, was im Konferenzraum seit Ende des ersten Krieges 1994 nicht zu erlangen war.

Kriegsentscheidend waren vor allem Drohnen türkischer Bauart, die den armenischen Truppen massive Verluste zufügten. Im Jahr 2020 bot sich auf einmal ein Bild, das an die Vergangenheit vor 100 Jahren erinnert: Werden künftig die Türkei und Russland das Schicksal des Südkaukasus unter sich ausmachen? Die USA blieben weit weg, die EU wirkte hilflos, der Iran war mehr interessierter Zaungast.

Durch die alleinige Entsendung der Friedenstruppen unterstreicht Moskau zugleich seinen Anspruch darauf, die dominante Ordnungsmacht im Südkaukasus zu sein. An Russland wird auch in Zukunft kein Weg vorbeiführen: Armenien ist nach dem Krieg noch abhängiger vom Kreml als zuvor, und Aserbaidschan willigte in die Präsenz russischer Militärs auf seinem Territorium ein. Letzteres hatte Baku stets zu vermeiden gesucht.

In Armenien ging die äußere nahtlos in eine innere Krise über: Nur Minuten nach Bekanntwerden des Waffenstillstandes stürmte ein wütender Mob Parlament, Regierungssitz und Residenz von Premierminister Nikol Paschinjan. Parlamentspräsident Ararat Mirsojan wurde auf offener Straße krankenhausreif geschlagen. Sämtliche Gegner der Paschinjan-Regierung, die 2018 infolge eines friedlichen Aufstands gegen Korruption und Misswirtschaft an die Macht kam, rüsten sich für ihr Comeback. In Frage stehen damit die seit 2018 erreichten demokratischen Fortschritte. Das Verhältnis zur EU ist schwer getrübt: In Armenien sieht man sich als Opfer einer türkisch-aserbaidschanischen Aggression, für die Brüssel nur diplomatische Floskeln übrighatte.

Dabei wäre die humanitäre Katastrophe des 44-Tage-Krieges zu verhindern gewesen. Erneut haben Tausende Menschen ihr Zuhause verloren. Hunderte Soldaten, oft Wehrpflichtige unter 20 Jahren, und Dutzende Zivilisten hätten nicht sterben müssen, wenn der Kompromisswille der Eliten in Jerewan und Baku ausgeprägter gewesen wäre – oder wenn die internationale Gemeinschaft irgendwann zwischen 1994 und 2020 mit vereinten Kräften die über lange Zeit wirtschaftlich schwachen Staaten zu einem Kompromiss gezwungen hätte. Dessen Formel lag – siehe oben – spätestens seit 2007 auf dem Tisch. Unter der Chiffre „Madrid-Prinzipien“ war sie von beiden Regierungen auch im Grundsatz akzeptiert worden.

Mit dem Moskauer Waffenstillstand ist der Konflikt noch nicht gelöst. Vielmehr hat sich die bisherige Ausgangslage in ihr Gegenteil verkehrt: Aserbaidschan, der Verlierer von 1994, triumphiert jetzt. Armenien droht, aus der traumatischen Niederlage einen vergleichbaren Revanchismus zu entwickeln, der Baku 2020 in den Krieg führte. Das muss die EU, sollte ihr am Südkaukasus insgesamt gelegen sein, verhindern. Gewalt darf im Südkaukasus künftig keine Option der Politik mehr sein.

Die Minsk-Gruppe sollte zurück ins Spiel kommen. Zumindest der Versuch muss jetzt gemacht werden, den Waffenstillstand in einen Friedensvertrag auf Grundlage der Madrid-Prinzipien zu verwandeln. Diese stellen nicht nur auf die territoriale Integrität Aserbaidschans ab, sondern auch auf Gewaltverzicht und das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier. Russlands Friedenstruppen sollten durch eine zivile Beobachtungsmission der OSZE ergänzt werden, die unabhängig über die Einhaltung von Minderheitenrechten auf beiden Seiten der neu gezogenen Konfliktlinie wacht. Die im Konfliktgebiet verbliebenen Menschen benötigen ebenso wie die Geflohenen humanitäre Hilfe. Der Winter naht, und in beiden Staaten grassiert die Covid-19-Epidemie.

Schließlich birgt der Waffenstillstand auch die leise Hoffnung auf eine neue Weichenstellung: Im Punkt 9 sieht das Abkommen die Wiederherstellung sämtlicher Transport- und Wirtschaftsverbindungen in der Region vor. Was jetzt noch illusionär klingt, könnte mittel- bis langfristig die Konfliktregion transformieren, wenn Armeniens Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan tatsächlich geöffnet werden. Die EU könnte hier ein Wiederaufbauprogramm entwickeln, das Konnektivität und die in zwei Kriegen zerstörte zivile Infrastruktur der Region wiederherstellt. Das wäre auch eine Voraussetzung für die Rückkehr von Hunderttausenden Flüchtlingen, die der Vertrag ebenfalls in Aussicht stellt. Nicht zuletzt bleiben zivilgesellschaftliche Friedens-Initiativen wichtig, deren 30-jährige Bemühungen um Verständigung und Versöhnung in 44 Tagen Krieg unter die Räder gekommen sind.