Amerika erscheint vielen heute als eine überforderte Supermacht. Das Narrativ lautet dabei in etwa so: Unter dem Druck einer in Irak und Afghanistan kriegsmüde gewordenen Gesellschaft, geplagt durch eine präzedenzlose innenpolitische Polarisierung in Washington und erzwungen durch schrumpfende finanzielle Mittel, müssen die USA ihr sicherheitspolitisches Engagement in der Welt reduzieren. Die „Obama-Doktrin“, die im Kern gekennzeichnet ist durch eine große Skepsis gegenüber den Möglichkeiten militärischer Interventionen, wäre aus dieser Sicht mehr als nur die Programmatik des aktuell amtierenden US-Präsidenten.

Eine genauere Betrachtung der Rahmenbedingungen amerikanischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik deutet allerdings in die gegenteilige Richtung. Vieles spricht dafür, dass die USA in Zukunft wieder stärker auch militärisch in weltweite Konflikte eingreifen werden, unabhängig davon, wer nach 2016 in das Weiße Haus einzieht. Dies wird auch für Deutschland und die anderen europäischen NATO-Partner Folgen haben.

 

Außen- und sicherheitspolitische Rahmenbedingungen

Ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklungen sind die veränderten äußeren Rahmenbedingungen. Sie sind vom Osten der Ukraine, über den Mittleren Osten bis nach Ostasien durch die gleichzeitige Zunahme und Vertiefung sicherheitspolitischer Krisen gekennzeichnet, die häufig eine Kombination innerstaatlicher und internationaler Konflikte darstellen. Dabei lässt sich trefflich über Ausgangspunkt und Ursachen dieser Krisen streiten. Klar ist jedoch, dass sie die USA als globale Ordnungsmacht herausfordern.

Eine Mehrheit der Amerikaner meint, dass Präsident Obama in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht „hart genug“ agiert.

Dies schlägt sich bereits heute in der amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nieder. Noch zu Beginn seiner Präsidentschaft brandmarkte Barack Obama die Militarisierung der Afrikapolitik seines Amtsvorgängers George W. Bush. Die gegenwärtige Administration sah sich dann allerdings selbst nicht in der Lage, diesen Kurs zu verlassen. 2014 war das US-Militär in mindestens 20 afrikanischen Ländern militärisch präsent, wenn auch zumeist im Rahmen eines wenig transparenten „leichten Fußabdrucks“.

Die USA halten zwar weiterhin an ihrem Ziel fest, bis Ende 2016 den Einsatz amerikanischer Truppen in Afghanistan weitgehend zu beenden und auf eine minimale Präsenz von nur noch 1000 Soldaten zu reduzieren. Die prekäre Sicherheitslage zwang die Obama-Administration jedoch bereits dazu, ihre Pläne am Hindukusch zu modifizieren. So soll die Zahl der US-Truppen bis Jahresende nicht von knapp über 10 000 auf 5000 halbiert werden, sondern zunächst auf dem aktuellen Niveau verharren.

In Irak und Syrien zeichnet sich gleichfalls ein zunehmendes Niveau militärischen Eingreifens ab. Nachdem die USA Ende 2011 alle ihrer Kampftruppen aus dem Irak abgezogen haben, veranlasst sie der Vormarsch des „Islamischen Staates“ wieder zu einer partiellen Rückkehr in das Land (mit etwa 3500 Spezialkräften bzw. Militärberatern, deren Entsendung für 2015 geplant ist). Angesichts des russischen Vorgehens im Osten Europas, des sich verschärfenden Hegemonialkonflikts zwischen dem Iran und seinen arabischen Nachbarn und der Machtdemonstrationen Chinas im Südchinesischen Meer haben die USA ihr verteidigungspolitisches Engagement in diesen Weltregionen bekräftigt und teilweise – siehe insbesondere Europa – wieder ausgebaut.

 

Größere innenpolitische Spielräume als weithin gedacht

Gleichzeitig sind die innenpolitischen Rahmenbedingungen der US-Sicherheits- und Verteidigungspolitik keineswegs so restriktiv wie dies sowohl die Befürworter als auch die Gegner eines Rückzugs der USA aus ihrer weltpolitischen Rolle (retrenchment) oft darstellen. Die „Kriegsmüdigkeit“ der amerikanischen Bevölkerung wird in der Regel an Meinungsumfragen abgelesen, deren Ergebnisse jedoch oft ambivalent sind. So zeigen beispielsweise jüngere Umfragen des Pew Research Center zwar, dass eine große Mehrheit der Amerikaner fordert, die USA mögen sich in erster Linie auf die nationalen Probleme konzentrieren. Gleichzeitig meint eine Mehrheit der Befragten aber auch, dass Präsident Obama in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht „hart genug“ agiere. Unabhängig von der Aussagekraft demoskopischer Daten können einzelne Ereignisse, wie die öffentliche Enthauptung des US-Journalisten James Foley im August 2014, in relativ kurzer Zeit Umschwünge in der öffentlichen Debatte auslösen. Schließlich haben amerikanische Präsidenten stets die Möglichkeit, aktiv öffentliche Unterstützung für ihre jeweiligen sicherheitspolitischen Entscheidungen einzuwerben. Dieser rally 'round the flag-Effekt ließ sich im Zusammenhang zahlreicher Militärinterventionen der USA seit dem Ende des Kalten Krieges beobachten.

Ein zweiter innenpolitischer Faktor ist die Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern. Sie ist ein längerfristiges Phänomen, das sich allerdings in den letzten vier, fünf Jahren erheblich verstärkt und zu Regierungsblockaden geführt hat. Die inhaltliche Entfremdung zwischen beiden Parteien im amerikanischen Kongress sowie zwischen dem Präsidenten und der Legislative spiegelt sich vor allem in innen- und gesellschaftspolitischen Themenfeldern wider. Die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist davon wesentlich weniger direkt betroffen.

Die Haushaltskürzungen im Verteidigungsetat werden innerhalb und außerhalb der USA meist als ein dritter innenpolitischer Faktor gesehen, der das Handeln der USA in der Welt stark einschränkt und weiter einschränken wird. Tatsächlich wirken die Einschnitte der letzten vier Jahre gemessen an den Höhenflügen der Militärausgaben von 2002 bis 2010 sehr groß. Über einen längeren Zeitraum betrachtet bleiben die (absoluten) Ausgaben für die Verteidigung jedoch auf einem historischen Höchststand. 2014 gaben die USA inflationsbereinigt noch immer mehr Geld für ihre nationale Verteidigung aus als in fast jedem anderen Jahr zwischen 1948 und 2001. In der Gesamtschau hat der amerikanische Präsident also weiterhin recht weitreichende innenpolitische und finanzielle Handlungsspielräume, um auf sicherheitspolitische Herausforderungen zu reagieren.

 

Präsidentschaftswahlen 2016: Das Spektrum wird interventionistischer

Auch die ersten Ausläufer des Präsidentschaftswahlkampfes 2016 deuten auf eine neuerliche Hinwendung zu einem robusteren Interventionismus der USA hin. Bereits jetzt nehmen Fragen der „nationalen Sicherheit“ ungewöhnlich viel Raum in den Debatten ein. Die Positionen der erklärten und noch-nicht-erklärten Präsidentschaftskandidaten zu Fragen wie Afghanistan, Kampf gegen den „Islamischen Staat“, Jemen, Haltung gegenüber China und Russland und Höhe des Verteidigungshaushalts variieren. Fast alle republikanischen Anwärter haben jedoch in den letzten Monaten einen „Rechtsruck“ vollzogen und profilieren sich als verteidigungspolitische Hardliner. Auch die bislang bei weitem aussichtsreichste demokratische Kandidatin, Hillary Clinton, gilt als „Falke“.

Die Obama-Doktrin wird die nächsten Präsidentschaftswahlen wohl nicht überleben.

Am Ende werden sich die Positionen sicher noch verschieben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Republikaner in der frühen Phase des Vorwahlkampfes stärker nach rechts tendieren – zumal wenn das Feld der Kandidaten so überfüllt ist wie jetzt –, während sich demokratische Anwärter insbesondere in wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen nach Links orientieren. Innenpolitische Unterstützung für eine großangelegte militärische Aufstandsbekämpfung wie in Irak bis 2011 und Afghanistan bis 2014 wird es absehbar nicht mehr geben. Das spiegelt sich auch darin wider, wie sehr der Umgang mit der Irak-Intervention George W. Bushs die Debatte in Amerika noch immer belastet. Dessen ungeachtet zeichnet sich aber ab, dass das innenpolitische Spektrum in den USA in Zukunft wieder stärker interventionistisch geprägt sein wird. Die Obama-Doktrin wird die nächsten Präsidentschaftswahlen wohl nicht überleben.

Diese Entwicklung hat auch Folgen für Deutschland und die anderen europäischen NATO-Partner. Die vergangenen zwei Dekaden haben gezeigt, dass sicherheits- und verteidigungspolitische Entscheidungen in Washington oft weitreichende Auswirkungen darauf haben, wann, wie und wo die Bundeswehr zum Einsatz kommt. In Berlin ist zuletzt häufiger die Erwartung zu hören, Deutschland engagiere sich besonders stark für die verteidigungspolitische Rückversicherung osteuropäischer NATO-Partner gegenüber russischem Gebaren und könne deshalb in Zukunft mehr Zurückhaltung bei internationalem Krisenmanagement „out-of-area“ walten lassen. Diese Erwartung könnte sich bald als illusorisch erweisen.