Seit der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine hat Präsident Putin mehrmals mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gedroht. Er werde russisches Territorium, einschließlich der am 5. Oktober völkerrechtswidrig einverleibten ukrainischen Gebiete, „mit allen Mitteln“ verteidigen. Das sei „kein Bluff“ fügte er hinzu. Ich rate dazu, diese Drohungen sehr ernst zu nehmen und sich nicht auf die Beschwichtigungen angeblicher Expertinnen und Experten zu verlassen, die die Verhaltensweisen Putins in bester „Putin-Versteher“-Manier glauben vorhersagen zu können.

Jede atomare Abschreckungspolitik enthält die Option, Atomwaffen einzusetzen. Niemand will sich das vorstellen – und dennoch kalkulieren die militärischen Doktrinen mit dem Einsatz dieser Waffen. Mithilfe immer kleinerer, zielgenauerer und sofort einsetzbarer Nuklearwaffen planen Militär-Strategen der Atommächte die Kriege der Zukunft. Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg sind wir mit einer neuen nuklearen Ordnung konfrontiert, die noch unübersichtlicher und vor allem noch gefährlicher ist, als das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens“ des Kalten Krieges.

Atomwaffen werden immer mehr als Mittel der Kriegsführung gesehen. Darüber hinaus sind Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung bereits seit längerem in einer tiefen, existenziellen Krise. Fakt ist: Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist seit dem 24. Februar 2022 in weite Ferne gerückt. New START (Strategic Arms Reduction Treaty) ist derzeit das letzte noch verbliebene große nukleare Abrüstungsabkommen zwischen Washington und Moskau und läuft 2026 aus. Eine Verlängerung ist mehr als fraglich.  

Zur Wahrheit gehört aber, dass auch der Westen bei der Erosion der globalen Rüstungskontrolle eine unrühmliche Rolle spielte. Schließlich war es der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der die USA aus dem iranischen Atomabkommen führte und seinen späteren Brieffreund Kim Jong-un früh daran erinnerte, dass Washington über den größeren Atomknopf verfüge. Derartige Episoden erklären einen Teil der Häme, die uns heute aus dem globalen Süden entgegenschlägt, wenn es um die Verurteilung der beispiellosen russischen Aggression geht. Nicht alle Staaten haben Russland in den vergangenen Monaten gebrandmarkt. Das mag mit unmittelbaren Abhängigkeiten, persönlichen Präferenzen oder schlichtweg mit Machtpolitik zu tun haben. Immerhin hat der indische Premier Modi die jüngsten Vergeltungsangriffe Russlands auf Kiew und andere ukrainische Städte verurteilt und ist erstmalig auf Distanz zu Moskau gegangen.  

Atomwaffen werden immer mehr als Mittel der Kriegsführung gesehen.

Nicht nur in Europa sind Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Vertrauensbildung in einer tiefen Krise. In dem im Juni 2022 veröffentlichten SIPRI-Jahresbericht rechnet das Friedensforschungsinstitut damit, dass erstmals seit Ende des Kalten Krieges der globale Bestand nuklearer Waffen im Laufe der nächsten Jahre wieder wachsen wird. Alle neun Atomwaffenstaaten – die Vereinigten Staaten, Russland, das Vereinigte Königreich, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea – vergrößern und modernisieren derzeit ihre nuklearen Arsenale oder haben entsprechende Pläne angekündigt. Angesichts dieser Entwicklungen drohen ein neues weltweites nukleares Wettrüsten und ein völliger Zusammenbruch der internationalen Rüstungskontrollarchitektur mit unabsehbaren Folgen für die globale Sicherheit. Hinzu kommen die technologische Modernisierung hochkomplexer Waffensysteme und eine Vermischung von nuklearen und konventionellen Abschreckungssystemen.

Dabei zeigen der russische Angriffskrieg und Putins nukleare Drohungen, wie wichtig Rüstungskontrollverträge und die darin enthaltenen Kontroll- und Überprüfungsmechanismen für die Risikominderung bleiben. Dabei müssen wir allerdings realistisch bleiben: Es geht nicht darum, jetzt in Verhandlungen mit Russland über mögliche Rüstungskontrollverträge zu treten. Es gibt derzeit kein Vertrauen zu Putin und der russischen Führung. Vor allem muss es jetzt darum gehen, auch in Zeiten des Krieges ein Minimum an strategischer Stabilität mit Moskau zu erhalten.

Gleichzeitig müssen wir wie bisher die Ukraine wirtschaftlich, finanziell, humanitär und mit Waffenlieferungen tatkräftig unterstützen. Dabei geht es nicht nur um die Zukunft und Souveränität der Ukraine, sondern auch darum, ob wir künftig in einer Welt leben wollen, in der das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts gilt. In anderen Worten: Es geht um nichts weniger als um die Zukunft jener internationalen, regelbasierten multilateralen Ordnung, für die auch die Sozialdemokratie stets kämpfte.

Dennoch ist für mich auch klar, dass ein Ende des Krieges nicht durch einen militärischen „Sieg“ zu erreichen sein wird. Die jüngste Teilmobilisierung der russischen Streitkräfte und die massiven Raketenangriffe auf Kiew und weitere ukrainische Städte am 10. Oktober zeigen nicht nur, dass die Führung in Moskau stark unter Druck steht, sondern auch, dass Putin gewillt ist, den Krieg in der Ukraine weiter zu eskalieren.

Diplomatie darf sich nicht in einem ideologischen Rigorismus oder in moralischen Belehrungen erschöpfen.

Auch der amerikanische Präsident reagierte auf die nuklearen Drohungen Putins mit unverhohlener Sorge. Er kenne Putin „ziemlich gut“ und wisse, dass dieser nicht „scherze“. Wir wären gut beraten uns an den Kenntnissen eines erfahrenen Diplomaten, der heute glücklicherweise US-Präsident ist, zu orientieren. Joe Biden kann sich gut daran erinnern, dass schon während der Annexion der Krim der russische Präsident mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohte. Der amerikanische Präsident weiß um die Doppeldeutigkeit des nuklearen Tabus. Was zählt, ist, was wir in den kommenden Wochen und Monaten tun oder unterlassen.

Präsident Biden hat sich offensichtlich entschieden. Während er vor dem Armageddon warnte, deutete er gleichzeitig neue, diplomatische Initiativen gegenüber Wladimir Putin an. Man „versuche herauszufinden, was sein Ausweg ist“, sagte der US-Präsident mit Bezug auf sein Gegenüber in Moskau. Seit längerer Zeit scheint die US-Regierung dementsprechend nun wieder bereit zu sein, eigene Verhandlungsoptionen zur Beendigung des Krieges auszuloten. Darin sollten wir die Verantwortlichen in Washington nicht nur bestärken, sondern auch aktiv unterstützen. Eine entsprechende Initiative auf dem G20-Gipfel Mitte November auf Bali wird derzeit diskutiert. Die Zeit drängt: Denn ein militärisch und zeitlich unbegrenzter Krieg verschlimmert die humanitäre, soziale und wirtschaftliche Lage in der Ukraine und weltweit im Besonderen und die Stabilität der internationalen Ordnung im Allgemeinen.

Die durch den russischen Angriffskrieg hervorgerufenen, nochmals potenzierten Probleme im Bereich der Ernährungssicherheit, des Umweltschutzes, der Energiepolitik und vielem mehr werden heutige und noch zahllose Generationen nach uns spüren. Eine kluge Außenpolitik sollte dem so gut wie möglich heute vorbeugen und sich nicht an die Bedingungen anderer fesseln. Diplomatie darf sich nicht in einem ideologischen Rigorismus oder in moralischen Belehrungen erschöpfen. Wir müssen erkennen, dass Männer wie Wladimir Putin, Xi Jinping, Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan, Mohammed bin Salman, Baschar al-Assad und die vielen anderen die Geschicke ihrer Länder, ihrer Nachbarschaft und der Welt länger beeinflussen werden, als uns lieb ist.

Es ist die Aufgabe auch deutscher und europäischer Diplomatie, alles dafür zu tun, damit das Denken in Macht- und Einflusszonen nicht unumkehrbar wird. Eine weitsichtige und umfassende Außenpolitik bleibt auch heute unerlässlich. Daran anlässlich des dreißigsten Todestags des ehemaligen deutschen Außenministers und späteren Bundeskanzlers Willy Brandt zu erinnern, sollte nicht fruchtlos bleiben.