Die neue Bundesregierung ist erst seit drei Monaten im Amt, doch kann man die letzten Tage und Entscheidungen bereits jetzt als historisch bezeichnen. Die Kehrtwende in der Sicherheitspolitik angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine bricht mit vielen Vorstellungen der Welt, wie sie hierzulande seit der Wiedervereinigung hochgehalten wurden. Statt eines Aufholens mit dem 21. Jahrhundert ist die Gefahr jedoch groß, dass hieraus eine Rückkehr zu vermeintlich „alten Gewissheiten“ wird, die mit der komplexen Wirklichkeit nichts zu tun haben.

Die nackte Brutalität schockiert, mit der Russlands Autokrat in der direkten Nachbarschaft vorgeht. Deutschland, die EU und die internationale Gemeinschaft müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um zur Beendigung des verbrecherischen Kriegs gegen die Ukraine beizutragen und eine weitere Eskalation zu verhindern.

Wenn aber mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar eine Zeitenwende deutscher Außenpolitik eingeleitet wurde, so bleibt die Frage, ob die angekündigten Schritte den aktuellen Herausforderungen gerecht werden. Konflikttreiber sind, global gesehen, weniger einzelne Aggressoren als ungerechte Strukturen, seien es anhaltende wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten oder die Klimakrise.

Konflikttreiber sind, global gesehen, weniger einzelne Aggressoren als ungerechte Strukturen, seien es anhaltende wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten oder die Klimakrise.

Eben in diesem Wissen hat die Ampelkoalition eine andere, eine feministische Außenpolitik im Koalitionsvertrag festgehalten. Die einen mögen sich fragen, was das überhaupt ist. Andere werden denken, dass das womöglich das Letzte ist, was ein Land im Kriegszustand benötigt. Doch ist feministische Außenpolitik kein utopisches, realitätsfernes Konzept. Im Gegenteil. Während die sogenannte „Realpolitik“ die Wirklichkeit verkürzt, weil sie Sicherheit zuallererst im Rahmen militärischer Machtstrukturen denkt und somit andere Konflikttreiber übersieht, müssen wir die Vielschichtigkeit und Komplexität unserer Realität anerkennen. Je diverser und inklusiver Entscheidungen getroffen werden, desto nachhaltiger und besser sind sie, schlicht, weil weniger blinde Flecken auftreten. Darin liegt das transformative Potential des feministischen Ansatzes.

Bei feministischer Außenpolitik geht es im Kern um gleichberechtigte Teilhabe. Damit ist jedoch nicht nur die politische Teilhabe von Frauen gemeint. Eine dauerregierende Bundeskanzlerin macht noch keinen feministischen Frühling. Auch drei aufeinanderfolgende Verteidigungsministerinnen transformieren die Bundeswehr nicht notwendigerweise nachhaltig. Der Fokus liegt vielmehr darauf anzuerkennen, dass nicht alle Menschen weltweit den gleichen Zugang zu Macht, Möglichkeiten und Ressourcen haben – mit dem ganz konkreten Ziel, dies zu ändern.

Auch wenn das Konzept das Feministische aufgrund der systematischen Diskriminierung von Frauen betont, sind hierbei menschliche Sicherheit und die Bedürfnisse aller Menschen, insbesondere marginalisierter Gruppen, Ausgangspunkt politischen Handelns. Themen wie Stabilität, Sicherheit oder wirtschaftliche Entwicklung werden nicht als weniger wichtig betrachtet, sondern sie werden anders gedacht – nämlich ausgehend von den einzelnen Menschen. Eine feministische Außenpolitik gegenüber Russland hätte folglich in den letzten Jahren andere Schwerpunkte gesetzt, zum Beispiel mit der Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Stimmen in die Politikformulierung. Auch hätte sie die abnehmende Geschlechtergerechtigkeit in Russland – nachweislich einer der besten Indikatoren für die Friedfertigkeit eines Landes – in der politischen Szenarienplanung berücksichtigt. Und schließlich hätte sie eine frühere substanzielle Energiewende zur Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern forciert.

Je diverser und inklusiver Entscheidungen getroffen werden, desto nachhaltiger und besser sind sie, schlicht, weil weniger blinde Flecken auftreten. Darin liegt das transformative Potential des feministischen Ansatzes.

Mit dem Anspruch, eine feministische Außenpolitik zu verfolgen, steht Berlin innerhalb der EU keineswegs allein da. Die schwedische Regierung ist seit 2014 Vorreiterin. Frankreich spricht von feministischer Diplomatie. Andere Länder wie Dänemark und Spanien verfolgen „geschlechtergerechte“ Ansätze in der Außenpolitik. Auch das Europäische Parlament verabschiedete Ende 2020 eine entsprechende Initiative.

Angesichts der aktuellen russischen Aggression ist die Frage verständlich, welche Antworten die feministische Außenpolitik solchem Verhalten entgegenzusetzen hat. Aber diese Frage greift zu kurz. Feministische Außenpolitik ist etwa mit einem gesunden Lebenswandel als Basis für ein langes Leben vergleichbar. Beide können nur dann nachhaltige Wirksamkeit entfalten, wenn man sich langfristig darauf festlegt. In Notfällen muss das Prinzip durch akute Maßnahmen ergänzt werden. Mit Blick auf die Gesundheit ist dies eine medizinische (Not-)Versorgung. In der Außenpolitik müssen das Feministische als Regel und das Militärische als Ausnahme ineinandergreifen. Die Ukraine muss sich verteidigen. Deshalb steht es Staaten wie Deutschland an, dafür zu sorgen, dass sie es auch kann.

Bei allen Maßnahmen, die ergriffen werden, müssen die Folgen für die Menschen mitgedacht werden – ob in der Ukraine, in Russland oder anderswo. Das heißt zum Beispiel, Wirtschaftssanktionen möglichst zielgerichtet gegen die herrschende Machtelite einzusetzen, Schritte zur Zurücknahme der Sanktionen bei politischem Einlenken klar zu definieren sowie den Effekt der Sanktionen zu beobachten und zu versuchen, negative Auswirkungen auf die allgemeine Bevölkerung – wo es geht – aufzufangen. Hierzu gehört, Beziehungen mit zivilgesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen in Russland, die nicht dem Kreml zuarbeiten, gerade angesichts der Spannungen aufrechtzuerhalten. Humanitäre Hilfe, Schutz für alle Menschen, die vor Krieg fliehen müssen, und das Einhalten von Asyl- und Menschenrechten an den europäischen Grenzen sollten selbstverständlich sein.

In der Außenpolitik müssen das Feministische als Regel und das Militärische als Ausnahme ineinandergreifen.

Schließlich muss alles, was im Zuge der versuchten Abwendung des Krieges auf dem Tisch lag, weiterhin Gegenstand intensiver diplomatischen Bemühungen um einen Waffenstillstand bleiben. Soll der Krieg nicht mit der Vernichtung einer Seite enden, wird es einen – angesichts der russischen Aggression: schmerzhaften – Kompromiss in Fragen ukrainischer Interessen und europäischer Sicherheit geben müssen. Ob verstärkte konventionelle Rüstungskontrolle, weitere Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung oder vertrauensbildende Maßnahmen: Was nach Entspannungspolitik der 1980er Jahre klingt, ist brandaktuell. Parallel zu den Deeskalationsbemühungen sollte die Dokumentation der Art und des Ausmaßes der Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht Priorität haben und muss mit den nötigen Ressourcen und Kapazitäten unterstützt werden.

Ein sicherheitspolitischer Diskurs, der in militärischer Abschreckung verhaftet bleibt, bietet weder eine umfassende Antwort auf die jetzigen, noch auf zukünftige Herausforderungen. Die Rhetorik eines neuen Kalten Kriegs wird uns einer nachhaltigen europäischen Friedensordnung sicher nicht näherbringen. Die geplanten massiven Investitionen in Verteidigungsstrukturen sowie Entscheidungen wie die Anschaffung bewaffneter Drohnen müssen transparent und kritisch diskutiert werden – auch unter Einbeziehung feministischer Stimmen.

Ein sicherheitspolitischer Diskurs, der in militärischer Abschreckung verhaftet bleibt, bietet weder eine umfassende Antwort auf die jetzigen, noch auf zukünftige Herausforderungen.

Wenn die Waffen endlich wieder schweigen, muss unser Vorgehen klar den Prioritäten feministischer Außenpolitik verpflichtet sein: Ein Schwerpunkt muss auf menschlicher Sicherheit liegen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau samt Rechtstaatsreformen und Korruptionsbekämpfung müssen inklusiv gestaltet werden. Gleiches gilt für Investitionen in Bildung, Umweltschutz und eine aktive Zivilgesellschaft.

Der russische Angriff auf die Ukraine und die damit verbundene Rückkehr eines brutalen Krieges nach Europa machen das Ziel der Bundesregierung, eine feministische Außenpolitik zu betreiben, keineswegs obsolet. Sie verdeutlichen vielmehr, warum es diesen neuen Ansatz braucht, um die Spirale von Machtmissbrauch und Gewaltanwendung langfristig zu beenden. Zum Wohle aller Menschen.