Die Verwendung des Ausdrucks „Blob“ geht zurück auf Ben Rhodes, den außenpolitischen Berater von Präsident Barack Obama – oder dessen „Famulus“, wie Jeffrey Goldberg ihn im Magazin Atlantic nannte. Zum ersten Mal tauchte der Begriff „Blob“ im Mai 2016 in einem Porträt über Rhodes im New York Times Magazine auf. Darin hieß es, er habe den Begriff benutzt, um das außenpolitische Establishment der USA zu charakterisieren. In seinem Buch The World As It Is, in dem er auf seine Zeit im Weißen Haus zurückblickt, erklärte Rhodes, er habe mit „Blob“ – eine gallertartige, schleimige Masse – jenes „Gruppendenken“ gemeint, „das scheinbar stets unweigerlich zu weiteren militärischen Interventionen im Nahen Osten führe, dazu, ‚irgendetwas zu bombardieren‘.“

Rhodes selbst positionierte sich zwar in Opposition zu diesem Blob, war aber tatsächlich mehr Teil davon, als er wahrhaben wollte. Nicht nur warb er 2013 für Luftschläge in Syrien (woraufhin Obamas Stabschef Denis McDonough ihm und Jake Sullivan, dem nationalen Sicherheitsberater des damaligen Vizepräsidenten Joe Biden, die Spitznamen „Cheney und Rumsfeld“ gab). Er stimmte auch in den allgemeinen Konsens in Washington ein, dass die „liberale Hegemonie“ verteidigt werden müsse. Trotzdem blieb der von ihm eingeführte Begriff haften. Inzwischen bezieht er sich allgemein auf ein außenpolitisches Establishment, das bestimmte Sichtweisen und Ideen teilt.

Wenn wir „Blob“ in diesem Sinn als Begriff für gruppenkonformes Denken – das Groupthink – in der Außenpolitik verwenden, können wir ihn auch auf andere Länder übertragen, in denen Außenpolitik in einer ähnlich geschlossenen Welt von Beamten, politischen Beratern, Analysten und Journalisten mit ähnlichen Sichtweisen und Ideen gemacht wird – auch wenn sich diese oft ziemlich von denen des Blob in Washington unterscheiden. Manche Blobs sind „blobbiger“ als andere – und der Berliner Blob, so scheint mir, ist vielleicht der blobbigste von allen.

In Washington wird das Groupthink-Problem immerhin bis zu einem gewissen Grad durch Parteidenken eingedämmt. Wie Jeremy Shapiro schreibt, führt „Washingtons zutiefst von Tribalismus und Parteipolitik geprägte politische Kultur“ dazu, dass die dortigen Denkfabrikler wirklich miteinander streiten und sich gegenseitig durchaus aggressiv herausfordern, wenngleich die politische Polarisierung bedeutet, dass Shapiros Ideal eines „von Wettstreit oder gar Gegnerschaft geprägten, aber dennoch faktenbasierten und abwägenden Prozesses zur Entwicklung politischer Ideen“ nicht ganz erreicht wird. In Deutschland ist die politische Kultur im Gegensatz dazu stärker konsensorientiert und der Groupthink-Gefahr deshalb noch akuter ausgesetzt als in den USA.

Bevor der Krieg in der Ukraine begann, verteidigten viele deutsche Denkfabrikler Angela Merkels Außenpolitik.

Hinzu kommt, dass das Groupthink-Problem in Washington eng mit dem Drehtürsystem zusammenhängt – also mit der Rotation zwischen Thinktanks und Regierung, bei dem Personal von der einen Seite auf die andere wechselt, und umgekehrt. Das nimmt den parteipolitischen Konflikten manche Schärfe, denn Regierungsbeamte bedürfen der Bestätigung durch den Kongress und können es sich deshalb nicht leisten, Dinge zu sagen oder zu schreiben, die die andere Partei verärgern würden, geschweige denn ihre eigene. In Deutschland gibt es dieses Drehtürsystem nicht und Denkfabrikler wechseln nur selten in die Regierung. Zugleich werden allerdings einige führende außenpolitische Denkfabriken in Deutschland staatlich finanziert (wie zum Beispiel die im Wesentlichen vom Bundeskanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik), mit ähnlichen Folgen.

Dass außenpolitische Eliten tendenziell ähnlich denken, hat eine Kehrseite: Sie koppeln sich gedanklich in gewisser Weise von dem ab, was die Allgemeinheit über außenpolitische Fragen denkt. Denkfabrikler teilen eine Reihe von Grundannahmen (die auch weitgehend mit dem Blob in anderen Ländern – zumindest im Westen – übereinstimmen). Von den gänzlich anderen Interessen und Präferenzen der Normalbevölkerung im eigenen Land sind sie aber oftmals abgeschnitten. In den USA machte die Wahl Donald Trumps diese Kluft deutlich sichtbar und dadurch die Idee einer „Außenpolitik für die Mittelschicht“ populär – also einer Außenpolitik im Interesse der Normalbürger und nicht nur der Eliten.

Dennoch ist das Problem des abgekoppelten Blob in Deutschland möglicherweise noch extremer ausgeprägt als in den Vereinigten Staaten. Wenn es stimmt, dass es unter den außenpolitischen Denkfabriklern in Berlin einen noch stärkeren Konsens gibt als in Washington, ist womöglich auch die Kluft zwischen ihnen und der Allgemeinheit größer. Deutschlands außenpolitische Eliten, vor allem die, die sich mit Sicherheitspolitik beschäftigen, wollen unbedingt, dass Deutschland sich „strategischer“ verhält, in der europäischen Sicherheitspolitik eine „Führungsrolle übernimmt“, mehr Geld für Verteidigung ausgibt und bereit ist, seine militärischen Fähigkeiten zu nutzen, und ähnliche Dinge. Die deutsche Öffentlichkeit steht all dem jedoch ziemlich skeptisch gegenüber.

Den Vorwurf, sie seien auf diese Weise von der Öffentlichkeit abgekoppelt, weisen die außenpolitischen Eliten in Deutschland zumeist von sich. Sie stellen sich die deutsche Öffentlichkeit gerne militaristischer vor, als sie wirklich ist, und halten sie zugleich für formbar. Denn eines fällt auf: Spricht man sie kritisch auf die Kluft zwischen ihnen und der Allgemeinheit an, erhält man von Vertreterinnen und Vertretern deutscher Außenpolitik-Thinktanks oft die Antwort, sie sähen die Rolle von Experten wie sich selbst darin, die Öffentlichkeit aufzuklären. Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz, die zwangsläufig engeren Kontakt mit der Öffentlichkeit haben, werden von Denkfabriklern häufig dafür kritisiert, dass sie der öffentlichen Meinung folgen, statt zu „führen“.

Ein anschauliches Beispiel sowohl für das gruppenkonforme Denken des Berliner Blob als auch für seine Abkopplung von der Bevölkerung ist seine Reaktion auf Russlands Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022. Bevor der Krieg in der Ukraine begann, verteidigten viele deutsche Denkfabrikler Angela Merkels Außenpolitik – das heißt, sie teilten die gängige Meinung, solange sie gängige Meinung war. Doch nach Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 wurden sie auf einen Schlag allesamt zu Hardlinern – und inzwischen sehen sie ihre Aufgabe scheinbar darin, diejenigen zu attackieren, die außenpolitisch nicht auf dieser Linie sind, vor allem sozialdemokratische Politiker.

Die außenpolitische Fachwelt hat in Deutschland, ebenso wie in den USA, schwerwiegende Fehleinschätzungen getroffen.

Am deutlichsten zeigte sich dies bei der Diskussion über die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern an die Ukraine, die für den Berliner Blob 2022 und 2023 über weite Strecken zur Obsession wurde. Scholz zögerte – nicht zuletzt weil er verstand, dass die Vorstellung, deutsche Panzer könnten in einem Krieg gegen Russland zum Einsatz kommen, nachvollziehbare Ängste bei der Bevölkerung auslösen könnte. Deshalb musste er es so aussehen lassen, als trete auf die Bremse und müsse von Deutschlands Verbündeten mühsam zur Lieferung der Panzer überredet werden – zu der es am Ende dann auch kam. Der Berliner Blob jedoch attackierte ihn unermüdlich, weil er es an deutscher „Führung“ habe fehlen lassen. Gemeint war damit, dass er nicht so gehandelt hatte, wie der Blob es wollte. 

Das Absurde an der Kampagne des Berliner Blob zur „Befreiung der Leoparden“ war nicht nur, dass er sich leichthin auf eine so eng begrenzte Frage wie den Einsatz eines bestimmten Waffensystems fokussierte, als hänge davon der Ausgang des ganzen Krieges ab (und dass er damit zu der Ernüchterung beitrug, die sich einstellte, als die Panzer schließlich zum Einsatz kamen und klar wurde, dass sie nicht die von vielen erhoffte Wende brachten), sondern auch, dass diese Kampagne zur Stimmungsmache geriet und Analysen Mangelware wurden. Eine führende Vertreterin eines deutschen Außenpolitik-Thinktanks regte sogar an, sie und ihre Kolleginnen sollten bei der Münchner Sicherheitskonferenz allesamt Kleidung mit Leopardenmuster tragen. 

Während außenpolitische Denkfabrikler in Deutschland fast täglich ihre Empörung über Russlands Besetzung der Ukraine äußern, haben sie fast nichts dazu zu sagen, dass Israel seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres die Bevölkerung aus Gaza vertreibt und vernichtet. Es ist schwer zu sagen, ob dieses dröhnende Schweigen über Israels Vorgehen auf Überzeugung beruht (dass Deutschlands bedingungslose Unterstützung für Israel richtig ist) oder auf Feigheit (weil sie Angst haben, sich offen zu diesem Thema zu äußern). Im Ergebnis führt dies allerdings dazu, dass Deutschlands außenpolitische Denkfabrikler kaum öffentlich über eine der wichtigsten Fragen der internationalen Politik diskutieren – in der die Allgemeinheit noch dazu erneut ganz anderer Meinung ist als die Eliten.

Was auch immer die Gründe dafür sind – die Fachleute in Deutschlands außenpolitischen Denkfabriken sehen ihre Aufgabe anscheinend nicht darin, offen zu diskutieren oder gar gegenseitig ihre Positionen zu hinterfragen, einander zu widersprechen und aus der Reserve zu locken. Stattdessen scheinen sie ihre Rolle eher darin zu sehen, gemeinschaftlich die aktuell gängige Meinung zu verteidigen, sich gegenseitig zu bestärken und Beistand zu leisten und diejenigen, die nicht ihrer Meinung sind, zu kritisieren oder gar lächerlich zu machen. Das wäre nachvollziehbar, wenn die außenpolitische Fachwelt eine überzeugende Erfolgsbilanz für die letzten Jahrzehnte vorweisen könnte. Sie hat aber in Deutschland, ebenso wie in den USA, schwerwiegende Fehleinschätzungen getroffen, die katastrophale Folgen hatten.

Realistische Theoretiker der Internationalen Beziehungen wie Stephen Walt machen darauf aufmerksam, dass außenpolitische Eliten für ihre Irrtümer selten zur Rechenschaft gezogen werden. Besonders fällt auf, dass Neokonservative – auf die sich Rhodes bezog, als er zum ersten Mal vom Blob sprach – inzwischen als Trump-Gegner rehabilitiert worden sind. Doch in den USA führte der Schock von 2016 auch dazu, dass sich zunehmend zurückhaltende Stimmen in die politische Debatte einbringen, die sich dem Konsens in Sachen liberale Hegemonie entgegenstellen – speziell das 2019 gegründete Quincy Institute. Deutschland hat bisher keinen vergleichbaren Schock erlebt – und deshalb wird der Berliner Blob womöglich noch weniger in die Verantwortung genommen als sein Pendant in Washington.

Die Originalversion dieses Artikels erschien zuerst auf Englisch bei The Ideas Letter.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld