Moskau und Peking üben heute einen massiven Druck auf die liberalen Demokratien aus, sehen sie doch ihren eigenen autoritären Machtanspruch durch diese bedroht. Es ist daher für die betroffenen Staaten höchste Zeit, enger zusammenzustehen und sich besser abzustimmen. Andernfalls werden sie diesem Druck nicht standhalten können. Auf dem anstehenden G7-Gipfeltreffen in Cornwall geht es entsprechend nicht nur um die Klimapolitik oder gemeinsame Steuersätze für große Unternehmen – es geht auch um die Zukunft der (zunehmend) brüchigen liberalen internationalen Ordnung.
Mitverhandelt wird dabei auch die Zukunft der liberalen Demokratie. Denn unter den Rahmenbedingungen der Globalisierung ist der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik nahtlos; eine Auflösung oder Ablösung der liberalen internationalen Ordnung würde auch in den noch verbleibenden liberalen Demokratien zur existenziellen Herausforderung. Das belegen die Entwicklungen der letzten 15 Jahre: Seit Mitte der 2000er Jahre, der Wendezeit der liberalen internationalen Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, verzeichnet Freedom House einen kontinuierlichen Rückgang der „freien“ Staaten (von 89 Ländern 2005 auf 82 Länder 2020) und einen noch deutlicheren Anstieg bei den „unfreien“ Staaten (von 45 auf 54).
Ähnlich kommt der Bertelsmann-Transformationsindex, der 137 Staaten untersucht, in seinem jüngsten Bericht zu dem Ergebnis, dass in der Gesamtschau die Qualität der demokratischen Ordnung, der Marktwirtschaft und des Regierens auf das niedrigste Niveau seit 14 Jahren gesunken sei. Die liberale Demokratie und die liberale internationale Ordnung stecken also beide seit Mitte der 2000er Jahre in einer sich vertiefenden Krise – und dieser Zusammenhang ist nicht zufällig.
Mit dem Gipfeltreffen in Cornwall zeichnet sich nun eine mögliche neue Erweiterung ab: die Öffnung für die liberalen Demokratien Australasiens.
Die Ursprünge der G7 verweisen auf die ersten Krisensymptome der liberalen internationalen Ordnung in den 1970er Jahren; damals war sie noch eine genuin „westliche“ Ordnung. Zu jener Zeit dominierte der Systemkonflikt zwischen Ost und West die internationale Politik. Die Herausforderungen waren damals Verwerfungen in der Weltwirtschaft (wie der Zerfall der Währungsordnung von Bretton Woods, Ölkrisen) sowie die Hochrüstung und die expansive Politik der Sowjetunion in der Dritten Welt.
Der „Westen“, traditionell geführt von den USA mit den europäischen Mächten Großbritannien und Frankreich als Juniorpartnern, reagierte darauf, indem er die beiden erfolgreichsten Aufsteiger der Nachkriegsära (und ehemaligen Kriegsgegner) – Japan und (West-)Deutschland kooptierte und somit den „Westen“ neu konfigurierte. Später schafften es dann auch noch Kanada und Italien, zu diesem Führungsteam hinzuzustoßen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges öffnete sich die G7 zeitweilig auch für Russland und wurde so zur G8. Als Reaktion auf die Besetzung und Annexion der Krim 2014 wurde Russlands Mitwirken suspendiert. Damit waren die liberalen Demokratien in der G7 nur wieder unter sich. Mit dem Gipfeltreffen in Cornwall, zu dem die britischen Gastgeber auch die Regierungschefs Australiens, Indiens, Südkoreas und Südafrikas als Gäste eingeladen haben, zeichnet sich nun eine mögliche neue Erweiterung ab: die Öffnung für die liberalen Demokratien Australasiens, zu denen neben den in Cornwall repräsentierten Gastländern auch Indonesien, Neuseeland und Taiwan gehören.
Die liberalen Demokratien in Europa wie in Ostasien-Pazifik stehen unter massivem Druck aus Moskau und Peking, die florierende liberale Demokratien als Bedrohung ihres eigenen autoritären bzw. neototalitären Machtanspruchs auffassen.
Wie damals in den 1970er Jahren wäre auch diese Neuausrichtung des „Westens“, um eine globale Gemeinschaft der liberalen Demokratien zu schaffen, richtig und angemessen. Denn die liberalen Demokratien in Europa wie in Ostasien-Pazifik stehen unter massivem Druck aus Moskau und Peking, die florierende liberale Demokratien als Bedrohung ihres eigenen autoritären bzw. neototalitären Machtanspruchs auffassen. In Europa steht die noch ungefestigte, defektbehaftete Demokratie Ukraine in der vordersten Front russischer Destabilisierungsbemühungen, daneben aber auch Deutschland.
In Ostasien bemüht sich China um eine „Wiedervereinigung“ mit der erfolgreichen, blühenden Demokratie in Taiwan. Was dies für die liberale Demokratie in Taiwan bedeuten würde, demonstriert die Volksrepublik gerade in Hongkong mit ihrer systematischen Zerstörung der Demokratiebewegung und der bürgerlichen Freiheiten der Bevölkerung. Aber auch Australien wird von der Volksrepublik wirtschaftlich und politisch massiv unter Druck gesetzt, um sich das Land außenpolitisch gefügig zu machen.
Es wäre also für die liberalen Demokratien höchste Zeit, sich besser zu koordinieren – mit dem Ziel, die liberale demokratische Ordnung im Inneren wie international zu schützen und zu verteidigen. Dabei ist offenkundig, dass diese Ordnung nicht einfach fortgeschrieben werden kann – sie muss sich von innen erneuern und sich zugleich international neuen Partnern öffnen. Es gilt erstens, die klassischen Elemente des politischen Liberalismus wie repräsentative Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte neu zu beleben und die Kluft zu verringern, die zwischen den hehren Idealen und der alltäglichen Praxis der liberalen Demokratien klafft.
Als Gemeinschaft liberaler Demokratien wirkt dieses Treffen von zehn Staats- und Regierungschefs allerdings nicht unbedingt überzeugend.
Es gilt zweitens, den liberaldemokratischen Kanon um die Prinzipien der ökologischen Nachhaltigkeit und der sozialen Ausgewogenheit zu erweitern. Drittens sollten schließlich neue staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure sowie internationale Organisationen, die sich den liberaldemokratischen Prinzipien verpflichtet fühlen, für eine verstärkte Zusammenarbeit gewonnen und mit Sitz und Stimme einbezogen werden.
Der Gastgeber des G7-Gipfeltreffens in Cornwall, der britische Premierminister Boris Johnson, spricht bereits von den D10 – den zehn Demokratien. Als Gemeinschaft liberaler Demokratien wirkt dieses Treffen von zehn Staats- und Regierungschefs allerdings nicht unbedingt überzeugend. Gewiss, die USA werden nicht mehr von Donald Trump repräsentiert, sondern von dem aufrechten Liberaldemokraten Joe Biden.
Aber die existenzielle Krise der amerikanischen Demokratie ist noch keineswegs überwunden. Die Republikaner arbeiten bereits mit allen Mitteln daran, die Kräfteverhältnisse im US-Kongress schon 2022 umzukehren; bis dahin betreiben sie Blockadepolitik. In Frankreich könnte nächstes Jahr Marine Le Pen statt Emmanuel Macron als Staatspräsidentin in den Élyséepalast einziehen.
Es gäbe gute Gründe für eine gemeinsame Bestandsaufnahme zu Stand und Perspektiven der liberaldemokratischen Ordnungen mit dem Ziel, diese Demokratien wehrhafter zu machen.
Zu Boris Johnsons populistisch-hemdsärmeligem Agieren als britischer Regierungschef gehörten im Zusammenhang mit dem Brexit auch Rechtsbrüche gegenüber dem Unterhaus und den Vertragspartnern der Europäischen Union sowie ein katastrophales Versagen im Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Darin trifft er sich mit Indiens Ministerpräsidenten Narendra Modi: Auch der hat im Umgang mit der Pandemie versagt, hat zahllose Menschenleben geopfert, um seine politische Agenda voranzutreiben, die er mit zunehmend autoritären Methoden verfolgt.
In Italien könnten die rechtspopulistische Lega und die neofaschistischen Fratelli d’ Italia bei den nächsten Wahlen an die Macht kommen. Kurzum: In Cornwall sind auch die massiven Defizite der liberalen Demokratien und ihre Glaubwürdigkeitsprobleme prominent vertreten, das Engagement der dort tagenden Staats- und Regierungschefs für die liberaldemokratischen Ideale erscheint zumindest im Falle Indiens problematisch. Zudem ringen G7-Gipfeltreffen stets mit einer überbordenden Agenda von Sachfragen – für eine kritische Selbstbesinnung der liberalen Demokratien dürfte deshalb in Cornwall keine Zeit bleiben.
Vielversprechender wäre hierfür der „Demokratie-Gipfel“, den US-Präsident Biden noch in diesem Jahr einberufen wollte. Auf der virtuellen Münchner Sicherheitskonferenz im Februar ließ er anklingen, dass dort auch Raum für die Reflexion der amerikanischen Erfahrungen der letzten Jahre sein könnte. Seither ist es um diese Idee still geworden – leider: Es gäbe gute Gründe für eine gemeinsame Bestandsaufnahme zu Stand und Perspektiven der liberaldemokratischen Ordnungen mit dem Ziel, diese Demokratien wehrhafter zu machen. Dabei sollten auch weitere liberale Demokratien in Ostasien – wie Taiwan, Neuseeland oder Indonesien – sowie in anderen Teilen des Südens einbezogen werden.
Die gewaltigen Anforderungen an das Weltregieren in den kommenden Jahrzehnten lassen sich ohnehin nur mit einer Vielzahl unterschiedlicher Kooperationsformate bewältigen.
Die G7 würde dadurch keineswegs überflüssig, sie wird für andere Aufgaben gebraucht, wie etwa eine effektivere Koordination der Klima- oder Steuerpolitik der Mitgliedsländer. Die gewaltigen Anforderungen an das Weltregieren in den kommenden Jahrzehnten lassen sich ohnehin nur mit einer Vielzahl unterschiedlicher Kooperationsformate bewältigen.
Dennoch könnte – mit einigem guten Willen und etwas politischem Geschick der Beteiligten – auch der Gipfel von Cornwall etwas zum Schutz der liberalen internationalen Ordnung beitragen. Er könnte, erstens, den Versuchen der autoritären Großmächte Russland und China, die internationale Ordnung in ihrem Sinne umzudeuten, ein klares Bekenntnis zu ihren gegenwärtigen Grundprinzipien entgegenstellen.
Die G7 könnte sich, zweitens, entschlossener gemeinsam gegen die Bestrebungen dieser beiden zur Wehr setzen, internationale Organisationen in ihrem Sinne umzubauen und zu instrumentalisieren. Drittens sollte die G7 sich schließlich im Umgang mit Moskau und China um mehr Konfliktfähigkeit bemühen – eine unerlässliche Voraussetzung für eine gedeihliche Zusammenarbeit mit Peking und Moskau, wo die realistische Sprache der Macht gesprochen wird und man durchaus bereit ist, sich mit Gewalt durchzusetzen.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Verwahrlosung der liberaldemokratischen Ordnungen autoritären und antidemokratischen Kräften Auftrieb verliehen. China und Russland haben sich diese Krisenerscheinungen zunutze gemacht und Öl ins Feuer gegossen. Es brennt inzwischen, lichterloh, im eigenen Haus und in der ganzen Nachbarschaft, wie das zuletzt am dreisten Akt der Luftpiraterie des weißrussischen Machthabers Lukaschenko abzulesen war: höchste Zeit für die liberalen Demokratien, sich zum Löschen der Brände zusammenzutun. Im nächsten Jahr übernimmt übrigens Deutschland den G7-Vorsitz.