Meist sind es die gravierendsten Ereignisse, die den Lauf der Geschichte ändern und zu großen politischen Umbrüchen führen. Der Krieg, den Wladimir Putin gerade in der Ukraine entzündet hat, gehört zu diesen bedeutenden strategischen Zäsuren. In der Woche nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine konnten wir sehen, wie die Europäische Union ihre politische Präsenz auf der internationalen Bühne behauptet, indem sie ihre – auch militärische – Solidarität mit der Ukraine bekundete. Ferner konnten wir beobachten, wie Deutschland ankündigte, als Preis für seine internationale politische Glaubwürdigkeit seine militärische Schlagkraft auszuweiten.
Bei der Wiederwahl Angela Merkels 2013 wurden bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen. Damals räumte die deutsche Führung ein – beispielsweise in ihren Reden auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 –, dass Deutschland eine globale Rolle spielen sollte, die seiner Wirtschaftskraft und seinen Interessen in der Welt entspreche. In Wirklichkeit bezog sich der Kurswechsel jedoch nur auf die deutsche Außenpolitik und nicht auf die Verteidigungspolitik.
Wir müssen uns bewusst sein, dass militärische Stärke nicht dazu dient, Angriffskriege zu entfesseln. Wir brauchen sie, um den europäischen Kontinent zu verteidigen.
Die Frage, ob der Verteidigungshaushalt auf 2 Prozent des BIP angehoben werden sollte, wie es die NATO-Staaten auf dem Gipfeltreffen in Wales 2014 beschlossen hatten, wurde in den letzten beiden Bundestagswahlkämpfen gemieden. Man wollte das Thema Aufrüstung ganz bewusst nicht ins Zentrum der Debatte rücken. Diese Zurückhaltung gehört nun allerdings der Vergangenheit an. Beim neuen deutschen Kurs handelt sich um einen entscheidenden game changer, der in Frankreich aufmerksam beobachtet wird.
Mit Blick auf die Reaktion Frankreichs auf den deutschen Kurswechsel sind drei Perspektiven hervorzuheben. Die erste ist eher allgemeiner Natur und bezieht sich nicht nur auf die Krise in der Ukraine und die Wende in der deutschen Verteidigungspolitik. Sie betrifft unsere Fähigkeit, Ereignisse zu antizipieren und eine öffentliche Antwort darauf zu entwickeln, die es uns ermöglicht, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
2020 traf uns die COVID-19-Krise, 2022 folgt nun der Krieg in der Ukraine. Und jedes Mal haben sich Schwachstellen aufgetan, auf die wir nicht vorbereitet waren. Seien wir ehrlich: Nur wenige Franzosen hätten auf eine russische Invasion der Ukraine gewettet. Ich selbst hielt dieses Szenario für unwahrscheinlich, da die Logik eines solchen Angriffs durch Wladimir Putin nicht wirklich ersichtlich ist.
Der Krieg in der Ukraine hat uns gezeigt, dass die Zeit zusehends knapp wird. Wir dürfen die Umsetzung der Rüstungsprogramme, die wir gemeinsam entwickeln, nicht weiter hinauszögern.
Die französischen Militärs hatten jedoch bereits 2017 vor erneuten machtpolitischen Handlungen bestimmter Staaten, insbesondere Russlands, gewarnt. Der derzeitige Generalstabschef der französischen Streitkräfte, General Thierry Burkhard, hatte schon vor seiner Ernennung angekündigt, dass sich die französischen Streitkräfte auf die Gefahr von Konflikten mit hoher Intensität einstellen müssen. Im Nachhinein müssen wir feststellen, dass er Recht hatte. Der französische Verteidigungshaushalt wurde in der Tat seit 2017 auf Betreiben von Präsident Macron, der in Frankreich auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, stetig erhöht.
Wir alle in Europa – und insbesondere in Deutschland – müssen uns daher bewusst sein, dass militärische Stärke nicht dazu dient, Angriffskriege zu entfesseln. Wir brauchen sie, um den europäischen Kontinent zu verteidigen, der über 75 Jahre ein Ort des Friedens und des Wohlstands gewesen ist. Wir können diese Aufgabe nicht allein den Amerikanern überlassen: Wir müssen auf dem Boden unseres Kontinents glaubhaft sein – aber auch im Rahmen von Auslandseinsätzen, wenn erforderlich.
Die Franzosen sind daher froh darüber, dass Deutschland sich dieser Notwendigkeit bewusst geworden ist. Auch die schnelle Entscheidung, den deutschen Verteidigungshaushalt nach der russischen Aggression zu erhöhen, begrüßen wir. Moniert wird von manchen natürlich, dass Deutschland nicht schon früher auf französische Politiker gehört hat, wenn diese darauf hinwiesen, dass Frankreich die Last der europäischen Verteidigungspolitik nicht allein tragen könne.
Die von Deutschland angekündigten zusätzlichen Mittel dürfen nicht zum Anlass genommen werden, das politische und industrielle Gleichgewicht in Frage zu stellen, das bei den gemeinsamen Rüstungsprogrammen erreicht wurde.
Zweitens muss sich der neue Kurs der deutschen Verteidigungspolitik klar in einen europäischen Rahmen einfügen. Die deutschen Bemühungen müssen die europäische Verteidigungspolitik stärken, in einem gemeinsamen Rahmen erfolgen und mit allen europäischen Initiativen im Bereich der Verteidigung im Einklang stehen: CARD, PESCO, dem Europäischen Verteidigungsfonds und dem Strategischen Kompass, der im März dieses Jahres verabschiedet werden soll.
Die verteidigungspolitischen Anstrengungen Deutschlands müssen die Kooperationsprogramme zwischen Deutschland und Frankreich wie das zukünftige Luftkampfsystem FCAS, das neue Bodenkampfsystem MGCS und die Eurodrohne unterstützen und – wenn möglich – neue deutsch-französische Projekte mit anderen europäischen Partnern hervorbringen. Die von Deutschland angekündigten zusätzlichen Mittel dürfen hingegen nicht zum Anlass genommen werden, das politische und industrielle Gleichgewicht in Frage zu stellen, das bei diesen Rüstungsprogrammen erreicht wurde.
Wir müssen in der Lage sein, selbst für die Verteidigung unseres Kontinents zu kämpfen, um autonomer zu werden. Weil unsere Sicherheit davon abhängt und weil wir so unsere eigenen strategischen Interessen verteidigen.
Der Krieg in der Ukraine hat uns gezeigt, dass die Zeit zusehends knapp wird. Wir dürfen die Umsetzung der Rüstungsprogramme, die wir gemeinsam entwickeln, nicht weiter hinauszögern: Das ist es, was Frankreich von Deutschland erwartet. Wir dürfen unsere militärische Abhängigkeit vom Rest der Welt auch nicht durch Beschaffungen außerhalb des europäischen Kontinents erhöhen, die nicht gerechtfertigt sind, wenn in Europa gleichwertige Kapazitäten zur Verfügung stehen. Wir müssen in der Lage sein, selbst für die Verteidigung unseres Kontinents zu kämpfen, um autonomer zu werden. Weil unsere Sicherheit davon abhängt und weil wir so unsere eigenen strategischen Interessen verteidigen. Letztendlich werden alle Anstrengungen, die wir auf europäischer Ebene unternehmen, ipso facto die Verteidigungsfähigkeit der NATO stärken.
Drittens könnten manche in Frankreich befürchten, dass ein militärisch stärkeres Deutschland die Kontrolle über Europas Verteidigungspolitik übernehmen möchte – ein Bereich, in dem Frankreich in der Vergangenheit eine führende Rolle gespielt hat. Doch wenn wir ehrlich sind, hat Frankreich in den letzten Jahren mehr unter Deutschlands zaghafter Verteidigungspolitik gelitten, die – ohne sie damit billigen zu wollen – natürlich aufgrund der Geschichte gerechtfertigt und nachvollziehbar war. Die Franzosen sollten daher die Kehrtwende in der deutschen Verteidigungspolitik begrüßen. Es ist besser, ein effizientes und ausgewogenes Tandem zu haben, das die gleichen Ziele für ein Europa der Verteidigung verfolgt, als ein unausgeglichenes Duo, das in einem unkoordinierten Tempo voranschreitet, wie es in der Vergangenheit zu oft der Fall war.
Aus dem Französischen von Maike Hopp