Die NATO wird ihre Präsenz in Osteuropa verstärken. Mit der Entscheidung des Gipfeltreffens in Warschau trägt die Allianz der nachvollziehbaren Besorgnis der osteuropäischen Mitgliedsländer vor Russland Rechnung. In Polen, Estland, Lettland und Litauen wird jeweils ein Bataillon (rund 1.000 Soldaten) auf Rotationsbasis stationiert werden. Die von Polen und Balten geforderte permanente Stationierung von NATO-Truppen wurde von Deutschland und anderen Ländern als Verstoß gegen die NATO-Russland-Grundakte von 1997 abgelehnt. Aus Sicht der Balten und Polen ist diese – wenn auch eher symbolische – Stationierung eine Art Lebensversicherung und Ausdruck des Beistandsversprechens nach Artikel 5 des NATO-Vertrages.

Das Motto des Gipfeltreffens lautete also: „Abschrecken ohne zu provozieren“. Auch deshalb werden die Ukraine und Georgien – nicht zuletzt auf deutsches Drängen – keine Einladung zu einer NATO-Mitgliedschaft erhalten. Zweifellos war das von Polen initiierte Großmanöver „Anakonda“, mit mehr als 30.000 Soldaten unmittelbar vor dem NATO-Gipfel, politisch das falsche Signal. Immerhin hat Polen – im Gegensatz zu Russland – nach den Bestimmungen des Wiener Dokuments Beobachter aus dem gesamten OSZE-Raum (auch russische) eingeladen und das Manöver langfristig angekündigt. Ebenso problematisch war die Entscheidung, das Raketenabwehrschild der NATO in Polen und Rumänien zu installieren. Vor dem Hintergrund des iranischen Atomabkommens muss Russland das System als gegen sich gerichtet empfinden.

Deshalb hat Frank-Walter Steinmeier völlig zu Recht bemerkt, dass man mit „Säbelrasseln“ keine Probleme löst und damit nichts anderes als eine reine Selbstverständlichkeit ausgesprochen. Wir dürfen uns weder von manchen unserer osteuropäischen Partnern, noch von US-republikanischen Senatoren in einen Eskalationskurs gegenüber Russland drängen lassen und müssen zugleich berechtigten Ängsten Rechnung tragen. Das Russlandbild von Norbert Röttgen und anderen Steinmeier-Kritikern ist eindimensional und deren Kritik wohlfeil. Sie wird der komplizierten Wirklichkeit genauso wenig gerecht, wie das rosafarbene Russland-Bild der LINKEN.

 

Ross und Reiter klar benennen

Auch wenn man Russland zugesteht, dass es sich durch die NATO-Erweiterungsrunden und die NATO-Raketenabwehr bedroht sieht, so sollte man doch in der aktuellen Debatte auch Ross und Reiter klar benennen. So wie überhaupt bei der Frage, wer gerade wen provoziert, vieles im Auge des Betrachters liegt.

Exemplarisch hierfür steht die Aussage des Sprechers von Präsident Putin, der anlässlich der brutalen Hooligan-Übergriffe von russischen (und britischen) „Fans“, diese dazu aufrief, „auf Provokationen egal welcher Art nicht zu reagieren“ Außenminister Lawrow zeigte sogar öffentlich Verständnis für die Gewaltausbrüche der russischen Hooligans. Auch die Dopingsperre für die russischen Leichtathleten ist aus russischer Sicht selbstverständlich eine „Verschwörung des Westens“. Nun kann man zu Recht einwenden, dass auch deutsche und englische Hooligans in Frankreich ihr Unwesen treiben und auch andere Nationen dopen. Fakt ist jedoch, dass es sich im Falle Russlands erwiesenermaßen um systematisches Doping handelt und dass wohl kein deutscher oder englischer Außenminister auf die absonderliche Idee käme, die Untaten „seiner“ Hooligans zu verteidigen. Hauptsache das Weltbild der russischen Regierung bleibt intakt. Einmal mehr werden in reinstem Orwellschen Neusprech Propaganda und Wunschdenken zur Realität umgedeutet.

Ebenso wie die russischen Hooligans in Marseille „provoziert“ wurden, „provoziert“ nun die NATO mit ihren Manövern und der Erweiterung um Montenegro Russland. Man sollte hier jedoch bei den Fakten bleiben: Die russischen Verletzungen der europäischen Friedensordnung und der Prinzipien von Helsinki sind real. Dazu gehören die Annexion der Krim, der unerklärte Krieg in der Ostukraine, die russischen Manöver (mit bis zu 100.000 Soldaten!) an der polnischen Grenze (die im Übrigen unter bewusster Umgehung des Wiener Dokuments als „Alarmübungen“ deklariert wurden) ebenso wie die ständigen und brandgefährlichen russischen Provokationen im NATO-Luft- und Seeraum. Russland versucht zudem ganz offensichtlich, die EU durch Instrumentalisierung der Flüchtlingsströme, antieuropäische und -amerikanische Hasspropaganda in den sozialen Netzwerken und die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in Europa zu destabilisieren.

Nun lässt sich trefflich über Russland als „verfolgte Unschuld“ spotten, dies hilft aber nicht weiter. Genauso wenig, wie das nahezu Mantra-hafte Beschwören der Entspannungspolitik. Ja, wir brauchen Russland genauso wie Russland Europa braucht. Deshalb müssen wir alle Kooperationsforen nutzen, damit der Konflikt nicht weiter eskaliert. Wahr ist aber auch: Es gehören immer zwei dazu.

Es spricht zudem vieles dafür, dass die Gründe für die neue „Großmacht“-Politik Russlands vor allem dazu dienen, von ökonomischen und innenpolitischen Problemen abzulenken. Deshalb brauchen wir strategische Geduld und einen langen Atem. Vor allem darf sich „der Westen“ auch weiterhin nicht auseinander dividieren lassen. Das dies zumindest bislang nicht gelang, ist ein Erfolg, der nicht zuletzt auch Waldimir Putin überrascht haben dürfte. Russlands Bedrohungen gehen nicht von Washington, Brüssel oder Berlin aus. Die wirklichen Gefahren für die Stabilität Russlands liegen in einer immer noch unzureichend wettbewerbsfähigen Wirtschaft, korrupten Eliten, der Kapitalflucht seiner Oligarchen und einer systematischen Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – nicht zu vergessen die islamistische Bedrohung innerhalb der eigenen Grenzen. Zudem verursacht die militärische Überdehnung durch die Annexion der Krim, den hybriden Krieg in der Ostukraine und die Teilnahme am Krieg in Syrien enorme Kosten. Nicht der Westen oder dessen Sanktionen schwächen Russland, das Land schwächt sich selbst.

 

Der Harmel-Bericht als Modell?

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll an den Harmel-Bericht zu erinnern, den der NATO-Rat am 14. Dezember 1967 verabschiedete. Statt eines kompromisslosen „Entweder-Oder“ zwischen Abschreckung und Entspannung definierte der Bericht eine „Doppelstrategie“ von militärischer Stärke und einer „Politik der ausgestreckten Hand“, die sich als visionär erwies. Damit stützte die NATO nicht nur die Ostpolitik der Bundesregierungen dieser Jahre, sondern auch Gespräche zwischen den USA und der UdSSR über die Begrenzung ihrer strategischen Atomwaffen und leitete eine erste Entspannungsphase ein. Eine solche Strategie wird auch heute wieder gebraucht, auch wenn manche dies als typisch sozialdemokratische „Sowohl-als-auch-Politik“ verunglimpfen mögen. Denn die Erfahrungen aus den 70er und 80er Jahren lehren, dass neben dem gemeinsamen Willen zur Verteidigungsbereitschaft immer auch Instrumente des Dialogs und Kooperationsangebote gehören müssen. Ansonsten droht unweigerlich eine gefährliche Eskalationsspirale, die

zu noch mehr Konfrontation und Unsicherheit führt und weder die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa noch andere Konflikte in der Welt löst. Daher ist in der aktuellen Situation eine Diskussion mit unseren Partnern über den Nutzen von Abrüstung und Rüstungskontrolle für die Sicherheit in Europa notwendig.  

 

Über das Einrennen von offenen Türen

Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Komik, wenn „Entspannungsnostalgiker“ immer wieder mit großem Aplomb offene Türen einrennen und vehement Forderungen stellen, die bereits von der Bundesregierung – allen voran von Frank-Walter Steinmeier und dem OSZE-Beauftragten Gernot Erler – eins zu eins umgesetzt werden, wie die Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates, die Einrichtung eines roten Telefons zwischen Brüssel und Moskau, die ablehnenden Haltung gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgien, die Modernisierung der Instrumente der militärischen Vertrauensbildung nach dem Wiener Dokument, einen Neuansatz bei der konventionellen Rüstungskontrolle (KSE) sowie die Stärkung der OSZE unter deutschem Vorsitz.

Die Botschaft muss deshalb lauten: „So viel Sicherheit wie nötig, so viel Dialog und Kooperation wie möglich.“ Wir müssen der Eskalation entgegentreten, statt sie weiter zu befeuern, zumal es keine militärische Lösung für den Ukrainekonflikt geben kann. In diesem Zusammenhang sollte man sich trotz der berechtigten Klagen über die mangelnde Umsetzung von Minsk II (das im Übrigen von russischer und ukrainischer Seite „torpediert“ wird) nochmals vor Augen führen, dass noch vor zwei Jahren über die Bewaffnung der ukrainischen Streitkräfte und die Gefahr eines weiteren russischen Vormarsches im Osten und Süden der Ukraine bis zur Schaffung eines Korridors nach Transnistrien diskutiert wurde.  Zumindest ist es den Vermittlern im Normandie-Format bislang gelungen, eine weitere Zuspitzung des Konfliktes zu verhindern. Nun gilt es zu verhindern, dass aus der Ostukraine ein weiterer frozen conflict entsteht. Das Treffen des NATO-Russland-Rates in Brüssel, bei dem das Bündnis die russische Seite über die Ergebnisse und Intentionen des Gipfels informieren wird, ist deshalb nur zu begrüßen. Jeder regelmäßige kontroverse Austausch ist besser, als eine gefährliche Sprachlosigkeit.

Bei den iranischen Atomverhandlungen hat die russische Regierung eine konstruktive Rolle gespielt. Wir brauchen Russland auch zukünftig, etwa bei der Regelung des Syrienkrieges. Nachhaltige Sicherheit für Europa gibt es nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland – aber derzeit leider auch nicht mit Russland. Eine tragfähige Partnerschaft mit Russland muss unser Ziel bleiben. Diese erfordert jedoch Vertrauen, welches erst wieder hergestellt werden muss – und zwar auf beiden Seiten. Solange muss die NATO als eine Art eierlegende Wollmilchsau alles zugleich sein: Rückversicherung und Beistand, Verhandlungs- und Dialogforum – und dies in enger Zusammenarbeit mit der EU und der OSZE. Wir brauchen weder „Kriegs“- noch „Friedensgeheul“, sondern eine realistische Russlandpolitik mit Augenmaß und Empathie.