Der Krieg in der Ukraine hat mit dem ukrainischen Vorstoß auf das russische Territorium Anfang August eine überraschende Wende erlebt. Während die ukrainischen Streitkräfte bei ihrer Offensive in der russischen Region Kursk vorrücken, ist die russische Armee im Donbass auf dem Vormarsch. Der ukrainische Präsidentenberater Mykhailo Podolyak erklärte zwar, der Einmarsch in der Oblast Kursk ziele unter anderem darauf ab, die Russische Föderation davon zu überzeugen, in einen fairen Verhandlungsprozess einzutreten. Moskau allerdings schließt seit der Kursk-Offensive zumindest öffentlich jegliche Verhandlungen mit Kiew aus.
Nichtsdestotrotz scheinen diplomatische Aktivitäten weiterzulaufen. Ein Indiz dafür ist der am 23. August erfolgte Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi in der Ukraine, anderthalb Monate nach seinem Besuch in Moskau. Am Tag vor seinem Eintreffen in Kiew hatte er bei Polens Premierminister Donald Tusk in Warschau auf diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges gedrängt und die Unterstützung Indiens zugesagt. Gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bekräftigte er, dass der Weg zu einer Lösung nur über Dialog und Diplomatie gefunden werden könne. Modi versicherte, dass Indien bereit sei, bei allen Friedensbemühungen eine aktive Rolle zu spielen.
Im Gegensatz zu Indien haben die anderen großen BRICS-Mitglieder China, Brasilien und Südafrika bereits jeweils eine Friedens- oder Vermittlungsinitiative auf den Weg gebracht.
Auf der einen Seite spiegelt diese Ankündigung Indiens konsequente Haltung zu Russlands Krieg in der Ukraine wider. Bereits am Rande des Gipfeltreffens der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Usbekistan im September 2022 hatte Modi zum russischen Präsidenten Wladimir Putin gesagt, die heutige Zeit sei keine Ära des Krieges. Damit hatte er angedeutet, dass Neu-Delhi Putins Invasionsentscheidung für falsch hielt, ohne Russland ausdrücklich zu verurteilen. Denn Russland ist für Indien ein langjähriger und sehr wichtiger außenpolitischer und wirtschaftlicher Vertrauenspartner. Bei seinem jüngsten Moskau-Besuch blieb der indische Premierminister dieser Linie treu, indem er darauf hinwies, dass ein Friedensdialog nicht inmitten von Bomben geführt werden könne und dass auf dem Schlachtfeld keine Konfliktlösung möglich sei.
Auf der anderen Seite ist Modis Aussage in Kiew insofern bezeichnend, als dass der indische Premierminister sich konkret bereit erklärte, die mehrmals deutlich artikulierte Position seines Landes nun tatkräftig diplomatisch vorantreiben zu wollen. Im Gegensatz zu Indien haben die anderen großen BRICS-Mitglieder China, Brasilien und Südafrika bereits jeweils eine Friedens- oder Vermittlungsinitiative auf den Weg gebracht, allerdings ohne spürbaren Erfolg.
Mehrere Staaten des sogenannten Globalen Südens haben sich seit Februar 2022 bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg in der Ukraine hervorgetan. Den Auftakt machte Indonesiens Präsident Joko Widodo, der sich im Sommer 2022 im Rahmen einer Vermittlungsinitiative sowohl mit Putin als auch mit Selenskyj traf. Eine Aufnahme von Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine hat er nicht erreicht, er konnte aber Berichten zufolge darauf hinwirken, dass Putin sich bereit erklärte, einen Seeweg für ukrainische Weizenexporte zu öffnen. Die Gewährleistung der Nahrungsmittel- und Energiesicherheit soll neben den sicherheitspolitischen Konsequenzen des Konflikts für die Asien-Pazifik-Region und seine Auswirkungen auf den G20-Gipfel 2022 in Indonesien im Vordergrund gestanden haben.
Der brasilianische Staatschef Lula da Silva übernahm den Staffelstab nach seinem Amtsantritt im Januar 2023 und kündigte an, eine internationale Friedensinitiative starten zu wollen. Kurz darauf reiste er nach Peking, um diese mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu besprechen. Doch seine harschen Äußerungen über die Mitverantwortung der USA und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj für den Kriegsausbruch waren für eine Vermittlerrolle Brasiliens eher kontraproduktiv.
Schließlich haben sich sieben afrikanische Staats- und Regierungschefs, angeführt von Südafrika, Mitte Juni 2023 im Rahmen einer afrikanischen Friedensmission mit den Präsidenten der Ukraine und Russlands getroffen. Einen Durchbruch in Richtung Verhandlungen konnten sie ebenfalls nicht erreichen: Russland blieb bei seiner Forderung nach Anerkennung der 2014 und 2022 annektierten ukrainischen Territorien, während die Ukraine auf einem Rückzug russischer Truppen von seinem gesamten Territorium als Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen bestand.
Seit Anfang 2024 haben die Vereinigten Arabischen Emirate bereits sechs Kriegsgefangenenaustausche zwischen Russland und der Ukraine vermittelt.
Letztendlich war den aufstrebenden Mittelmächten des Globalen Südens trotz mehrerer Initiativen bisher kein großer diplomatischer Durchbruch im Krieg in der Ukraine gelungen. Doch im kleineren Format konnte beispielsweise das neue BRICS-Mitglied Vereinigte Arabische Emirate wichtige Vermittlungserfolge erzielen: Seit Anfang 2024 hat das Land bereits sechs Kriegsgefangenenaustausche zwischen Russland und der Ukraine vermittelt. Zuletzt am ukrainischen Unabhängigkeitstag, dem 24. August, also bereits nach Beginn der ukrainischen Offensive auf dem russischen Territorium. Der Nachbar Saudi-Arabien hat vor einem Jahr die zweite Friedenskonferenz zwischen den westlichen Ländern, der Ukraine und einigen Ländern des Globalen Südens ausgerichtet und wird als Organisator einer zukünftigen Konferenz gehandelt.
Alle genannten Beispiele zeigen: Der Einsatz von Staaten, die sowohl mit Moskau als auch mit Kiew und dem Westen diplomatisch auf gutem Fuß stehen und die Russlands Aggression im Rahmen der UN verurteilten, sich aber Wirtschaftssanktionen gegen Moskau nicht angeschlossen haben, hat das Potenzial, kumulativ in einem Ausweg aus dem Krieg zu münden. Das Verhalten des Globalen Südens mag widersprüchlich erscheinen, ist es bei näherem Hinsehen jedoch nicht. Vielmehr handelt es sich um einen rationalen Ansatz, um in den turbulenten Gewässern einer multipolaren Welt zu navigieren, ohne nationale Interessen zu gefährden und sich außenpolitische Optionen zu verschließen. Die Länder versuchen, sich langfristig zu positionieren und eine bedeutende Rolle in der zukünftigen Friedens- und Sicherheitsarchitektur zu spielen.
Das Verhalten des Globalen Südens mag widersprüchlich erscheinen, ist es bei näherem Hinsehen jedoch nicht.
Indiens Agieren steht zum einen symbolisch für das des Globalen Südens insgesamt. Dessen Länder spüren die negativen geopolitischen und ökonomischen Auswirkungen des Krieges durchaus und können deswegen auch nicht indifferent bleiben. Während seiner G20-Präsidentschaft hat Neu-Delhi die Belange des Globalen Südens explizit in den Mittelpunkt seiner Agenda gestellt. Im Gegensatz zu den anderen großen regionalen Akteuren wie Brasilien, Südafrika oder Saudi-Arabien weist Indien darüber hinaus eine Reihe von Merkmalen auf, die seine Erfolgschancen als Vermittler deutlich erhöhen könnten.
Zu nennen sind da vor allem Indiens ökonomisches und sein diplomatisches Gewicht. Als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ist es ein wertvoller Handels- und Wirtschaftspartner, sowohl für Moskau und Kiew als auch für Washington und die EU. Zu allen diesen Akteuren unterhält Neu-Delhi außerdem enge politische Beziehungen und genießt im Westen viel mehr Vertrauen als China. Aufgrund seiner engen ökonomischen Verbindung mit der EU, die Indiens wichtigster Handelspartner ist, hat Neu-Delhi ferner ein Interesse an einem stabilen Europa, das in der Lage ist, sich um seine Sicherheit zu kümmern. Dafür braucht es auch ein konstruktives Verhältnis zu Russland – die Notwendigkeit einer Balance deutete der indische Premierminister im Juli 2024 an, als er zuerst Moskau und anschließend Wien besuchte.
Modi ist in einer einzigartigen Position, um als Vermittler zu fungieren.
Mit Russland weist Indien seit Jahrzehnten ein Niveau der strategischen Partnerschaft auf, das sonst, bis auf China, kein anderes Land hat. Das gibt Neu-Delhi erhebliche Einflussmöglichkeiten auf Moskau, zumal Russland Indien braucht, um seine wachsende Abhängigkeit von China auszugleichen. Somit ist Indien aktuell für Russland wie für den Westen unverzichtbar. Das versetzt Modi in eine einzigartige Position, um als Vermittler zu fungieren. Seine Besuche in Moskau und in Kiew mit einem Abstand von sechs Wochen zeugen davon, dass er sich dieser Position bewusst ist. Beide Reisen waren wahrscheinlich vor längerer Zeit geplant gewesen und sind weniger ein außenpolitischer Schnellschuss. Allerdings wollte Modi den Beginn seiner neuen Amtszeit abwarten.
Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass Neu-Delhi sofort aktive Vermittlungsschritte unternimmt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Indiens diplomatischer Ansatz von den bisherigen Initiativen Brasiliens oder der afrikanischen Länder. Der indische Premierminister hat klargemacht, dass sein Land nichts erzwingen wolle; er sei bereit zu helfen, wenn Russland und die Ukraine miteinander reden wollen. Auch das ist Neu-Delhis konsequente Haltung. Beispielsweise hat Indien auf dem im Juni 2024 abgehaltenen Friedensgipfel in der Schweiz das abschließende gemeinsame Kommuniqué nicht unterzeichnet und darauf bestanden, dass alle Parteien (also auch Russland) anwesend sein müssten. In Kiew hat Modi den ukrainischen Präsidenten direkt aufgefordert, Gespräche mit Russland zu führen. Aktuell scheinen sich Russland und die Ukraine jedoch zunächst militärische Erfolge auf dem Schlachtfeld sichern zu wollen.
Schließlich ist zu erwähnen, dass Modis Besuch in Kiew sich nicht darauf beschränkte, Wege aus dem Krieg zu besprechen. Vielmehr wurde der Ausbau der Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen wie etwa Handel, Landwirtschaft, Pharmazie, Verteidigung, Wissenschaft und Technologie erörtert. Beide Staatschefs kamen darin überein, alle Möglichkeiten auszuloten, um die bilateralen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen nicht nur wieder auf das Niveau von vor dem Konflikt zu bringen, sondern sie weiter auszubauen und zu vertiefen.
Aus europäischer Sicht ist es zudem wichtig, dass Modi und Selenskyj übereinkamen, die Möglichkeit einer Beteiligung indischer Unternehmen am Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg „in geeigneter Weise“ zu prüfen. Ob diese Vorhaben mit konkreten Schritten und Angeboten untermauert werden, bleibt abzuwarten. Doch die getroffenen Vereinbarungen sind bereits ein Zeichen dafür, dass Indien trotz allem Vertrauen in eine Entwicklung in Richtung Frieden in der Ukraine hat und die Ukraine als einen soliden Kooperationspartner für die Zukunft betrachtet. Das sind günstige und notwendige Voraussetzungen für ein stärkeres indisches Engagement bei der dringenden Suche nach einem Ausweg aus dem verheerenden Krieg.