Adenauers Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR 1955kann als Ostpolitik 1.0 bezeichnet werden. Durch dieses Prisma betrachtet war sie sozusagen die Stammzelle der gesamten vertragsbasierten Entspannungspolitik von Willy Brandt in den 1970er Jahren und somit der  Ostpolitik 2.0. Brandts Ostverträge hatten eine übergeordnete klare nationale Triebfeder: Über die Aufrechterhaltung der  „Einheit der Nation“,  die  Option für die nationale  Einheit offenzuhalten.  Mit der deutschen Einheit hat sich die klassische Ostpolitik insofern erfüllt.

Das deutsche Angebot einer Modernisierungspartnerschaft mit Russland von 2008 hatte in brandtscher Tradition der Anerkennung von Realitäten und des Abbaus von Feindbildern das Ziel, über eine Unterstützung der dortigen Zivilgesellschaft demokratische, marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Strukturen und Prozesse zu fördern und festigen. Nun stellte diese Modernisierungspartnerschaft sicher nicht im Hegelschen Sinne einen „Knotenpunkt im Gang der Weltgeschichte“ dar. Doch sie war andererseits eben auch nicht einfach der Auftakt zu einem west-östlichen Glasperlenspiel. Die deutsche Diplomatie ging über ein bloßes Hologramm der Zusammenarbeit hinaus und richtete sich auf harte politische Prosa mit Moskau ein. Dennoch konnte eine Ostpolitik 3.0 nicht etabliert werden.

Denn durch die EU-Osterweiterungen war der frühere politische Osten bereits Teil des politischen Westens geworden. Somit kehrte die Politik an ihren geographisch-historischen Ausgangspunkt Russland zurück. Die Einladung zu kooperativen Erneuerungsprozessen kam jedoch zu spät. Denn spätestens seit Putins „Wutrede“ auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 konnte jeder, der es sehen wollte, Russlands Sicht auf Europa als Bühne der Auseinandersetzung zur Kenntnis nehmen. Doch Putins j’accuse  wurde in der westlichen Diplomatie gewogen und für nicht schwer genug empfunden.

Von der kurzfristigen Annäherung nach 9/11 bis zum jetzigen Frost liest sich die Analyse des Diskurses zwischen Moskau, Washington und weiteren westlichen Hauptstädten bei Dimitri Trenin, dem Direktor des Carnegie Moscow Center, wie eine Ost-West-Abfahrt  auf  einer Buckelpiste. Und die wird zunehmend steiler abschüssig.  Vor einem solchen Hintergrund  rückt die Bereitschaft zu einem Perspektivwechsel  derzeit fast schon in die Nähe von Hochverrat. In der Folge tönen ausgemachte Gewissheiten in jeweils vollständig getrennten Echokammern wider. Verabschieden wir uns also von dem von der Realität überholten Terminus Ostpolitik, der in der Reihung nun als Ostpolitik 4.0 bezeichnet werden müsste. Tatsächlich geht es um Russlandpolitik. Zu erarbeiten sind  Antworten auf ein Russland, das innenpolitisch zunehmend autoritär, gesellschaftspolitisch nationalpatriotisch-nationalistisch sowie außenpolitisch wie eine revitalisierte Großmacht auftritt.

Spätestens seit Putins „Wutrede“ auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 konnte jeder, der es sehen wollte, Russlands Sicht auf Europa als Bühne der Auseinandersetzung zur Kenntnis nehmen.

Erforderlich wäre die ungeteilte Bereitschaft beider Seiten, sich von der eigenen Handlungsgeschichte zu lösen, zuzuhören (ohne eifernde Verständnisbemühungen), Empathie zu empfinden (ohne die Realität zu verklären) und sich zu einer (zivilisierten) Streitkultur zu bekennen.  

Doch wie realistisch ist das angesichts einer USA mit oft eigenwilliger Agenda, gegenüber einem Russland, das das Komponieren von machtgestütztem Handeln perfektioniert hat und angesichts einer reichlich brüchigen gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik? Feuerzungen der Offenbarung sind vom Balkon des Weißen Hauses nicht zu erwarten. Und eine Ästhetik  der Realpolitik ist selbst beim Gutwilligsten in der Krim-Annexion des Kremls nicht zu erkennen.

Was kann, was sollte die deutsche Rolle in diesem durch den Krieg in der Ukraine verstörten Europa sein, das von Tallinn bis Athen zwischen Alarmismus und Akkommodieren oszilliert?

Am Anfang steht die unbequeme Wahrheit des K-Wortes. Es gehört in der Politik deutlich ausgesprochen: Es herrscht „schlicht und einfach Krieg. Mitten in Europa.“ Es geht nicht um einen bloßen „Störfall“ von Fehlwahrnehmungen, Missdeutungen und wechselseitigen Überreaktionen. Es hat sich vielmehr beiderseits ein grundsätzlicher und damit noch lange andauernder Disput aufgebaut. Der lässt kaum mehr Raum für Zwischentöne und läuft Gefahr, schrittweise in immer tieferen Antagonismus abzugleiten.

Vordergründig scheint die Dimension der militärischen Sicherheit zu dominieren. Der Fokus der Baltischen Staaten und Polens liegt auf Sicherheit vor Russland und somit auf Eindämmung. Im Unterschied dazu steht die Position Deutschlands und anderer Länder, die betonen, dass sich nachhaltige Sicherheit nur mit Russland erzielen lässt. Dieser Gegensatz dürfte die euroatlantische Gemeinschaft, sei es strategisch beabsichtigt oder als nicht gezielt geplanter Nebeneffekt, auf längere Sicht erodieren.

Einiges spricht allerdings dafür, dass es Russland vorrangig – zumindest bislang noch – in Wirklichkeit um einen Wertekonflikt geht: Westliche liberale Zivilgesellschaften versus „Sonderweg Russland“ unter Rückgriff auf seine imperiale Geschichte und Anknüpfung an die anti-westliche Slawophilen-Bewegung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Allem Anschein nach befürwortet Putin diesen Clash in Tonalität und Denkfigur.

Einiges spricht allerdings dafür, dass es Russland vorrangig – zumindest bislang noch – in Wirklichkeit um einen Wertekonflikt geht.

Deutschland sollte Russland deshalb gerade jetzt zu einem strategischen „herrschaftsfreien Diskurs“ über Politik und Werte in Europa auffordern. Unsere Anstrengungen müssen sich darauf konzentrieren, das Zeitfenster zu nutzen, um Russland auf dem Pfad des gesellschaftspolitischen Wertekonflikts zu halten und diesen dabei zugleich einzuhegen. Ziel wäre es, eine gesellschaftlich und medial auszutragende langfristige Streitkultur über trennende und gemeinsame Werte und ihre europäische politische Ausgestaltung zu etablieren. Damit könnte verhindern werden, dass das Ost-West-Verhältnis nicht erneut durch militärische Prismen bewertet wird. Im historischen Vergleich – wohlgemerkt nicht in Parität – befinden wir uns im Zeitabschnitt post-1945, bevor der damals erst aufkommende ideologische Konflikt seine rüstungsdynamische Ummantelung erhielt.

Natürlich: Wir könnten uns irren. Hiernach wäre Moskau längst zu weiteren machtpolitischen Projektionen und hybriden Aktionen in sicherheitspolitisch schwach ausgeprägten europäischen Regionen bereit. Berlin sollte sich darum nachdrücklich für eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz über Militärdoktrinen hinsichtlich Dispositiven, Strukturen und Aktivitäten einsetzen. Die Wiener Konferenz 1990 wäre ein Vorbild

Russischer Machtpolitik darf nicht nachgegeben werden. Russland darf aber auch nicht als legitim mitgestaltende Kraft in Europa aufgegeben werden. Deutschland ist der  stärkste Akteur im integrierten Europa. Es muss deshalb weiterhin Mittler und Makler sein. Dazu gehört aber auch die Bejahung von politischer Führung in der Suche nach und Erwirkung von angemessenen Antworten auf russische Politik. Das wird auch weiterhin nur im kakophonischen Konzert der  europäischen Partner denkbar bleiben.