Bei vielen Themen nähern sich die zukünftigen Koalitionäre an und beweisen Kompromissfähigkeit. Das ist gut so, denn selten brauchte Deutschland – und Europa – so schnell eine handlungsfähige Regierung. In unsicheren Zeiten kommt der außenpolitischen Standortbestimmung eine besondere Bedeutung zu. Neben dem Ukrainekrieg und der von Russland ausgehenden Aggression betrifft das insbesondere den Nahen Osten – eine unmittelbare Nachbarregion der Europäischen Union. Nach dem brutalen Angriff der Hamas am 7. Oktober hat Deutschland zu Recht seine Unterstützung für Israels Recht auf Selbstverteidigung zugesagt. Doch aus dem Feldzug gegen die Hamas wurde ein Krieg, der zur vollständigen Vernichtung aller Lebensgrundlagen im Gazastreifen geführt hat. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Koalition aus Siedlern und Ultranationalisten schaffen derzeit nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland irreversible Fakten. Mit dem Blankoscheck der Trump-Administration drohen weitgehende israelische Annexionen palästinensischer Gebiete – die Folgen wären dauerhafte Destabilisierung und Gewalt. Eineinhalb Jahre nach dem 7. Oktober braucht es in einem Koalitionsvertrag nicht nur klare Leitlinien zur Ukrainepolitik, sondern auch in Bezug auf Israel und Palästina. Die Koalitionsparteien sollten alles tun, um die Aussicht auf einen gerechten Frieden zu erhalten: Zwar sind die Chancen auf eine Zweistaatenlösung in den vergangenen 25 Jahren stetig geschwunden – doch gerade deshalb ist die Forderung nach einer gerechten Regelung umso wichtiger. 2013 hielt die Große Koalition im Koalitionsvertrag fest: „Unser Ziel ist eine Zweistaaten-Lösung mit einem Staat Israel in anerkannten und dauerhaft sicheren Grenzen sowie einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat, die Seite an Seite in Frieden und Sicherheit leben.“
Deutschland hat in der Vergangenheit erhebliche Beiträge zum Aufbau staatlicher Strukturen in Palästina geleistet. Die neue Bundesregierung sollte auch die offizielle Anerkennung eines palästinensischen Staates vornehmen und zugleich wichtige Reformen unterstützen. Der israelische Premier Benjamin Netanjahu hingegen lehnt einen palästinensischen Staat offen ab. In der Westbank werden mit neuen jüdischen Siedlungen und der Zerstörung palästinensischer Dörfer rasant Fakten geschaffen. Mittlerweile wird offen eine Wiederbesetzung und Besiedlung des Gazastreifens sowie eine Vertreibung der Palästinenser gefordert. Deutschland muss wieder zu einem zentralen Fürsprecher für eine friedliche Regelung werden, die allen Menschen in der Region Sicherheit garantiert. Eine deutliche Positionierung gegen die israelische Siedlungspolitik bleibt wichtig – so wie sie sich zum Beispiel im Koalitionsvertrag von CDU und SPD von 2018 findet. Denn die US-Regierung will die Rolle eines Garanten des internationalen Rechts nicht mehr wahrnehmen. Darüber hinaus muss klar sein, dass bilaterale Verträge mit Israel nicht die besetzten Gebiete einschließen. Entsprechende Waren und Dienstleistungen aus Siedlungen sollten mit einem Einfuhrverbot belegt werden.
Deutschland kommt eine zentrale Rolle bei der Erhaltung des Völkerrechts und des internationalen Systems der Vereinten Nationen zu, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Umfassend dokumentierte Völkerrechtsverletzungen in Gaza müssen genauso deutlich benannt werden wie in anderen Konflikten. Sonst wird zu Recht beklagt, dass mit zweierlei Maß gemessen wird – ein Vorwurf, der die Glaubwürdigkeit und damit auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit beschädigt. Deren Erhalt ist umso wichtiger, weil die Trump-Administration – ebenso wie die israelische Regierung – internationale Organisationen mit Desinformation und Verleumdung untergräbt. Das zeigt sich exemplarisch am UNRWA, dem 1948 geschaffenen Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser. Nach Vorwürfen einer Beteiligung einzelner Mitarbeiter am Hamas-Angriff am 7. Oktober wurde eine Untersuchungskommission gebildet, welche der Organisation die wirksamsten Mechanismen und Regeln für Transparenz im gesamten UN-System bescheinigte. Doch die israelische Regierung stilisiert nicht nur das UNRWA, sondern gleich alle UN-Organisationen zu „Terror-Unterstützern“ – dass UN-Generalsekretär Guterres in Israel zur „unerwünschten Person“ erklärt wurde, ist beispiellos. Nie war die Arbeit des UNRWA in Gaza, aber auch in der Westbank, so wichtig wie jetzt. Sie muss ausreichend und nachhaltig finanziert werden, um die humanitäre Krise in Gaza zu lindern und wenigstens minimale Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen aufrechterhalten zu können. Auch die weitere humanitäre Hilfe und die internationale Entwicklungszusammenarbeit müssen ausreichend finanziert sein, um auf Krisen reagieren zu können.
Auf den inhaltlich unscharfen und rückwärtsgewandten Begriff der „Staatsräson“ sollte bei der Definition dieser Verantwortung verzichtet werden.
Deutschland bleibt verantwortlich für die Verbrechen der NS-Zeit und sollte weiterhin aus dieser Verantwortung heraus handeln. Mit der Stärkung universeller Werte, dem Schutz des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte zieht Deutschland die richtige Lehre aus seiner Geschichte: nämlich menschenfeindlichen Ideologien wie Antisemitismus und Rassismus entgegenzutreten und zu verhindern, dass aus Hass Gewaltverbrechen bis hin zum Völkermord werden. Auf den inhaltlich unscharfen und rückwärtsgewandten Begriff der „Staatsräson“ sollte bei der Definition dieser Verantwortung verzichtet werden. Eine Zusammenarbeit mit Netanjahu und seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern, die aus ihrer Sympathie für Europas Rechte keinen Hehl machen, passt nicht zu dieser Lehre – im Gegenteil. Daher sollte klar definiert werden, welches Israel Deutschland unterstützt: ein weltoffenes und demokratisches Israel und jenen Teil von Gesellschaft und Politik, die für diese Werte stehen. 2018 formulierte die Große Koalition zu Recht: „Wir bekennen uns zu der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel als jüdischem und demokratischem Staat.“ Diese Formulierung ist entscheidend, denn Premierminister Netanjahu und seine Koalition verbinden mit dem ersten Teil einen jüdischen Herrschaftsanspruch, dem sie etwa im Nationalstaatsgesetz von 2018 demokratische Rechte anderer Staatsbürger unterordnen.
Die Unterstützung für die Zivilgesellschaft, die sich trotz schwierigster Bedingungen für diese Werte und für eine friedliche Regelung einsetzt, sollte deutlich verstärkt werden. Deutschland verfügt mit seinen politischen Stiftungen sowie erfahrenen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen über starke Partner mit tiefen Netzwerken vor Ort. Der gefährliche Kurs der aktuellen israelischen Rechtsregierung sollte dagegen nicht noch durch symbolische und politische Aufwertungen gefördert werden – sei es durch die Wiederaufnahme der Regierungskonsultationen, den Zusammentritt des EU-Israel-Assoziationsrats oder eine Vertiefung der bilateralen Kooperation.
Es besteht Einigkeit, dass die Drahtzieher und Täter des 7. Oktober für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Viele von ihnen wurden bei gezielten Angriffen auf den Gazastreifen getötet. Aber Israels Angriffe haben in extrem hohem Maße nicht die Hamas getroffen, sondern die Zivilbevölkerung. Das Ergebnis sind die weitreichendsten Zerstörungen seit dem Zweiten Weltkrieg und eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Für über zwei Millionen Menschen, vorwiegend Kinder und Jugendliche, besteht das Leben seit nunmehr eineinhalb Jahren nur noch aus Angst vor Tod und Zerstörung. Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser und die gesamte zivile Infrastruktur wurden ausradiert. Nach Angaben von UNICEF wurden rund 15 000 Kinder bei den Angriffen getötet, über 34 000 verletzt. Zehntausende sind zu Waisen geworden oder aufgrund des Krieges von ihren Eltern getrennt.
Wer sich bis dahin den Begriff „Genozid“ nicht zu eigen macht, sollte zumindest die zahlreichen fundierten Analysen ernst nehmen.
Die größten internationalen Menschenrechtsorganisationen, zahlreiche UN-Vertreter und bedeutende Genozidforscher – darunter die israelischen Historiker Omer Bartov und Amos Goldberg – sprechen mittlerweile auch von einem Genozid, das heißt vom Versuch, eine Bevölkerungsgruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Eine Entscheidung über die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof steht noch aus – die zukünftige Bundesregierung wird ein Urteil, unabhängig vom Ausgang, respektieren müssen. Wer sich bis dahin den Begriff „Genozid“ nicht zu eigen macht, sollte zumindest die zahlreichen fundierten Analysen ernst nehmen – und sie nicht pauschal und verfälschend als „Antisemitismus“ diskreditieren. Bereits vor einem Jahr war die Beweislast für mutmaßliche Kriegsverbrechen so erdrückend, dass der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle erließ – auch gegen den israelischen Premierminister. Deutschland unterstützt den Internationalen Strafgerichtshof seit seiner Gründung und ist wie alle anderen 125 Vertragsstaaten verpflichtet, seine Entscheidungen zu respektieren und umzusetzen. Angesichts der dokumentierten Kriegsverbrechen in Gaza ebenso wie der völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik, die von der israelischen Armee durchgesetzt wird, muss auch klar sein, dass Deutschland keine Waffen an die aktuelle israelische Regierung liefert, wenn diese geeignet sind, Kriegsverbrechen zu befördern.