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Was zunächst nur ein Medienbericht war, bestätigte Donald Trump am Montag: Die US-Regierung plant, die Obergrenze für in Deutschland stationierte US-Truppen von derzeit 34 500 auf 25 000 zu senken. Ob die Ankündigung wirklich zu einem dauerhaften Abzug Tausender US-Soldaten aus Deutschland führen wird, bleibt zunächst abzuwarten.
Das Urteil über Trumps Beweggründe scheint hingegen bereits gefällt. Der Spiegel spricht von einem „Racheplan“ des ausgeschiedenen US-Botschafters Richard Grenell für seinen von Erleichterung und Häme begleiteten Abgang. Der Truppenabzug sei eine „Strafaktion gegen Deutschland“ für zu gering erachtete Verteidigungsausgaben und Merkels Absage an einen geplanten G7-Gipfel in Washington. Die DW bezeichnet Trump als einen „launischen Präsidenten“ und insinuiert mit der unglücklichen, weil banalen Feststellung, der geplante Abzug sei eine „rein politische Entscheidung“, dass strategische Überlegungen keine Rolle in der Entscheidungsfindung spielten. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen, analysiert, dass Trumps Außenpolitik nunmehr „praktisch ausschließlich vom Wahlkampf“ geprägt sei. Ein ehemaliger deutscher Diplomat führt den geplanten Truppenabzug gar auf Trumps „krankhafte Selbstbezogenheit“ zurück.
Die vorherrschende Meinung, der angekündigte Truppenabzug sei Ausdruck Trumpscher Impulsivität oder gar eine strikt gegen Deutschland gerichtete Racheaktion, ist so unzutreffend wie gefährlich. Unzutreffend, weil sie von Unkenntnis über eine sich in vollem Gange befindliche strategische Neuorientierung der US-amerikanischen Außenpolitik zeugt. Gefährlich, weil sie fälschlicherweise suggeriert, mit einer möglichen Abwahl Trumps wären wir, wie Sigmar Gabriel jüngst prognostizierte, „sofort zurück bei einem sehr viel besseren Verhältnis“ zu den USA.
Wahlkampf hin oder her, Trumps Skepsis gegenüber der militärischen US-Präsenz in Deutschland und Europa ist primär der strategischen Überzeugung geschuldet, die USA befinde sich in einer Großmächtekonkurrenz mit China.
Dass Trumps Wunsch, US-amerikanische Soldaten zurück in die USA zu holen, wenig mit der zu Ende gegangenen Amtszeit Grenells als US-Botschafter und Merkels G7-Gipfelabsage zu tun hat, zeigt allein schon die Chronologie der Geschehnisse. Schon der erste Medienbericht über den Truppenabzug schilderte, dass die Trump-Regierung bereits seit September vergangenen Jahres konkrete Überlegungen über Truppenreduzierungen in Deutschland anstellte. Solche Überlegungen passen nicht nur zu Trumps Grundkritik an der permanenten Stationierung von US-Truppen jenseits US-amerikanischer Landesgrenzen (forward deployment), sondern spiegeln den strategischen Bedeutungsverlust Europas wider.
Selbst das viel bemühte Argument, Trump schade sich mit dem geplanten Truppenabzug nur selbst, da die USA Stützpunkte in Deutschland für militärische Aktivitäten im Mittleren Osten bräuchten, verkennt, dass auch diese Region nicht mehr den Fokus US-amerikanischer Außenpolitik repräsentiert. Es ist nicht allzu lange her, dass Trump die militärische Zusammenarbeit mit kurdischen Anti-Assad-Kräften beendete und im immer noch laufenden Syrienkrieg der Türkei und Russland das Feld überließ.
Gewiss, Trump steht aufgrund einer Vielzahl von Herausforderungen – über 100 000 Corona-Tote, die pandemiebedingte Wirtschaftskrise und eine eklatante Ungleichbehandlung afro-amerikanischer US-Bürgerinnen und -Bürger – ein schwieriger Wahlkampf bevor. An einer „krankhaften Selbstbezogenheit“ leiden jedoch all jene in Deutschland, die insinuieren, die anstehende US-Präsidentschaftswahl entscheide sich an der Frage, wie viele US-Truppen in Deutschland blieben. Wahlkampf hin oder her, Trumps Skepsis gegenüber der militärischen US-Präsenz in Deutschland und Europa ist primär der strategischen Überzeugung geschuldet, die USA befänden sich nunmehr in einer Großmächtekonkurrenz mit China. Die aktuelle National Defense Strategy spricht vom Wiederaufleben eines langfristigen strategischen Wettbewerbs zwischen Großmächten („reemergence of long-term strategic competition“), bezeichnet China und Russland als revisionistische Nationen und identifiziert den Indo-Pazifik als strategisch bedeutende Region.
Unter Biden wäre der US-amerikanische Fokus auf China und der damit verbundene Bedeutungsverlust Europas nicht minder intensiv.
Nicht nur der einflussreiche Stratege Steve Bannon bezeichnet das 21. Jahrhundert als das „pazifische Jahrhundert“. Die Neuorientierung US-amerikanischer Außenpolitik gen Ostasien begann bereits unter Trumps Vorgängern. Barack Obama nannte sich selbst in seinem ersten Amtsjahr Amerikas ersten „pazifischen Präsidenten“ und verkündete im Dezember 2011 eine Neuausrichtung der US-Außenpolitik auf Ostasien (pivot to Asia). Auch die Bush-Regierung sah China als künftigen Kontrahenten und begann Strategien zu entwickeln, um dem Aufstieg des Landes begegnen zu können. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Trump mitnichten die alleinige Ursache dieser jahrelang vorbereiteten außenpolitischen Umorientierung ist, erscheint die Hoffnung unrealistisch, ein Wahlsieg Joe Bidens würde die Aufmerksamkeit der USA wieder auf Europa richten und die Debatten der letzten Jahre über das transatlantische Verhältnis beenden. Unter Biden wäre der US-amerikanische Fokus auf China und der damit verbundene Bedeutungsverlust Europas nicht minder intensiv.
Vorbei sind die Zeiten, als die USA sich imstande sahen, gleichzeitig mehrere kostspielige Kriege zu führen und sich ein weltumspannendes Netz an US-Militärbasen zu leisten. Eine effizientere Nutzung militärischer Ressourcen schließt ein Überdenken bestehender Verpflichtungen mit ein. In seiner Rede vor Absolventen der US-Militärakademie in West Point betonte Trump vor einigen Tagen, dass es nicht die Aufgabe des US-Militärs sei, „fremde Nationen wiederaufzubauen“ und als „Weltpolizei“ zu agieren. Vielmehr sei die Landesverteidigung Hauptaufgabe der Streitkräfte.
Schon seit Jahren lässt Trumps Außenpolitik erkennen, dass weder die Verteidigung Europas noch das Weiterführen eines militärischen Engagements im Mittleren Osten zu seinen Prioritäten zählen. Um ein realistisches Bild über Trumps Beweggründe für den geplanten Truppenabzug aus Deutschland zu erhalten, muss man die Entscheidung der Trump-Regierung vor diesem Hintergrund betrachten. Anstatt das sinkende US-Interesse an Europa als eine Laune des amtierenden US-Präsidenten abzutun und darauf zu hoffen, dass sich unter seinem möglichen Nachfolger die transatlantischen Beziehungen bessern werden, sollte der außenpolitische Diskurs in Deutschland reifer werden und Pläne für die Zeit nach dem Rückzug der USA aus Europa entwickeln.