Das nukleare Abschreckungsverhältnis zwischen dem Westen und Russland wird zunehmend instabil. Getrieben von gegenseitigen Unsicherheitsbedenken suchen beide Seiten ihr Heil zunächst in der Aufrüstung. Problematisch dabei ist vor allem, dass die gegenseitigen Bedrohungsperzeptionen auf sehr unterschiedlichen militärischen Ebenen angesiedelt sind. Gleichzeitig droht das komplette Versagen der klassischen nuklearen Rüstungskontrolle.
Die russische Angst: strategische Instabilität
Die jüngste Rede Wladimir Putins zur Lage der Nation hat dreierlei sehr deutlich gemacht. Zunächst ist die russische Führung sehr besorgt über die strategische Raketenabwehr der USA. Diese speziell russische Paranoia reicht mindestens zurück bis in die Reagan-Jahre. Sie bekam enormen Auftrieb, als Washington 2001 aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehr (ABM) ausstieg. Auf russischer Seite mischen sich dabei stark irrationale Ängste vor der Entwertung der strategischen russischen Zweitschlagfähigkeit mit sehr realen Befürchtungen, dass die USA militärtechnisch noch weiter enteilen. Gleichzeitig unterstreicht Putins Rede, dass Russland umso stärker an den ultimativ friedenserhaltenden Impetus der nuklearen Abschreckung glaubt. Zu guter Letzt zeigt sich, dass Russland Nuklearwaffen bewusst als ausgleichendes Element wahrnimmt – ausgleichend vor dem Hintergrund des ansonsten sehr starken Machtungleichgewichts zwischen den USA und Russland. Russlands Sorgen sind zusammengefasst auf strategischer Ebene angesiedelt.
Die Angst der NATO: regionale Instabilität
Ganz anders bei der NATO und den USA. Jüngst veröffentlichte das Pentagon ein neues Richtlinienpapier zur nuklearen Strategie der USA: die „Nuclear Posture Review“. Darin macht Washington deutlich, dass es über das regionale und sub-regionale Ungleichgewicht in Osteuropa besorgt ist. Konkret sehen die USA, dass Russland auf taktischer Ebene quantitativ überlegen ist. Das ist zunächst einmal nichts Neues. Hinzu kommen Befürchtungen, dass Russlands vermutete Doktrin des „Eskalierens zum Deeskalieren“ Moskau einen entscheidenden Vorteil in einem regionalen Konflikt mit der NATO sichern könnte. Auch diese umstrittene, da unbewiesene Doktrin ist eigentlich nichts Neues.
Neu ist jedoch, dass die USA und die NATO Russland seit der Annexion der Krim und den russischen Einmischungen in den US-Wahlkampf als Rivalen und als „Herausforderung für die Allianz“ wahrnehmen. Neu ist auch, dass sich die NATO ernsthaft mit Verteidigungsszenarien im Baltikum auseinandersetzt. Und diese Verteidigungsszenarien kommen immer wieder zu einem sehr deutlichen Ergebnis: im Zweifel ließe sich das Baltikum nicht verteidigen. Auch deshalb schlägt die Nuclear Posture Review neue, see-gestützte taktische Nuklearwaffen vor.
Damit umgeht Washington potenziell schwierige und langwierige Diskussionen innerhalb der NATO. Gleichzeitig signalisieren die USA aber auch, dass sie wohl kein völliges Vertrauen in die in Europa stationierten nuklearen Systeme der NATO mehr haben. Beim anstehenden Gipfel der NATO im Juli 2018 in Brüssel wird sich zeigen, ob eine Mehrheit der Allianzmitglieder die amerikanische Risikobewertung teilt und einer Überarbeitung der momentan gültigen Verteidigungs- und Abschreckungsdoktrin zustimmt. Generell lässt sich zusammenfassen, dass die nuklearen Sorgen der USA und von Teilen der NATO vor allem auf regionaler und somit nuklear-taktischer Ebene zu finden sind.
Fehlende Kommunikation
Damit entwickelt sich gerade ein gegenseitiger starker Anreiz, in einen neuen Aufrüstungsprozess einzusteigen – aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedlicher militärischer Ebene. Ob den Seiten die jeweiligen Bedrohungsperzeptionen wirklich bewusst sind, ist anzuzweifeln. Westliche Befürchtungen, dass Russland das Baltikum angreifen könnte oder die NATO in einer Krise nuklear nötigen könnte, werden von russischer Seite häufig als ‚Panikmache‘ verunglimpft. Umgekehrt gilt, dass russische Befürchtungen im Hinblick auf die strategische Stabilität in den USA schon lange nicht mehr ernst genommen. Das Ausbleiben eines regelmäßigen strategischen Dialogs zu diesen Fragen erschwert die Lage zusätzlich. Missverständnisse und Fehlinterpretationen sind die Folge. Diese lassen sich in Friedenszeiten durchaus ertragen. Aber wie würde es in einer akuten militärischen Krise aussehen?
Das (mögliche) Ende der nuklearen Rüstungskontrolle
Wie bereits erwähnt, ist der ABM-Vertrag seit 2002 Geschichte. Doch nun droht einem weiteren extrem wichtigen Rüstungskontrollvertrag ebenfalls das Aus. Seit 2014 beschuldigen die USA öffentlich die russische Seite, den Vertrag über die Eliminierung landgestützter Mittelstreckenraketen (INF) zu verletzen. Lange Zeit galt INF als das Herzstück der europäischen Sicherheit. Konkret lautet der Vorwurf, Moskau habe einen verbotenen Marschflugkörper getestet und möglicherweise inzwischen auch stationiert. Falls dem so wäre, müsste man sich auf westlicher Seite fragen, gegen wen diese Raketen, die dann wohl ganz Europa erreichen könnten, gerichtet sind.
Russland kontert den amerikanischen Vorwurf mit eigenen Anschuldigungen. Am begründetsten erscheinen diese im Zusammenhang mit den US-betriebenen Raketenabwehrstellungen in Rumänien und Polen. Konkret fürchtet Moskau, dass es nur geringe technische Änderungen bräuchte, um diese defensiven Systeme in offensive Systeme für landgestützte Marschflugkörper umzuwandeln. Falls dem so wäre, käme die westliche Seite ihrerseits einer Vertragsverletzung sehr nah.
Versuche Washingtons, die Sache mit Moskau zu klären, haben bisher zu keinem greifbaren Ergebnis geführt. Unterdessen schreitet der US-Kongress mit seiner eigenen INF-Politik voran. Ende letzten Jahres erging der Auftrag an das Pentagon, ein militärisches Forschungs- und Entwicklungsprogramm im Zusammenhang mit INF zu initiieren. Was am Ende dieses Unterfangens steht, ist unklar. Man sollte jedoch keineswegs ausschließen, dass die USA letztlich offiziell aus dem Vertrag aussteigen und neue bodengestützte Marschflugkörper entwickeln. Sollte die momentane Krise mit Russland anhalten oder sich die Sicherheitslage in Europa weiter verschlechtern, wäre sogar eine erneute Diskussion über die Stationierung solcher Waffen in Europa denkbar. Der momentane Kurs, frei nach dem Motto ‚zurück in die Zukunft‘, könnte Europe wieder auf den Stand der frühen 1980er Jahre versetzen.
Die vielleicht schon letzte Hoffnung der Rüstungskontrollvertreter ist, dass zumindest der New-START-Vertrag zur Begrenzung strategischer Systeme zwischen den USA und Russland überlebt. Doch auch dessen Zukunft ist ungewiss. Im Jahr 2021 läuft der Vertrag aus. Scheinbar lehnt Donald Trump eine einmalige Verlängerung um fünf Jahre ab. Und das wohl hauptsächlich, weil New START eine Errungenschaft der Obama-Regierung ist.
Hinzu kommen nun erstmals öffentliche Bedenken aus Moskau. Jüngst bezichtigte Wladimir Ermakow, Direktor der Abteilung für Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle des russischen Außenministeriums, die USA indirekt des Vertragsbruchs. Eine Verlängerung von New START, so Ermakow, sei nur möglich wenn Washington wieder vollständig dem Geist und den Buchstaben des Vertrags entspreche. Wie es aussieht, hat Russland vor, die USA auch öffentlich des Vertragsbruchs zu bezichtigen. Sollte New START ohne Verlängerung oder Nachfolgeregime auslaufen, würde dies das Ende der bilateralen nuklearen Rüstungskontrolle bedeuten – ein Zustand, wie ihn die Welt das letzte Mal vor fast 50 Jahren erlebte.
Alte Probleme, neue Regeln?
Die neue Instabilität ist aus mehreren Gründen problematisch und bedarf dringend erneuter Regelungsansätze. Da wäre zunächst die sich abzeichnende Instabilität im Abschreckungsverhältnis zwischen dem Westen und Russland. Wie eingangs gesagt, die gegenseitigen Befürchtungen und Sorgen sind nicht symmetrisch auf gleicher Ebene verteilt. Positiv ist dabei jedoch, dass zumindest beide Seiten, wenn auch unterschiedlich gelagerte, so doch ernste Sorgen hegen. Das eröffnet, zumindest theoretisch, einen gewissen Spielraum für klassische Quid-Pro-Quo-Ansätze. Aber was hieße das konkret? Wäre es möglich, einen umfassenden Rüstungskontroll-Deal zu schmieden? Einen Deal, der die nuklear-taktische Überlegenheit Russlands – zumindest in Europa – gegen eine verbindliche Begrenzung oder Reduzierung amerikanischer Raketenabwehr eintauscht? Aus politischer und technischer Sicht sollte man mehr als skeptisch sein.
Statt eines großen Wurfs sollten sich die Seiten zunächst auf kleine Schritte verständigen. Da wäre zunächst die Wiederaufnahme des regelmäßigen amerikanisch-russischen Dialogs zur strategischen Stabilität. Dabei muss es dann auch um die Diskussion gegenseitiger Bedrohungsperzeptionen gehen. Besonders auf militärischer Ebene müssen reibungslose und permanent verfügbare Gesprächskanäle bereitstehen – dies ist besonders wichtig vor dem Hintergrund möglicher unbeabsichtigter Eskalation.
Darüber hinaus sollten beide Seiten im Bereich der Risikominimierung aktiv werden. Für Russland könnte das bedeuten, seine militärischen Hoch-Risikomanöver über der Ostsee oder dem Schwarzen Meer einzustellen. Für die NATO könnte es bedeuten, Staaten wie Polen oder die drei baltischen Mitglieder zu ermutigen, bilaterale Verträge mit Moskau zur Einhegung militärischer Zwischenfälle anzustreben. Die meisten NATO-Staaten unterhalten nämlich bereits entsprechende Abkommen mit Russland.
Auch beim Thema INF sind Lösungsansätze zumindest denkbar. Russland könnte durchaus Transparenz im Hinblick auf die westlichen Vorwürfe herstellen. Eine Demonstration des von amerikanischer Seite identifizierten Flugkörpers könnte Klarheit schaffen. Im Gegenzug könnte Washington Transparenz bei den in Polen und Rumänien stationierten Abwehrsystemen anbieten.
Mindestens ebenso wichtig wäre es, den drohenden Komplettverlust an gegenseitiger Transparenz und Überprüfbarkeit, sollte die bilaterale nukleare Rüstungskontrolle in ihrer Gesamtheit scheitern, offen anzusprechen. Schon zu lange wird auf beiden Seiten die Erosion der Rüstungskontrolle nur noch verwaltet. Und genau hier gilt es anzusetzen, und den sich verschärfenden Sicherheitsdilemmata Einhalt zu gebieten.
Teil eines solchen Ansatzes muss die Erkenntnis sein, dass es nicht an guten Vorschlägen mangelt. Was fehlt ist politischer Wille und – vielleicht sogar noch entscheidender – ein Mindestmaß an Respekt: Respekt in Bezug auf die Sicherheitsbedenken der jeweils anderen Seite; Respekt vor den inhärenten Risiken gegenseitiger nuklearer Abschreckung; aber auch Respekt vor den einhegenden und stabilisierenden Effekten der Rüstungskontrolle.