Debatten über Russland führen in Deutschland und Europa schnell zu einem ausgeprägten Lagerdenken. Auf der einen Seite finden sich diejenigen, die Sanktionen befürworten und Moskaus Einfluss eindämmen wollen. Die andere Seite möchte dem Kreml entgegenkommen und zielt darauf, einen neuen modus vivendi mit Putin zu finden. Beiden Positionen liegen allein taktische Überlegungen zu Grunde – wie lässt sich der Konflikt zwischen Russland und dem Westen neutralisieren? Eine durchdachte Strategie aber fehlt. Wie das Verhältnis zu Russland langfristig gestaltet werden sollte, wird nicht diskutiert.

So lange Wladimir Putin und seine Entourage an der Macht bleiben, sollten Deutschland und Europa sich auf weitere Jahre seiner heavy metal diplomacy (Mark Galeotti) einstellen. Gleichzeitig sollte der Westen sich darüber Gedanken machen, was nach Putin kommt. Denn Russland steckt augenscheinlich in einer Phase innenpolitischer Stagnation, die an den langen Herbst der Ära Breschnew in den 1970er Jahren erinnert. Die strukturelle wirtschaftliche Misere, der andauernde Krieg im Donbass, der Fall Skripal mit seinen absurden Kapriolen, die Proteste gegen die Rentenreform oder auch die jüngsten Wahlfälschungen im fernen Osten Russlands zeugen von der schwelenden Krise des autoritären Systems. Natürlich sollte man die Beharrungskraft des Regimes nicht unterschätzen. Doch seine Legitimität bröckelt. Es kann der russischen Gesellschaft nur noch wenig bieten. Es ist ungewiss, wie lange es stabil bleibt. Doch das historische Beispiel Breschnew zeigt: auf lange Jahre der Stagnation können in Russland schnelle Veränderungen folgen.  

Russland entscheidet sein Schicksal selbst. Traditionell hängt viel davon ab, welchen Kurs der Mann an der Spitze fährt. Doch nach Jahren der anti-westlichen Mobilisierung scheint diese Herrschaftsstrategie immer weniger zu verfangen. Durch die Wirtschaftskrise wächst die Unzufriedenheit der urbanen Eliten Russlands. In Ansätzen lässt sich die Rückkehr des politischen Pluralismus nach Russland beobachten. Deutschland und Europa müssen darüber nachdenken, wie sie die russische Gesellschaft erreichen können.

Michail Gorbatschows Versuch einer oktroyierten Zivilisierung der Sowjetunion ist gescheitert. Ihm fehlte für seine Reformen die gesellschaftliche Unterstützung. Aber die Liberalisierung und Demokratisierung Russlands und des post-sowjetischen Raums bleibt weiterhin im Interesse Deutschlands, der EU und nicht zuletzt der russischen Bürgerinnen und Bürger selbst. Dieses Ziel sollte auch politisch wieder handlungsleitend werden und gleichberechtigt neben die Eindämmung der Kremlpolitik treten.

Angesichts der globalen Krise der Demokratie ist es umso wichtiger, weiter auf die Strahlkraft freier Gesellschaften zu vertrauen.

Gesellschaftliche Veränderungen sind keine linearen Prozesse. Frankreich benötigte im 19. Jahrhundert mehrere Anläufe, um zu einer stabilen demokratischen Ordnung zu finden. Warum sollte es in Russland schneller gehen? Im post-sowjetischen Raum wiegt auch 100 Jahre nach Revolution und Bürgerkrieg das Erbe der Diktatur schwer. Dennoch lohnt es sich, die Kräfte zu unterstützen, die eine liberale Ordnung in Russland tragen können. Die Rückschläge seit den 1990er Jahren sollten nicht zu dem Trugschluss führen, in Russland sei nur autoritäre Herrschaft möglich. Es gibt keine Disposition zur Autokratie. Im Gegenteil: gerade vor dem Hintergrund der globalen Krise der Demokratie ist es umso wichtiger, weiter auf die Strahlkraft freier Gesellschaften zu vertrauen und ihre Unterstützer auch dort zu fördern, wo sie nicht an der Macht sind.

Konkret geht es darum, in die russische Gesellschaft zu investieren. Die Gesellschaft und die Wirtschaft, nicht der Staat und seine Strukturen können in Russland zivilen Wandel vorantreiben. Dabei sollte es nicht primär um die Unterstützung der kleinen, politischen Opposition gehen, sondern darum, eine Vielzahl von Kanälen insbesondere, aber nicht exklusiv zu jungen Leuten aufzubauen. Schüler und Studierende sollten visafrei in die Europäische Union reisen können. Außerdem benötigen wir großzügigere Programme zum wissenschaftlichen und kulturellen Austausch – nicht nur mit Moskau und St. Petersburg, sondern mit allen Teilen des Landes. Unternehmer und Vertreter der lokalen Wirtschaft sollten zu Fortbildungen eingeladen werden und Journalisten den Arbeitsalltag im Westen kennenlernen. Kleinteilige Programme, individuelle Förderung und lokaler Austausch sind dabei wichtiger als das Schaulaufen beim sog. „Petersburger Dialog“. Zugleich geht es um mehr als nur bilaterale Kontakte zwischen Deutschen und Russen. Die Fußball-Weltmeisterschaft hat gezeigt, wie groß das Interesse russischer Bürger an Kontakten mit Europa und der Welt ist. Hier gilt es anzusetzen. Es ist das Ziel, eine Generation zu fördern, die Europa nicht fürchtet, sondern kennt und die sich selbst als Europäer begreift. Die Bemühungen um die westdeutsche Jugend nach 1945 können hier als Vorbild dienen. Der gesellschaftliche Austausch mit Russland und den anderen Staaten des post-sowjetischen Raums sollte eine Priorität werden.

Berlin und Brüssel sollten sich auf eine Russlandstrategie verständigen, die über den Tag hinaus denkt. Dabei sollte auch die politische Elite im Blick behalten werden. Noch ist sie zur Konformität gezwungen. Doch aus dem Dunkel der Breschnew-Zeit tauchten zu Beginn der 1980er Jahre Michail Gorbatschow und seine Mannschaft auf. Damals waren die westlichen Staaten weitgehend unvorbereitet. Es ist in deutschem und europäischem Interesse, den gegenwärtigen Tiefpunkt der Beziehungen zu Russland nicht zum Normalzustand zu erklären. Die derzeitige Krise wurde durch konkrete Entscheidungen der russischen Führung herbeigeführt. Noch braucht das Regime den Konflikt mit dem Westen zur eigenen Legitimation. Doch alternative Szenarien sind denkbar und in den kommenden Jahren wahrscheinlich. Auf Russlands inneren Wandel sollten wir hoffen und ihn behutsam durch eine umsichtige Politik unterstützen.