Als 1989 die Berliner Mauer fiel und sich damit die Möglichkeit der deutschen Vereinigung auftat, sahen Frankreich und Großbritannien ahnungsvoll Probleme auf sich zukommen. François Mitterand äußerte seine Bedenken angeblich mit der scherzhaften Bemerkung, er liebe Deutschland so sehr, dass er gern zwei davon habe.Unter den europäischen Bündnispartnern Deutschlands ging die die Angst um, das neue, mächtigere Deutschland würde aus den Zwängen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und NATO ausbrechen und einen unabhängigen Kurs einschlagen, der seinen eigenen Interessen besser dient. Vor allem wurde befürchtet, Deutschland könne mit Russland einen strategischen Pakt schließen, um den Frieden in Europa ohne die Amerikaner und zulasten des Westens zu sichern.

Mit Unterstützung der Russen und Amerikaner ließ sich Helmut Kohl die Gelegenheit nicht entgehen und begann schnurstracks, auf die Wiedervereinigung hinzuwirken. Doch an der festen Verankerung Deutschlands mit den anderen Mitgliedstaaten der EWG und NATO wollte er nicht rütteln.

Als Deutschland nach der Vereinigung die Hauptstadt von Bonn nach Berlin verlegte, in die Stadt im Osten, in der die deutsche Nation geschmiedet wurde, brachten die Bündnispartner erneut ihre Sorgen zum Ausdruck. Jetzt fürchteten sie, in Deutschland könne sich ein Wechsel der politischen Kultur anbahnen, nämlich die Abkehr vom westlichen Liberalismus und freien Denken und die Hinwendung zu preußischer Militärtradition und sozialem Konservatismus.

Die größte Gefahr für das deutsche politische Denken geht nicht von seinen eigenen Traditionen aus, sondern von dem, was es kürzlich aus dem Westen entlehnt hat.

Auch diese Bedenken erwiesen sich als grundlos. Seither ist zu beobachten, dass die größere Gefahr für das deutsche politische Denken nicht von seinen eigenen Traditionen ausgeht, sondern von dem, was es kürzlich aus dem Westen entlehnt hat. Weit entfernt davon, zu preußischem Konservatismus und Militarismus zurückzukehren, ist Deutschland vielmehr in den Bann der neuesten Tendenzen politischer Korrektheit geraten, die von Brüssel vorgegeben werden. Deutschland hat nicht nur den gemeinschaftlichen Besitzstand an EU-Recht vollständig übernommen, sondern auch die EU-Mythologie. Damit sind vor allem die universellen Werte gemeint. Sie dienen als Deckmantel, unter dem sich nationaler Egoismus verbergen lässt. Die Unterstützung universeller Werte stärkt dabei auch das Gefühl der Selbstgerechtigkeit, die wiederum ein probates Gegenmittel gegen die Sünden der Vergangenheit ist.

 

Der Katechismus der säkularen Euro-Religion

Beide Parteien der deutschen Regierungskoalition, die den Großteil des politischen Establishments des Landes ausmachen, begeistern sich für die säkulare Religion, die sich in den europäischen Institutionen festsetzt. Man kann dieses Phänomen getrost als Religion bezeichnen, denn es beruht auf unbewiesenen Postulaten, die bei den frommen Gläubigen als die höchste Wahrheit gelten.

Der erste Artikel des heutigen Katechismus lautet, dass Außenpolitik auf demokratischen Werten und Menschenrechten sowie auf Rechtsstaatlichkeit beruhen müsse. Es sei bestenfalls veraltet und schlimmstenfalls unmoralisch, Außenpolitik auf nationalen Interessen zu gründen. Ein weiterer Glaubenssatz ist, dass autoritäre Regime nicht in Frieden mit demokratischen Nationen leben könnten. Das sei so, weil autoritäre Regime zwangsläufig reizbar seien. Sie hätten keinen Rückhalt im Volk und wenn sie von den einheimischen Oppositionsparteien angegriffen würden, müssten sie die Aufmerksamkeit von sich ablenken, indem sie Feinde im Ausland erfinden, Aggressionsakte verüben, die zu internationalen Spannungen führen und mit einer Isolierung von der übrigen Welt einhergehen.

Diese Theoreme fördern unter Berufung auf anerkannte Werte eine aktive Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sie heute ausgerechnet in Deutschland geachtet und angewandt werden – dem Schlachtfeld des 30-jährigen Krieges. Mit dem äußerst destruktiven Krieg wollten die gegenreformatorische katholische Kirche und ihre imperialen Beschützer den protestantischen Ländern einen Regimewechsel aufzwingen. Und zwar im Namen universeller Werte. Der Westfälische Friede, der die heutigen europäischen Beziehungen zwischen souveränen Nationalstaaten etablierte, sollte Anmaßungen dieser Art eigentlich aus der Welt schaffen. Bis jetzt.

Die Frage der deutschen politischen Korrektheit ist bei jeder Erörterung der gegenwärtigen Ost-West-Konfrontation über die Ukraine relevant. Denn die zuvor genannten Glaubenssätze im deutschen Mainstreamdenken dienen als Rechtfertigung dafür, mit Moskau zu brechen, das Weiter-wie-bisher mit einem Regime zu beenden, das schlechte Noten in Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit erhält. Das vermeintlich autoritäre Regime von Wladimir Putin wird dabei als Lehrbuchfall von Aggressionen im Ausland ausgegeben. Nach Ansicht des politischen Establishments in Brüssel und Berlin werden die Einverleibung der Krim und die Unterstützung der Separatisten im Donbass von Putin und seinem Gefolge instrumentalisiert, um die Nation hinter sich zu bringen.

Mit der Zeit hat der Umzug der Bundeshauptstadt, die sich nun in unmittelbarer Nachbarschaft von Polen befindet, die deutsche Einstellung zu Russland weiter verschlechtert, was letztendlich neben anderen Faktoren dazu beitrug, die Krise in und um die Ukraine zu provozieren.

Es geht darum, zwischen den konkreten Auswirkungen der Förderung von Demokratie und den Geboten der Vernunft einer Realpolitik abzuwägen.

In den letzten 25 Jahren entwickelten sich enorme wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Deutschland und den neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten, insbesondere mit Polen. Die wirtschaftlichen Vorteile dieser Integration könnten sich als sehr viel einträglicher erweisen als die strategische Partnerschaft mit Russland, von der Deutschland sich gerade dank seiner Führungsrolle bei den EU-Sanktionen verabschiedet. Die wirtschaftliche Integration wurde und wird durch politisches Entgegenkommen erleichtert. In den letzten Jahren hat sich die Beziehung zu Polen gewandelt: von der großen Spannung, als die Kaszynski-Brüder noch an der Macht waren, hin zu einem herzlichen Umgang mit der Regierung von Donald Tusk, was auf politische Zugeständnisse auf beiden Seiten zurückzuführen ist.

Zu dem politischen Entgegenkommen gehört auch, dass Deutschland in Bezug auf die revanchistischen Einstellungen der östlichen Nachbarn gegenüber Russland ein Auge zudrückt. So hat Deutschland beispielsweise ein bei weitem offeneres Ohr für die hysterischen Warnungen aus Warschau, Vilnius und Riga vor einer russischen Bedrohung als Frankreich, Italien und andere Gründungsmitglieder der EU. Das ist umso bedeutsamer, als Deutschland all die EU-Institutionen kontrolliert, in denen jetzt die von Deutschland nominierten und unterstützten Kandidaten an der Spitze stehen: vom Europäischen Rat über Kommission und Parlament bis hin zum Vorsitzenden des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten.

Abschließend sei gesagt, dass es für Deutschland höchste Zeit ist, eine Bestandsaufnahme seiner aktuellen politischen Korrektheit vorzunehmen. Es geht darum, zwischen den konkreten Auswirkungen der Förderung von Demokratie und den Geboten der Vernunft einer Realpolitik abzuwägen, einer Herangehensweise an internationale Beziehungen, die Deutschland selbst initiiert hat. Universelle Werte lassen keinen Kompromiss zu und verweigern der Diplomatie den ihr gebührenden Platz. Universelle Werte werden per Diktat durchgesetzt. Eine solche politische Korrektheit kann unausweichlich zu einem neuen Weltkrieg führen.