Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.
Zwei krisenhafte Entwicklungen bedrohen derzeit die Menschheit buchstäblich in ihrer Existenz: die Klimakrise und ein möglicher Nuklearkrieg. Über die Dramatik des Klimawandels besteht weitgehend Einigkeit, wenn auch eine Lösung des Problems ungeachtet der Beteuerungen vieler Regierungen absolut nicht in Sicht ist. Doch die Debatte um das Klima wird immerhin lebhaft geführt und zahlreiche Demonstrationen gegen klimaschädliche Politik begleiten diesen Prozess.
Das Risiko nuklearer Katastrophen dagegen ist weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Friedensbewegung und das Ende des Kalten Krieges führten zwar zu einer temporären Umkehr; diese aber ist längst wieder einer Aufrüstung bislang ungekannten Ausmaßes gewichen. Zwar ist die Zahl der Atomsprengköpfe von über 70 000 am Ende des Ost-West-Konfliktes auf heute unter 14 000 gesunken – mehr als genug noch immer, um den Globus vielfach zu verheeren. Doch vor allem die Modernisierung der Waffen in den USA, China und Russland sowie die Atomambitionen von Ländern wie Israel, Nordkorea, Indien und Pakistan erhöhen das Risiko eines bewaffneten Konfliktes und des möglichen Einsatzes von Atomwaffen.
Die Militärausgaben steigen rasant und haben heute mit mehr als 1 800 Milliarden US-Dollar jährlich das Niveau in der Endphase des Kalten Krieges um mehr als 50 Prozent überschritten. Wohin soll es führen, wenn in einer solchen Situation in der NATO weitere Erhöhungen gefordert werden, China global mithalten will, Russland aggressiv in Teilen seiner Nachbarschaft auftritt, Indien auf China reagiert und die Saudis ebenso wie Iran im Mittleren Osten das Wettrüsten anheizen?
Geopolitisch ambitionierte Mächte wie China, Indien oder Saudi-Arabien müssen in die Bemühungen zur Rüstungskontrolle eingebunden werden. Als entsprechendes Forum bieten sich die G20-Gipfeltreffen quasi „naturgegeben“ an.
Zwischen Klima- und Rüstungspolitik bestehen Zusammenhänge, die sich am deutlichsten in den Kriegen und gewaltsamen Konflikten der letzten Jahrzehnte, den Fluchtbewegungen, Migrantenströmen und entsprechenden Gegenreaktionen niederschlagen. Obwohl die Risiken des Klimawandels und der Aufrüstung bekannt sind, ist derzeit keine Umkehr des Trends in Sicht. Die beiden Krisen steuern auf eine scheinbar unabweisbare Katastrophe zu, die an das Bild der Lemminge und ihren Sturz in den Abgrund erinnert. Nachdem die alte Weltordnung mit einem halbwegs funktionierenden Multilateralismus, mit Kompromissen und einem Geben und Nehmen abgelöst wurde durch nationalistische Bestrebungen und die rücksichtslose Verfolgung vermeintlicher Eigeninteressen, werden Klimaabkommen in Frage gestellt und sogar aufgekündigt, Rüstungskontrollforen und entsprechende Verträge geschliffen.
Zweifellos sind die in den 1980er und 1990er Jahren wirksamen Rüstungskontrollverträge zwischen den beiden damaligen Hauptkontrahenten Sowjetunion bzw. Russland und den USA inzwischen aus der Zeit gefallen. Heute geht es nicht mehr um einen Systemantagonismus, vielmehr bedroht der ungehemmte Rüstungswettlauf die gesamte Menschheit. Deshalb müssen geopolitisch ambitionierte Mächte wie China, aber auch Indien oder Saudi-Arabien in Rüstungskontrollbemühungen eingebunden werden, um die Katastrophentrends umzukehren.
Als entsprechendes Forum bieten sich die G20-Gipfeltreffen quasi „naturgegeben“ an. Die 19 G20-Mitgliedsländer und die EU sind für 82 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Fast der gesamte Rüstungsexport entfällt auf die G20 und 98 Prozent der Atomsprengköpfe lagern in ihren Arsenalen. Die geopolitischen Interessen, die in Europa, in Südostasien und im Mittleren Osten für Aufrüstungsbestrebungen oder gar Rüstungswettläufe sorgen, bündeln sich in den G20.
Ebenso sind die Mitglieder dieses exklusiven Clubs die Hauptverursacher des Klimawandels. Auch die Klimawandel-Leugner findet man hier. Die 19 Mitglieder USA, Kanada, Brasilien, Argentinien, Mexiko, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland, Türkei, Südafrika, Saudi-Arabien, Indien, China, Japan, Indonesien, Südkorea und Australien tragen die Hauptverantwortung für die aktuellen Katastrophentrends.
Möglicherweise ist der Mangel an öffentlichkeitswirksamen Protesten gegen die derzeitige Aufrüstung ein Grund für das Fehlen von Abrüstungs- und Rüstungskontrollforen.
Doch warum steht bei den regelmäßigen Treffen der G20 nie das Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle auf der Agenda? Wie kann man die Lemminge zu Einhalt und Umkehr bewegen? Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten: Wissenschaftlich fundierte Risikoanalysen - also der Appell an die Vernunft -, öffentlicher Druck und das Beharren auf den eigenen Werten, vor allem die Einhaltung von Menschenrechten und des Völkerrechts, auch wenn es Gegenwind gibt.
Die Vorlage wissenschaftlicher Analysen und öffentlicher Druck werden derzeit als Reaktion auf die Klimakrise praktiziert. Die überwältigende Zahl wissenschaftlicher Studien hat aufgezeigt, wo und wie angesetzt werden muss, um die Trendumkehr einzuleiten. Doch erst seit die „Fridays for future“-Bewegung an Schwung zunimmt und sich die wissenschaftlichen Warnungen und der populäre Protest zu einer unüberhörbaren Bewegung kombinieren, beginnen Regierungen - wenn auch längst nicht alle -, ernsthaftere Maßnahmen zu ergreifen.
Möglicherweise ist der Mangel an öffentlichkeitswirksamen Protesten gegen die derzeitige Aufrüstung ein Grund für das Fehlen von Abrüstungs- und Rüstungskontrollforen. Die Ursachen und Gefahren gewaltsamer Konflikte, die schädlichen Nebenwirkungen von Rüstungsexporten und die vorhandene Gefahr eines Nuklearkrieges sind in zahlreichen Studien erforscht und belegt. Dennoch ist die Rüstungskontrolldynamik aus den 1990er Jahren dahin. Es fehlt den wissenschaftlichen Analysen zu den Kriegsgefahren, den politischen und ökonomischen Warnungen vor weiterer Aufrüstung schlicht die öffentlichkeitswirksame Unterstützung der Friedensbewegung.
Adressat einer solchen Protestbewegung sollten die G20 sein. Beim nächsten Jahrestreffen im November 2020 in Saudi-Arabien wird sich nur dann etwas zum Besseren wenden, wenn die dort versammelten Verursacher der Krise den lauten Ruf einer Protestbewegung deutlich zur Kenntnis nehmen müssen. Mit dem Appell „Rüstet die G20 ab!“ sollten endlich die Hauptverursacher für Klima- und Rüstungskrise aufgerüttelt werden.
Dazu gehört es auch, in diesem zerstrittenen Kreis an den genannten Werten festzuhalten. Wenn europäische Staaten weiterhin Ländern wie der Türkei und Saudi-Arabien Waffen liefern und Leisetreterei gegenüber Menschenrechtsverletzungen etwa in China praktizieren, ist kaum auf zukunftsorientierte Beschlüsse in dem G20-Gremium zu hoffen. Lediglich Lippenbekenntnisse zu den europäischen Werten, gepaart mit der Angst, die Geschäfte einiger Rüstungsfirmen, Ölkonzerne und Autobauer zu gefährden, reichen nicht aus, um die menschheitsgefährdenden Katastrohen zu verhindern.