In der deutschen Debatte geht es bei der Frage, wie auf ein revisionistisches Russland zu reagieren ist, vor allem darum, wie Abschreckung, Verteidigung und die Unterstützung der Ukraine besser organisiert werden kann. Das ist wichtig, um die Ukraine zu schützen und Russland von weiterer Aggression abzuhalten. Allerdings berücksichtigt die Debatte eine mögliche militärische Eskalation wie auch weitere unbeabsichtigte Folgen der Zeitenwende zu wenig. Deutschland braucht eine breitere politische und öffentliche Diskussion über Risikomanagement.

Das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen besagt, dass jede Handlung mehrere Effekte hat. Allerdings werden unbeabsichtigte Folgen wahrscheinlicher, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen. Unterstützer der Ukraine sollten die beabsichtigten (positiven) Effekte von Strategien gegen Russland gegen unbeabsichtigte (negative) Effekte abwägen. Schließlich gibt es mindestens fünf Gründe, warum die Zeitenwende unbeabsichtigte Folgen hat oder haben wird.

Putin ist entschlossen und in der Lage, einen langen Krieg zu führen, während die Ukraine weiter um ihr Überleben kämpfen wird.

Erstens: Wenn die Unsicherheit groß ist, steigt die Wahrscheinlichkeit unbeabsichtigter Folgen. Richtet Russlands Großmachtstreben sich auch auf die baltischen Staaten oder die Moldau? Wann ist der Punkt erreicht, an dem Putin die Stabilität des Regimes gefährdet sieht? Der Versuch, Absichten aus der vergangenen russischen Politik oder vermuteten Interessen des Kremls abzuleiten, ist problematisch. Einige Forschungsergebnisse lassen Zweifel an Putins Rationalität aufkommen oder legen nahe, dass Russland Statusgewinne höher gewichtet als Stabilität.

Zweitens: Putin ist entschlossen und in der Lage, einen langen Krieg zu führen, während die Ukraine weiter um ihr Überleben kämpfen wird. Ihre Unterstützer werden vermutlich Wege suchen und finden, um Kiew auch im Falle einer zweiten Trump-Präsidentschaft mit Militärhilfe beizustehen. Sie sollten das auch tun. Doch je länger der Krieg andauert, desto wahrscheinlicher werden ungewollte Auswirkungen, weil es vermehrt zu Zwischenfällen kommen kann, die außer Kontrolle geraten.

Drittens: Die geografische Nähe bringt Risiken mit sich. Entlang der Ostgrenzen der NATO – beispielsweise im Ostseeraum – operieren NATO-Truppen und russische Streitkräfte raumnah. Schon vor dem 24. Februar 2022 bestand die Gefahr, dass die Situation eskalieren könnte. Der Einmarsch Russlands und die Reaktionen der NATO haben neue Eskalationsszenarien geschaffen.

Viertens: Der Ukraine-Krieg findet in einem komplexen internationalen System statt, und Systemeffekte entfalten sich nicht linear und sind deshalb nicht berechenbar. Die westlichen Staaten stehen nicht nur Russland gegenüber, sondern globalen Machtverschiebungen, Populisten im Inland und dem Klimawandel. Die Unterstützung der Ukraine beeinflusst Möglichkeiten, diesen und weiteren Herausforderungen zu begegnen.

Viele in der pro-ukrainischen Allianz sind risikotolerant.

Fünftens: Viele in der pro-ukrainischen Allianz sind risikotolerant. Vor allem die militärisch exponierten östlichen NATO-Mitglieder gehen davon aus, dass Russland nur Stärke versteht, und schließen daraus, sie hätten bei einem vorsichtigen Risikomanagement mehr zu verlieren als zu gewinnen. Litauen wollte den Transit russischer Güter nach Kaliningrad blockieren und befürwortete Macrons Gedankenspiele, NATO-Bodentruppen in die Ukraine zu schicken. In Deutschland werden Stimmen, die auf Risiken hinweisen, nicht selten als Opfer Putinscher Angstmacherei bezeichnet. Der in der deutschen Debatte gängige Begriff der „Selbstabschreckung“ verdeutlicht diese Tendenz. Politiker scheuen eine breitere Debatte womöglich auch deswegen, weil sie befürchten, dies könnte dazu führen, dass die Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine bröckelt, da die Wählerschaft die Kosten eines langen Krieges vielleicht nicht akzeptiert.

Die genannten Faktoren können eine Vielzahl unbeabsichtigter Folgen haben. Deutschland und seine Verbündeten sollten zumindest den folgenden sechs nicht-intendierten Konsequenzen mehr Bedeutung beimessen. Zum einen sollte genauer erörtert werden, welche Umstände zu einer militärischen Eskalation führen könnten. Dass der Einsatz von Atomwaffen kein Hirngespinst ist, unterstreichen aktuelle Berichte, wonach die US-Geheimdienste im Herbst 2022 die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Atomwaffen im Falle eines ukrainischen Durchbruchs auf die Krim auf 50 Prozent schätzten.

Auch sollten die Opportunitätskosten einkalkuliert werden. Die wirtschaftlichen Kosten des Krieges sind bereits jetzt enorm. Wenn sich der Krieg in die Länge zieht, ist dies erst der Anfang. Wird in Abschreckung, Verteidigung und die Unterstützung der Ukraine investiert, reduziert dies Investitionen in Zukunftstechnologie oder öffentliche Infrastruktur. Die potenziellen Profiteure sind der Wettbewerber China und – im deutschen Kontext – die AfD.

Außerdem lähmt die Konfrontation mit Russland multilaterale Institutionen und damit einen wichtigen Multiplikator der deutschen Außenpolitik. Die OSZE zum Beispiel hatte darunter zu leiden, dass Russland wichtige Entscheidungen mit seinem Veto blockiert. Aus Kreml-Logik reagierte Russland dabei auf den Versuch des Westens, Russland innerhalb der Organisation zu isolieren. Zudem wird es immer komplizierter, in wichtigen Fragen zusammenzuarbeiten. Das zeigt sich unter anderem daran, wie schwierig es geworden ist, die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels im Rahmen der OSZE zu thematisieren. Vereinbarungen zwischen der EU und Russland, mit denen der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung begegnet werden sollte, liegen auf Eis.

Die Debatte in Deutschland sollte auch die mögliche Überforderung der EU stärker in den Blick nehmen. Die Ukraine wird weiter enorme Summen an EU-Geldern für Stabilisierung und Wiederaufbau benötigen. Das wird die Geschlossenheit einer EU, in der die Interessen zunehmend auseinanderdriften, auf eine harte Probe stellen. Die größte Unbekannte ist jedoch die Frage, ob die Ukraine den EU-Besitzstand umsetzen wird. Hat sich das politische System der Ukraine so stark verändert, dass sie die personalisierte, auf Seilschaften basierende Regierungsführung früherer Zeiten hinter sich lassen kann? Forscher, die schon in der Vergangenheit auf eine solche klientelistische Politik hingewiesen haben, hoben in jüngster Zeit den Selenskyj-Effekt hervor – die transformative Kraft einer neuen Generation unter einer neuen Führungsfigur. Der erfolgreiche Auf- und Ausbau demokratischer Institutionen ist jedoch kein Selbstläufer, wie Berichte über fortbestehende autoritäre Praktiken zeigen. Aufgrund ihrer Größe und der Erbschaften des Krieges wird die Ukraine Probleme früherer EU-Erweiterungsrunden in den Schatten stellen.

Auch die unbeabsichtigte Stärkung der Autokratie ist Teil der Zeitenwende. Die Bemühungen Deutschlands und anderer westlicher Staaten, Russland zu isolieren, führen zu einem engeren Schulterschluss mit Autokratien. Deutschland kauft beispielsweise mehr Öl und Gas von den Golfstaaten, und die EU bezieht mehr Gas aus Aserbaidschan. Dadurch wird es für die EU schwerer, Handelsabkommen an die Einhaltung der Menschenrechte zu knüpfen. Diese Realpolitik nährt den Vorwurf, der Westen messe mit zweierlei Maß.

Deutschland braucht eine politische und öffentliche Debatte über unbeabsichtigte Folgen der Zeitenwende.

Schließlich kann die Kappung der Beziehungen zu Russland dazu führen, dass sich die vom Kreml geschaffene Belagerungsmentalität in Russland verfestigt. Die Bewohner der russischen Exklave Kaliningrad etwa reisten früher häufig nach Polen und in andere Länder. Jetzt verbringen sie mehr Zeit in anderen Teilen Russlands, während Polen seinen Grenzzaun mit Kaliningrad verstärkt. Je mehr Russland von der Außenwelt abgeschnitten ist, desto geringer werden langfristig die Aussichten, dass sich Alternativen zum jetzigen revisionistischen Narrativ entwickeln.

Solange der Kreml weiter imperial handelt, werden Abschreckung und Verteidigung gegen Russland richtigerweise die sicherheitspolitische Praxis und die entsprechenden Diskurse der westlichen Verbündeten bestimmen. Doch die Zeitenwende muss auch versuchen, katastrophale unbeabsichtigte Folgen abzuwenden und diejenigen unbeabsichtigten Folgen, die sich nicht vermeiden lassen, abzumildern. Risikomanagement hat nichts mit Feigheit zu tun. Wie Risikomanagement konkret aussehen sollte hängt davon ab, um welches Problem es geht. Was die militärische Eskalation betrifft, stehen Befürworter eines schrittweisen Vorgehens wie Bundeskanzler Olaf Scholz massiv in der Kritik. Zwar lassen sich die aktuellen Probleme der Ukraine auf dem Gefechtsfeld auch dadurch erklären, dass nicht genug und nicht die richtigen Waffensysteme geliefert wurden. Das Argument, das schrittweise Vorgehen trage zur Eskalationsverhinderung bei, ist aber auch nicht von der Hand zu weisen.

Im Nebel des Krieges, im Kontext großer Unsicherheit, gibt es keine einfachen Lösungen, sondern nur Risiken und Zielkonflikte. Deutschland braucht eine politische und öffentliche Debatte über unbeabsichtigte Folgen der Zeitenwende – eine Debatte, die sich auf Ungewissheiten und Komplexität einlässt und in der die Beteiligten ihre Annahmen offenlegen und hinterfragen. Da der von X und Talkshows geprägte Zeitgeist (pseudo-)markige Sprüche begünstigt, wird das freilich ein schwieriges Unterfangen.