Russland und die Türkei verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, die mehr von Kriegen als von friedlicher Koexistenz bestimmt war. Die heutigen bilateralen Beziehungen zwischen Ankara und Moskau basieren maßgeblich auf den persönlichen Beziehungen zwischen den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin. Eine privilegierte Partnerschaft, die seit mehr als 20 Jahren sowohl von Höhen und Tiefen als auch von Machtambitionen und politischem Kalkül geprägt ist.

Bereits vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine äußerte die Türkei gegenüber ihren NATO-Bündnispartnern und der Europäischen Union ihre Bedenken hinsichtlich der Effizienz und Umsetzbarkeit der westlichen Sanktionen gegen Russland. Präsident Erdoğan sprach sich gegen die Sanktionierung aus, da diese für den Friedensprozess in der Ukraine nicht zielführend seien und die Volkswirtschaften schädigten. Obwohl die Türkei auch sehr gute Beziehungen nach Kiew pflegt, lehnte sie eine Beteiligung an den westlichen Sanktionen ab und beschränkte sich lediglich auf die Schließung der Meerengen für alle ausländischen Kriegsschiffe und auf die Sperrung des Luftraums für russische Flugzeuge nach Syrien. Der Flugverkehr zwischen Istanbul und Moskau wurde jedoch weiterbetrieben und hat sich seit Kriegsbeginn mehr als verdreifacht. Der Ukraine-Krieg hat die geopolitische Bedeutung der Türkei auf eine neue Ebene gehoben, die es Ankara nun ermöglicht, neue politische Konstellationen zur Erweiterung der eigenen Einflusssphäre aufzubauen.

Der Blick nach Russland zeigt: Der Zusammenbruch des Finanz- und Wirtschaftssystems durch den Ausschluss Moskaus aus dem internationalen Zahlungsverkehr SWIFT ist nicht erfolgt. Russlands Exportüberschuss hat sogar die eigene Währung weiter gestärkt und für 2024 prognostiziert der Internationale Währungsfonds Russland ein Wirtschaftswachstum von 2,1 Prozent. Der Abzug westlicher Unternehmen hat schließlich dazu geführt, dass Firmen aus China und der Türkei in das entstandene Vakuum vorstießen. Die Abkehr des Westens von russischen Gas- und Öllieferungen hat die Türkei zudem in die Position versetzt, zum europäischen Energie-Drehkreuz für Öl- und Gaslieferungen aus Aserbaidschan, Irak, Iran und Russland zu werden.

Für viele Entwicklungsländer ist der Erwerb der türkischen Kampfdrohnen eine lukrative Alternative zu westlichen Waffensystemen.

Die Importe in die Türkei stiegen im Jahr 2022 mit einem Wert von 363,71 Milliarden US Dollar um insgesamt 34 Prozent an, wovon Waren im Wert von 58,85 Milliarden US-Dollar aus Russland bezogen wurden. Türkische Exporte insgesamt erreichten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mit einem Wert von 254,17 Milliarden US-Dollar eine Steigerung um 12,9 Prozent. Russland wurde für die Türkei zum wichtigsten Importland, gefolgt von China und Deutschland. Die Weigerung Ankaras, sich an den westlichen Sanktionen gegen Moskau zu beteiligen, hatte zudem einen starken Zustrom russischer Unternehmen in die Türkei zur Folge.

Trotz der engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland, konnte die Ukraine 2022 hauptsächlich durch türkische Waffenhilfe ihren Widerstand aufbauen und so russische Offensiven im Osten des Landes sowie gegen die Hauptstadt Kiew erfolgreich zurückschlagen. Ankara lieferte der ukrainischen Armee über 200 BMC-Kirpi-Panzerfahrzeuge sowie vier Korvetten der türkischen Ada-Klasse. Eine große Bedeutung hatten auch die Kampfdrohnen des Typs Bayraktar TB2, da sie effektiv moderne Luftverteidigungssysteme und gepanzerten Fahrzeuge neutralisierten. Für viele Entwicklungsländer ist der Erwerb der türkischen Kampfdrohnen eine lukrative Alternative zu westlichen Waffensystemen. Seit 2016 wurde die Bayraktar TB2 in über 20 Länder exportiert. Ihr erfolgreicher Einsatz im Libyen-Krieg und im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien im Jahr 2020 um die Enklave Berg-Karabach haben der türkischen Kampfdrohne zu großer Popularität verholfen.

Putins Drohgebärden gegen die Waffenlieferungen ließ der türkische Präsident unterdessen ins Leere laufen: Man mache mit Kiew Geschäfte und habe keinen Einfluss darauf, wofür die Waffen eingesetzt würden. Moskau musste dies hinnehmen, da die Türkei als letzter westlicher Partner verblieb, um für Russland das Tor nach Europa offenzuhalten. Die NATO lobte zwar die türkische Waffenhilfe für die Ukraine, musste jedoch den türkischen Sonderweg mit Russland akzeptieren. Die Türkei lieferte bis dato nach offiziellen Angaben 50 Kampfdrohnen an Kiew, wohingegen Russland den Abschuss von insgesamt 130 Drohnen meldete. Obwohl die Bayraktar TB2 seit Februar 2022 für die ukrainische Armee große Erfolge verzeichnete, ist sie seit mehreren Monaten gänzlich vom Kriegsschauplatz verschwunden, da die russische Militärführung angesichts der Drohnengefahr ihre Luftverteidigungssysteme mithilfe iranischer Experten optimiert hat.

Der türkische Sonderweg ist das Ergebnis einer langen Kette von historischen Traumata.

Der türkische Sonderweg ist das Ergebnis einer langen Kette von historischen Traumata, die tiefe Spuren in der türkischen Gesellschaft hinterlassen haben und weit in die Geschichte zurückreichen. Ihr Ursprung liegt im Untergang des Osmanischen Reiches, jener letzten islamischen Großmacht, die mehr als 600 Jahre über drei Kontinente herrschte und nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1922 ihr Ende fand.

Der Untergang der Osmanen und der Verlust ihrer Großmachtstellung löste insbesondere in den konservativen und nationalistischen Teilen der türkischen Bevölkerung Sehnsüchte aus, ihrem Land einen neuen Rang in der Weltpolitik zu verleihen, der an den Glanz längst vergangener Epochen anknüpft. Die Furcht der Türkei vor territorialen Verlusten, fremder Finanz- und Wirtschaftskontrolle sowie Souveränitätsverlust und Aufteilungsängsten durch die Großmächte entspringen dem Trauma des osmanischen Untergangs, der bis heute die Politik in Ankara bestimmt.

Im Niedergangsprozess der Osmanen zählte Russland zu den Hauptakteuren. Die Zaren verfolgten seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine aggressive Expansionspolitik, die das Osmanische Reich mehrfach in seiner Existenz bedrohte: 1774 verloren die Osmanen die Krim an die Russen und somit die Vormachtstellung im Schwarzen Meer. Zwischen 1823 und 1856 drang Russland sowohl über den Balkan als auch über den Kaukasus vor, wurde jedoch letztlich im Krimkrieg durch eine europäische Allianz aus Engländern, Franzosen und Osmanen zurückgeschlagen. Nach dem Pariser Friedensvertrag von 1856 wurde Russland aus dem „Konzert der europäischen Großmächte“ verbannt und mit westlichen Sanktionen belegt, von denen sich Russland 1871 jedoch wieder befreien konnte.

Unterdessen beflügelte Russland die slawisch-orthodoxen Untertanen des Sultans auf dem Balkan in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen. Die darauf folgenden Aufstände ebneten den russischen Truppen den Weg vor die Tore Istanbuls. Damit drohte dem Osmanischen Reich 1878 der endgültige Kollaps. Nur durch eine internationale Konferenz unter der Führung von Fürst Bismarck in Berlin konnte der große europäische Krieg abgewendet und den russischen Ambitionen Einhalt geboten werden. Dieses Trauma von 1878 prägte ganze türkische Generationen über den Ersten Weltkrieg hinaus und wurde schließlich nach 1945 erneut befeuert, als Stalin Ansprüche auf die türkischen Ostgebiete erhob und somit erst den Beitritt der Türkei in die NATO im Jahre 1952 forcierte.

Trotz allem ist die Türkei zu einem unverzichtbaren Partner und Vermittler zwischen Ost und West geworden.

Die aktuelle türkische Außenpolitik pendelt viel, von der Europäischen Union und der USA auf der einen Seite hin zu Russland und China auf der anderen Seite, und orientiert sich an der Außen- und Sicherheitspolitik der Vorgängerregierungen der 1970er bis 1990er Jahre. Wenn nationale Sicherheitsinteressen durch westliche Bündnispartner kaum beachtet oder sogar ignoriert wurden, wandte die Türkei sich explizit dem sowjetischen Lager zu. Ob in der Zypernfrage, im türkisch-griechischen Inselstreit oder im Kampf gegen den kurdischen Terror – die Türkei behält es sich vor, über das westliche Bündnis hinaus Partner in der Welt zu haben, auf die sie notfalls zurückgreifen kann.

Der Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 markierte hierbei den Höhepunkt und löste eine handfeste Krise innerhalb der NATO aus, die bis heute nicht gelöst wurde. Trotzdem fühlt sich die Türkei insgeheim von Russland an drei Fronten bedroht und versucht durch verschiedene politische Formate die Großmacht so einzubinden, dass ihr wenig Handlungsspielraum bleibt, wie in den Konflikten um Libyen, Syrien oder im Kaukasus. Hierzu zählen das Astana-Format, wie die Dreierkonstellation aus Russland, dem Iran und der Türkei zu Syrien genannt wird, oder über die Organisation der Turkstaaten.

Trotz allem ist die Türkei zu einem unverzichtbaren Partner und Vermittler zwischen Ost und West geworden, wie aktuell der Ukraine-Krieg aufzeigt. Das Exportabkommen für ukrainisches Getreide von Juli 2022 und das Treffen der Führungsspitzen des amerikanischen wie russischen Geheimdienstes im November 2022 in Ankara verdeutlichen beispielhaft, dass die Türkei eine neue geopolitische Rolle anstrebt und auch bereit ist, den Weg ohne ihre westlichen Bündnispartner zu gehen.