Nach dem Zweiten Krieg um Bergkarabach im Jahr 2020 sind die 120 000 dort lebenden Armenierinnen und Armenier nur noch über eine schmale Straße im Latschin-Korridor mit der Außenwelt verbunden. Diese wichtige Lebensader wird nun schon seit dem 12. Dezember 2022 von selbsternannten Umweltaktivisten aus Aserbaidschan blockiert, die eine Überwachung der Bergbauförderstätten in Bergkarabach fordern. Seit mittlerweile über einem Monat wird die Lieferung von Versorgungsgütern behindert, die Ladenregale sind leer, Medikamente knapp und geplante Operationen auf unbestimmte Zeit verschoben. UNICEF warnt vor einer humanitären Notlage. Über den Status von Bergkarabach wird unter Vermittlung der Ko-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der OSZE aus Russland, Frankreich und den USA verhandelt.

Die nichtstaatliche Organisation Freedom House bewertet die politischen Rechte in Aserbaidschan mit 2 von 40 Punkten, die Versammlungsfreiheit mit 0 von 4. Im Jahr 2021 nahm das Land auf dem Index von Reporter ohne Grenzen Platz 167 von 180 ein. Seit 2009 schränken darüber hinaus drakonische Gesetze und harte Strafen die Handlungsfreiheit der Zivilgesellschaft massiv ein. Jeder echte Protest, egal wie intensiv oder umfangreich, wird im Lukaschenko-Stil verfolgt. Wie ist also die „Wiedergeburt“ der aserbaidschanischen Zivilgesellschaft im Latschin-Korridor zu erklären, zumal vor dem Hintergrund, dass Aserbaidschan seine eigenen Bürgerinnen und Bürger schon bestraft, wenn sie solche Gebiete auch nur ohne Sondergenehmigung betreten?

Investigative Reportagen haben enthüllt, dass die meisten an der Blockade Beteiligten tatsächlich mit NGOs assoziiert sind oder solche leiten – und dass alle auf der Gehaltsliste von Präsident Ilham Aliyevs Regierung oder seiner Partei stehen. Recherchen ergaben auch, dass der Transport in die Region und der Aufenthalt in Hotels von staatlichen Behörden organisiert werden. Dass sie sich dort aufhalten, erleichterte auch die Stationierung des aserbaidschanischen Militärs und der Polizei in dem schmalen, für die dort ansässige armenische Bevölkerung lebenswichtigen Korridor.

Aus den Parolen der „Aktivisten“ sind mittlerweile kriegstreiberische Slogans geworden. Echte Umweltaktivisten aus Aserbaidschan verurteilen die Blockierer als „Auftragskomparsen“, die noch nie zu drängenden ökologischen Fragen Stellung bezogen haben. So schreibt der aserbaidschanische Umweltschützer Cavid Qara: „Diese Leute haben sich nicht blicken lassen, als das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen Wälder, Nationalparks und Naturschutzgebiete verkaufen wollte, als das gesamte Eigentum des Ministeriums zum Verkauf stand, als Bulldozer durch die Wälder bretterten.“ Die Pelzmäntel und Ledertaschen der selbsternannten Umweltaktivisten sprechen für sich.

Echte Umweltaktivisten aus Aserbaidschan verurteilen die Blockierer als „Auftragskomparsen“.

Bei anderen angeblichen Demonstranten handelt es sich in Wahrheit um Regierungsangestellte – bis hin zu einem stellvertretenden Minister – und dem Militär nahestehende Personen. Auf den „Protesten“ tragen viele das Symbol der „Grauen Wölfe“, einer rechtsradikalen Terrororganisation, die mit türkisch-nationalistischen Parteien gemeinsame Sache macht und in europäischen Staaten verboten ist. Der Osteuropaexperte Tom de Waal bezeichnete die Demonstranten als die „aserbaidschanische Version der ‚kleinen grünen Männchen‘“.

Wenn wir es hier nicht mit einem Wiederaufleben des Aktivismus in einem diktatorischen Staat zu tun haben: Was ist es dann? Schon seit Monaten erfindet Aserbaidschan propagandistische Anlässe für Provokationen, um die Lebensader der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach zu durchtrennen. Mit militärischen Angriffen auf die Region im August und dem Eindringen in armenisches Hoheitsgebiet und dessen Besetzung im September 2022 wollte Aserbaidschan Armenien zwingen, einen Teil seiner südlichen Gebiete der exterritorialen Souveränität Bakus abzutreten – womit Armenien faktisch in zwei getrennte Hälften zerfallen wäre. Nach dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen müsste Aserbaidschan die sichere Durchfahrt durch den Latschin-Korridor garantieren, den es stattdessen bereits seit einem Monat blockiert.

Da die Militäroperation im September (unerwartet) auf internationale Kritik und (ebenso unerwartet) auf den militärischen Widerstand Armeniens stieß, änderte Aserbaidschan seine Taktik und versucht nun, sich den Korridor auf eine für den Westen eher akzeptable, „zivile“ Art einzuverleiben. Wenn Aliyev Druck macht, indem er eine humanitäre Katastrophe für die armenische Bevölkerung in Bergkarabach heraufbeschwört, so beweist er damit, welchen Schaden er anzurichten bereit ist, um sein Ziel zu erreichen. Die langfristige Strategie dieser Operation könnte darin bestehen, den dort lebenden Armenierinnen und Armeniern den freiwilligen Wegzug aus Bergkarabach als einzige sichere Option zu vermitteln – in der Praxis wäre das eine „ethnische Säuberung“. Die Betroffenen hoffen nun, dass die Welt das auch erkennt.

Russland, offiziell für die Sicherheit Bergkarabachs und des Korridors verantwortlich, hält sich in dieser Krise eher bedeckt. Das russische Außen- und das Verteidigungsministerium forderten offiziell die Öffnung des Korridors, doch Verhandlungen scheinen nur hinter den Kulissen stattzufinden. Die Zurückhaltung ergibt sich allerdings aus der zwiespältigen Rolle Russlands nach dem Krieg 2020, der dazu führte, dass Moskau seine Vormachtstellung in der Region an die Türkei und Aserbaidschan verlor. Aserbaidschan weigert sich, das Mandat der russischen Friedenstruppen zu unterzeichnen. Daher gibt es keine klare Richtlinie für eine angemessene Reaktion Russlands in der aktuellen Blockade oder im Falle anderer Provokationen Aserbaidschans. In Ermangelung solcher Regelungen hängt alles von politischen Entscheidungen ab – ein echtes Dilemma für die russische Führung, die zu Kompromissen nicht bereit ist.

Russland, offiziell für die Sicherheit Bergkarabachs und des Korridors verantwortlich, hält sich in dieser Krise eher bedeckt.

Eine harte Haltung gegenüber der von Aserbaidschan verhängten Blockade würde die Präsenz der russischen Friedenstruppen vor Ort weiter gefährden, ein Verzicht auf ein entschiedenes Eingreifen würde die bereits geschwächte Position Russlands in Armenien weiter untergraben. Der aktuelle Stillstand dürfte die Führung in Baku zu weiteren Provokationen dieser Art ermutigen und den Kreml, der immer noch meint, Aserbaidschan beschwichtigen zu können, vor weitere Probleme stellen. Die Blockade wird begleitet von höhnischen und demütigenden Angriffen auf die Friedenstruppen vonseiten staatlich finanzierter Journalisten – ein Szenario, das in Russland unvorstellbar wäre. „Wir tolerieren das“, so ein russischer Experte, „aber wir werden es nicht vergessen.“

Die EU hat die aserbaidschanischen Behörden aufgefordert, „im Einklang mit der trilateralen Erklärung vom 9. November 2020 entlang des Korridors Bewegungsfreiheit und Sicherheit zu gewährleisten“, und erklärt, sie befürchte humanitäre Probleme. In Übereinstimmung mit der Mitteilung aus Brüssel verweist auch Frankreich auf die Verpflichtungen, die Aserbaidschan mit dem Waffenstillstandsabkommen übernommen hat. Die USA haben Baku aufgefordert, „die Bewegungsfreiheit im Korridor wiederherzustellen“, vor „schweren humanitären Folgen“ gewarnt und der aserbaidschanischen Regierung vorgeworfen, einen möglichen „Friedensprozess“ unter Führung Washingtons zu behindern.

Bemerkenswert ist, dass in der entsprechenden Diskussion des UN-Sicherheitsrats alle Parteien dazu aufgerufen haben, den von Russland vermittelten Waffenstillstand einzuhalten, was zeigt, dass es in Zeiten unzähliger Meinungsverschiedenheiten in dieser unhaltbaren Lage sogar gelungen ist, Gemeinsamkeiten zwischen Russland und dem Westen herzustellen. Noch bemerkenswerter aber ist, dass der Sicherheitsrat es versäumt hat, sich auf eine Erklärung zu einigen. Keines der Mitglieder und auch kein anderer internationaler Akteur hat weiter versucht, die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach zu verhindern.

Wie die Reaktionen belegen, ist es Baku nicht gelungen, die inszenierte Sabotage als Breitenbewegung zu verkaufen. Im Westen weiß man, wie echter Protest in Aliyevs Diktatur aussieht. Doch mehr als 30 Tage nach Beginn der Belagerung reicht es bei weitem nicht mehr aus, das Problem zu benennen, ohne etwas zur konkreten Lösung zu unternehmen. Der Westen verfügt über sämtliche Mittel, Aliyev zum Frieden zu bewegen, ehe er die Gewalt eskalieren lässt. Stattdessen stärkt die EU den Petrodiktator, lobt ihn als „vertrauenswürdigen Partner“, weil er Gas liefert (das er in Russland kauft und dann nach Europa ausführt), belohnt ihn mit zwei Milliarden Euro für die Diversifizierung der auf Öl basierenden aserbaidschanischen Wirtschaft und würdigt sein „zuverlässiges“ Regime, ohne sein Vorgehen in Bergkarabach auch nur zu erwähnen. Macht sie sich so nicht zum Komplizen eines Verbrechers?

Solange keine Sanktionen verhängt werden (oder zumindest Schluss ist mit der Belohnung des Aliyev-Regimes), werden die einseitigen Aggressionen weitergehen. Da Konsequenzen ausbleiben, kann die Führung in Aserbaidschan Armenien und Bergkarabach jederzeit angreifen, wenn ihre maximalistischen Forderungen nicht erfüllt werden, und wird für ihre Diplomatie des Zwangs auch noch großzügig belohnt. Unterdessen gehen dem Kinderkrankenhaus in Stepanakert die Medikamente aus.

Aus dem Englischen von Anne Emmert