Die militärische und politische Führung der Ukraine klagt schon seit Langem über akuten Soldatenmangel. Offizielle Verlautbarungen zu ihren Verlusten an der Front gibt es von ukrainischer Seite nicht, aber nach verschiedenen Schätzungen geht die Zahl der Getöteten und Verletzten in die Zehntausende. Diese Verluste müssen aufgefangen werden. Zudem brauchen die Kämpfenden nach über zwei Jahren Fronteinsatz Entlastung durch Rotation. Die ukrainische Regierung sucht nach möglichen Lösungen für das Problem. Eine davon besteht darin, die Männer zurückzuholen, die sich außer Landes aufhalten.
Mitte April erklärte Außenminister Dmytro Kuleba, sein Ministerium arbeite an einer Strategie für den Umgang mit Ukrainern, die im Ausland leben. Der Außenamtschef ist überzeugt: Wenn die Ukraine mit diesen Staatsbürgern nicht anders verfährt als bisher, werden sie sich in ihren Aufenthaltsländern sehr schnell assimilieren – wobei er offen zugab, dass er Zweifel hat, ob die ausgereisten Ukrainer dem Wunsch ihres Landes nachkommen und wirklich in ihre Heimat zurückkehren werden. Die neue Strategie, so betont das Außenministerium, solle bewirken, dass diese Menschen – zumindest mental – Ukrainer bleiben und in ihren neuen Ländern zu Anwälten der Ukraine werden können.
Die jüngsten Schritte des Außenministeriums widersprechen allerdings nicht nur den Absichtserklärungen der Regierung, sondern stießen bei den Ukrainerinnen und Ukrainern, die sich vorübergehend oder dauerhaft außerhalb der Ukraine aufhalten, auf heftige Kritik.
Am 23. April wurden auf einmal die Konsulardienste für ukrainische Männer im wehrfähigen Alter eingestellt, wobei es keine Rolle spielt, seit wann und mit welchem Status sie sich im Ausland aufhalten. Vor allem geht es um die Ausstellung oder Verlängerung von Personalausweisen und Reisepässen. Später teilte das Außenministerium mit, diese Dokumente würden nicht mehr ins Ausland übersendet und dort ausgehändigt, sondern nur noch auf ukrainischem Staatsgebiet ausgestellt und ausgegeben. Das Außenamt spricht von einer vorübergehenden Maßnahme; angeblich werden die Abläufe für das Erbringen von Konsulardiensten vorerst nicht mit dem neuen Mobilmachungsgesetz in Einklang gebracht, das am 18. Mai 2024 in Kraft treten soll. Mit diesem Gesetz werden nicht nur die wesentlichen Aspekte der Mobilmachung für die ukrainische Armee geregelt, sondern auch Beschränkungen für Wehrpflichtige eingeführt, die sich im Ausland aufhalten und ihre Daten nicht fristgerecht an die Wehrbehörden gemeldet haben. Nach dem neuen Gesetz dürfen Konsulardienste für Männer zwischen 18 und 60 Jahren nur noch erbracht werden, wenn sie ihre personenbezogenen Daten auf den aktuellen Stand gebracht haben.
Bürgerrechtler und Juristen kritisierten diesen Beschluss der Regierung als diskriminierend und verfassungswidrig.
Diese Aktualisierung muss innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes erfolgen – also bis Mitte Juli. Doch die konsularischen Dienstleistungen für Männer im wehrfähigen Alter wurden schon vor Inkrafttreten des Gesetzes eingestellt. Die offizielle Begründung: Das Außenministerium schaffe es nicht, die eingegangenen Anträge zu bearbeiten, bevor das Gesetz in Kraft tritt.
Bürgerrechtler und Juristen kritisierten diesen Beschluss der Regierung als diskriminierend und verfassungswidrig. Doch das Außenministerium hält unbeirrt an seiner Position fest: „Ein Mann, der im wehrfähigen Alter ins Ausland gegangen ist, hat seinem Land damit signalisiert, dass es ihm egal ist, ob dieses Land überlebt. Und dann kommt er und will von diesem Staat Leistungen erhalten. So geht das nicht. Unser Land befindet sich im Krieg“, kommentierte Minister Kuleba seine Entscheidung. Es gehe um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit zwischen den Wehrpflichtigen in der Ukraine und den Wehrpflichtigen im Ausland, denn ein Auslandsaufenthalt entbinde die Staatsbürger nicht von ihren Pflichten gegenüber ihrem Heimatland.
Einige europäische Länder haben sich bereiterklärt, der Ukraine bei der Rückholung ukrainischer Männer in die Ukraine behilflich zu sein. Ohne ins Detail zu gehen, erklärte Polens Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz, sein Land sei bereit, der Ukraine in jeder Weise in diesem Prozess zu helfen, und habe dies zuvor schon von sich aus angeboten. Auch sein litauischer Amtskollege Laurynas Kasčiūnas meint, man müsse darüber nachdenken, wie man der Ukraine bei der Rückholung der Männer im wehrfähigen Alter helfen könne.
Bislang ist allerdings nicht klar, wen die europäischen Verteidigungsminister mit „Männer im wehrfähigen Alter“ genau meinen: Geflüchtete? Oder jene, die widerrechtlich ausgereist sind, um ihrer Einberufung zu entgehen? Oder alle Männer, die einen ukrainischen Pass haben und sich – egal seit wann – außer Landes aufhalten?
Es scheint allerdings wenig wahrscheinlich, dass die europäischen Regierungen in Aktion treten und diese Männer zur Ausreise zwingen werden.
Da die Beschränkungen ohne Ausnahme für alle ukrainischen Männer gelten, geht es der ukrainischen Regierung offenbar darum, sich ein vollständiges Bild von ihren potenziellen Mobilmachungsressourcen zu machen. Eurostat schätzt die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die sich im Januar 2024 in den Ländern der EU aufhielten, auf 4,3 Millionen, davon 860 000 Männer. Es scheint allerdings wenig wahrscheinlich, dass die europäischen Regierungen in Aktion treten und diese Männer zur Ausreise zwingen werden.
In Berlin heißt es gar, die Entscheidung des ukrainischen Außenministeriums, die Konsulardienste einzustellen, habe keinen Einfluss auf den Flüchtlingsstatus ukrainischer Männer. Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten kann in besonderen Fällen sogar einen Passersatz in Form eines Reiseausweises ausstellen, wenn das ukrainische Konsulat einem Mann keinen Pass ausstellt, weil er sich weigert, Militärdienst zu leisten.
Der dringende Ruf nach Gerechtigkeit wird in der ausgelaugten ukrainischen Bevölkerung immer lauter.
Der Erlass des ukrainischen Außenministeriums sorgte nicht nur für Kritik und Unmut bei den unmittelbar Betroffenen, sondern auch für erbitterte Diskussionen in der Ukraine selbst. Der dringende Ruf nach Gerechtigkeit wird in der ausgelaugten ukrainischen Bevölkerung immer lauter. Die Ehefrauen, Mütter und Töchter derer, die an der Front kämpfen, schauen verständnislos zu, wie ukrainische Männer im wehrfähigen Alter unbehelligt durch Europas Städte spazieren. Sie fragen sich, was diese Leute dort machen – und immer mehr Frontkämpfer fragen sich angesichts solcher Bilder, warum die einen im Ausland sind und die anderen im Schützengraben, wo russische Fliegerbomben einschlagen.
Andererseits wird der Beschluss der ukrainischen Regierung dem dringenden Wunsch nach Gerechtigkeit wohl kaum gerecht werden können. Er wird in erster Linie dazu führen, dass die Auslandsukrainer sich noch stärker von ihrem Staat entfremden, und die Polarisierung zwischen Ausgereisten und Daheimgebliebenen verstärken. Abgesehen vom moralischen Aspekt des Problems und von der komplett desaströsen Kommunikation der ukrainischen Regierung mit ihren Landsleuten im Ausland, wird die Ukraine wohl auch kaum in der Lage sein, einen effektiven Mechanismus für die Rückholung der Männer ins Land zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass mehr Ukrainer sich den Streitkräften anschließen. Auch werden die illegal aus der Ukraine Ausgereisten vermutlich kaum zurückkommen, um sich Ausweise ausstellen zu lassen oder ihre personenbezogenen Daten zu aktualisieren. Die meisten, die aus patriotischen Motiven zurückkehren und ihr Heimatland verteidigen wollen, haben das bereits getan – und für diejenigen, die seit Langem im Ausland leben und ihren ukrainischen Pass behalten haben, ist die neue Regelung ein Anstoß, schneller die Staatsbürgerschaft in ihrem Aufenthaltsstaat zu erlangen.
Die ukrainische Regierung sollte ihre Energie nicht darauf verwenden, gegenüber den Auslandsukrainern diskriminierende Regelungen zu beschließen.
Dass man nicht an der Front kämpfen will, ist ebenso nachvollziehbar und offensichtlich wie die Tatsache, dass die Ukraine einen existenzbedrohenden Krieg gegen einen um ein Vielfaches stärkeren Feind führt. Die Ukraine braucht schlicht und einfach Menschen, die die Technik bedienen können, um deren Lieferung das Land seine Partner seit Langem inständig bittet. Doch der Überlebenskampf, der schon genug schwere moralische Zielkonflikte mit sich bringt, darf nicht mit schlecht durchdachten und kurzsichtigen Entscheidungen belastet werden, die am Ende das Gegenteil dessen bewirken, was erreicht werden soll.
Die ukrainische Regierung sollte ihre Energie nicht darauf verwenden, gegenüber den Auslandsukrainern diskriminierende Regelungen zu beschließen, sondern die Voraussetzungen für ein nachvollziehbares und transparentes Mobilmachungsverfahren schaffen. Als Erstes könnte sie den Bürgerinnen und Bürgern die unpopulären Entscheidungen, die die Kriegssituation gebietet, besser vermitteln und erklären. Zwei Jahre nach Beginn der russischen Großinvasion ist die Motivation der Ukrainer, sich freiwillig für die militärische Verteidigung des Landes mobilisieren zu lassen, erheblich gesunken. Daran wird sich erst etwas ändern, wenn die Arbeitsweise der Wehrämter sich nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich qualitativ verbessert, genauso wie auch die Informationsarbeit gegenüber der Bevölkerung. Dadurch würde das Bewusstsein dafür, dass der ukrainische Staat in seiner Existenz bedroht ist, wieder geschärft und die Motivation der Menschen, ihn zu verteidigen, erhöht.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld