Bei seinem Besuch in Neu-Delhi sprach Verteidigungsminister Boris Pistorius in dieser Woche mit seinem indischen Amtskollegen Rajnath Singh über eine engere Zusammenarbeit zwischen den Rüstungsindustrien beider Länder. Auf dem Programm stand auch ein Besuch in Mumbai zur Unterzeichnung eines Kooperationsvertrags mit einem indischen Partner des deutschen Unternehmens Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS), das sich um einen U-Boot-Auftrag im Wert von 5,2 Milliarden US-Dollar bewirbt. Dieser erste Besuch eines deutschen Ministers seit 2015 fand vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Krieges statt, der in Asien und Europa in vielen Wirtschaftszweigen – auch im Rüstungssektor – Lieferketten unterbricht und zukünftige Beschaffungsentscheidungen blockiert.

Russland ist seit jeher Indiens wichtigster Rüstungspartner, doch seit der Invasion in die Ukraine mehren sich die Zweifel, ob Russland in der Lage ist, mit seiner Produktion auch den Export weiterhin zu bedienen. Daraufhin stockte Indien 2022 seine Investitionen in die einheimische Produktion massiv auf – vor allem bei Ersatzteilen für russisches Gerät. Inzwischen machen sich in Neu-Delhi auch längerfristige Sorgen breit – etwa über Russlands im Laufe des Krieges wachsende Nähe zu China und über zu erwartende Sicherheitsbedenken in Europa – und werfen die Frage auf, wie viel Verlass auf die Verteidigungspartnerschaft zwischen Indien und Russland auf lange Sicht sein wird. Indien hatte zwar aus verschiedenen Gründen bereits begonnen, seine Rüstungsbeschaffung zu diversifizieren, aber jetzt muss es notgedrungen mehr tun – und das schneller als bisher.

Russland ist seit jeher Indiens wichtigster Rüstungspartner.

Nicht zuletzt die engere geopolitische Ausrichtung trägt dazu bei, dass Indien sich stärker den USA und Europa als potenziellen Rüstungslieferanten zuwendet. Das eröffnet Ländern wie Deutschland neue Möglichkeiten. Deutschland ist gerade jetzt gefragt, weil es seit Februar 2022 seine Waffenexportpolitik und seine nationalen Sicherheitsperspektiven überdenkt – ein Umdenken, für das Bundeskanzler Olaf Scholz bekanntlich den Begriff der Zeitenwende prägte. Doch neben den allem Anschein nach günstigen äußeren Bedingungen gibt es noch weitere Faktoren, die für eine deutsch-indische Verteidigungspartnerschaft sprechen.

Ein zentrales Thema sind Deutschlands nationale Rüstungsexportvorschriften. Dies ist ein besonders wichtiger Aspekt für ein Land wie Indien, das an einer seiner Landesgrenzen einen schwerwiegenden Territorialkonflikt mit dem wirtschaftlich stärkeren China austrägt. Indien ist deshalb sehr daran gelegen, die Versorgung mit Rüstungsimporten von eventuell störenden politischen Maßnahmen oder Prozessen abzukoppeln. Im Fall Deutschlands kommt dieser Aspekt besonders zum Tragen, weil dort ein – 2021 angekündigtes – Rüstungsexportgesetz ansteht, das bisher sowohl die SPD als auch der grüne Koalitionspartner  befürworten. Dieses Gesetz soll die fünf bestehenden Rüstungsexportgesetze und zwei verbindliche politische Leitlinien ergänzen – Letztere stehen für die Werteorientierung der deutschen Außenpolitik – und wird von indischen Rüstungsexperten schon jetzt als Erschwernis eingestuft. Es scheint in dieser Frage ein gewisses Verständnis für Indiens Zögerlichkeit zu geben, denn jüngsten Pressemeldungen zufolge hat die Koalitionsregierung im Februar dieses Jahres die Rüstungsexportrichtlinien für Indien „informell“ gelockert und die Ausfuhr „einiger Rüstungsgüter“ genehmigt.

Ein zweiter Faktor, der für eine erste Einschätzung der deutsch-indischen Rüstungsbeziehungen eine entscheidende Rolle spielt, ist die „China-Frage“.

Ein zweiter Faktor, der für eine erste Einschätzung der deutsch-indischen Rüstungsbeziehungen eine entscheidende Rolle spielt, ist die „China-Frage“. Deutschlands große Abhängigkeit vom Handel mit China ist für Indien besonders relevant, da im Falle eines Konflikts zwischen Indien und China Lieferengpässe bei Verteidigungsgütern drohen. Dieses Risiko wird für künftige Bewertungen einer Verteidigungspartnerschaft mit Russland voraussichtlich eine Rolle spielen. Eine gewisse Versorgungssicherheit – insbesondere in Konfliktsituationen – gehört zu den Vorzügen von Indiens neueren Rüstungspartnern wie Israel und Frankreich, über die viel gesprochen wurde, und ist sicherlich Teil des indischen Rüstungskalküls.

Kernpunkt eines 2020 angekündigten und vielbeachteten Leitlinienpakets der indischen Regierung für die Beschaffung von Rüstungsgütern ist die Verlagerung der Produktion bestimmter Rüstungskomponenten und -geräte ins Inland. Diese Leitlinien sind eine Kombination aus Einfuhrverboten für größere Waffensysteme und Waffenträger, bei denen Indien bereits über Fertigungskapazitäten verfügt, und für kleinere Komponenten und Teilsysteme, die problemlos in Indien hergestellt werden könnten. Die Leitlinien werden zwar als politischer Anreiz für Indiens privatwirtschaftliche Rüstungs- und Zulieferindustrie dargestellt, aber sie sind auch ein Signal an ausländische Rüstungslieferanten, ihre Fertigungskapazitäten in Indien auszubauen und damit die heimischen Produktionsmöglichkeiten zu unterstützen. Diese Zusammenarbeit ließe sich in der Praxis unterschiedlich ausgestalten – von ergänzender Auftragsfertigung über die gemeinsame Produktion komplexerer Systemkomponenten bis hin zur Lizenzfertigung ganzer Systeme oder zu einer Lizenzfertigung, die den Technologietransfer mit einschließt.

Indien strebt vermutlich alle genannten Varianten der Zusammenarbeit mit ausländischen Herstellern an – nicht zuletzt, um sich stärker in die globale Lieferkette für Rüstungsgüter einzubringen, für die es eines der größten Abnehmer ist. Um die Kooperation privater und ausländischer Unternehmen bei der lokalen Produktion zu fördern, hat Indien in den vergangenen Jahren die Obergrenze für ausländische Direktinvestitionen im Rüstungsbereich angehoben – von 49 auf 74 Prozent für die sogenannte automatic route (den Kauf von bestehenden Unternehmensanteilen) und auf bis zu 100 Prozent für die sogenannte government route (für Direktinvestitionen mit staatlicher Genehmigung). Außerdem bringt das Land ausländische Unternehmen mit einheimischen Start-ups aus dem Rüstungssektor zusammen – neulich zum Beispiel auf der Luftfahrtausstellung in Bangalore – und nutzt die anhaltende Unterbrechung der Rüstungslieferungen an von Russland abhängige Länder, um seine Ambitionen als zukünftiger Rüstungsexporteur zu demonstrieren. Dieses Ambitionen dürften vor allem davon abhängen, welche Art von Rüstungszusammenarbeit Indien mit seinen künftigen Partnern auf die Beine stellen kann – wobei Kooperationen am oberen Ende der Wertschöpfungskette für die gemeinsame Produktion von Systemen mit Technologietransfer die bevorzugte Option sind.

Dies ist auch deshalb zwingend erforderlich, weil der indische Forschungs- und Entwicklungsetat für den Verteidigungsbereich knapp bemessen und die staatliche indische Rüstungsindustrie deshalb nicht innovativ genug ist. Technologietransfers auszuhandeln, war schon immer ein heikles Unterfangen. Nicht einmal Russland, Indiens wichtigster Rüstungspartner, hat die Erwartungen aus Neu-Delhi vollständig erfüllen können, auch wenn es diesem Ziel nähergekommen ist, als alle anderen Rüstungspartner.

Dass die Rüstungszusammenarbeit mit Russland für Indien bislang eine privilegierte Rolle spielt, hat eine Reihe von Gründen. Einer davon: Russland war und ist bereit, mit Indien an strategischen Programmen zu arbeiten, an denen kein anderes Land in vergleichbarer Weise Interesse zeigte. Seit den 1970er Jahren hat Russland (zunächst noch im Rahmen der Sowjetunion) gemeinsam mit Indien sensible Verteidigungstechnologien entwickelt und Indien daran teilhaben lassen. Beispiele sind die Technologie, die Indien zu seinem ersten im eigenen Land hergestellten atomgetriebenen U-Boot verhalf, und die wissenschaftlichen Grundlagen für Indiens eigenes Raumfahrtprogramm. Viele dieser Transfers kritischer Technologien erfolgten gegen den aktiven Widerstand der USA und trotz amerikanischer Sanktionen, die Indien als Reaktion auf die Vorstellung wertete, es könnte seine strategischen Kapazitäten außerhalb einer an ideologischen Gemeinsamkeiten orientierten Gruppe ausbauen.

Auch nachdem die ideologischen Affinitäten aus der Zeit des Kalten Krieges verblasst waren, waren Russland und Indien sich in vielen wichtigen politischen und strategischen Fragen in Bezug auf Asien weitgehend einig. Das hat dazu beigetragen, dass die beiden Länder eine enge, auf ähnliche Ziele ausgerichtete Beziehung pflegen. Wie sehr die Auswirkungen des Ukraine-Krieges diese Sicht auf Asien und Eurasien verändern werden, bleibt abzuwarten. Die Länder, die Indien als strategischen Partner zur Sicherung gemeinsamer Interessen – zum Beispiel im indopazifischen Raum – betrachten, sollten hieran eines erkennen: Ein regelmäßiger Meinungsaustausch mit dem Ziel, strategische Übereinstimmungen besser zu verstehen, könnte beim Aufbau von Rüstungsbeziehungen helfen, die sowohl den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen als auch den gemeinsamen längerfristigen Zielen gerecht werden.

Indien weiß um seine Stärke als asiatische Gegenkraft zu China.

Russland hat Indien zudem schon frühzeitig – bereits in den 1960er Jahren – beim Aufbau eigener militärischer Produktionskapazitäten unterstützt. Das erfolgreichste Joint Venture zwischen beiden Ländern war die gemeinsame Entwicklung des Marschflugkörpers BrahMos, die 1998 mit einem Technologietransfer begann und vielen bis heute als erfolgreichste Kooperation zwischen beiden Ländern gilt. Der Transfer der als canisterization bezeichneten Technologie für die Raketenkonstruktion ermöglichte Indien die heimische Produktion seiner Agni-I-Raketen. Im Januar 2022 gab es den ersten Exportauftrag für den Marschflugkörper BrahMos im Wert von 374 MillionenUS-Dollar zu vermelden, und es besteht die Aussicht, dass andere asiatische Länder, die an wirksamen und vergleichsweise kostengünstigen Anti-Schiff-Flugkörpersystemen interessiert sind, ebenfalls zugreifen werden.

Der für Indien relativ niedrige Anschaffungspreis russischer Rüstungsgüter ist anerkanntermaßen ein weiterer Grund, warum Indien russischen Systemen den Vorzug gibt. Auch wenn die Zeit der „Freundschaftspreise“ aus sowjetische Zeit vorbei sind und die Lebenszykluskosten für die Wartung und andere Faktoren längst stärker eingepreist werden, sind sie noch immer kostengünstiger als die meisten westlichen Alternativen.

Bei seinem Indienbesuch im Februar sprach Bundeskanzler Scholz auch über Rüstungsverkäufe, insbesondere über das 5,2-Milliarden-Euro-Geschäft für den gemeinsamen Bau von sechs konventionellen U-Booten – ein Angebot, das andere westliche Länder wegen des dafür nötigen Technologietransfers ausschlugen. In diesen Zeiten, in denen geopolitisch viel auf dem Spiel steht, ist die Kosten-Nutzen-Rechnung bei der Intensivierung von Handels- und Rüstungsbeziehungen zwangsläufig mit Kompromissen verbunden, die früher nicht zur Debatte standen. Indien – als Abnehmer – weiß um seine Stärke als asiatische Gegenkraft zu China und seine hegemonialen Ambitionen in der Region und richtet die Konditionen für seine Beziehungen zu anderen Ländern daran aus. Es wird von potenziellen Rüstungspartnern verlangen, dass sie den nationalen Sicherheitsrisiken Rechnung tragen und die Wachstumsziele für die heimische Industrie unterstützen, und ihre Angebote mit den entsprechenden Angeboten aus Russland vergleichen. Angesichts der ungeklärten Fragen im Verhältnis zu China im Zusammenhang mit Indiens nördlichen Grenzen wird auch der strategische Stellenwert von Rüstungskäufen ein entscheidender Faktor sein. Andererseits werden Indiens Forderungen voraussichtlich gedämpft durch ein stärkeres Bewusstsein für das Risikoprofil, das die militärische Abhängigkeit von einem schwächeren Russland mit sich bringt. Es liegt an den interessierten Ländern, den richtigen Zugang zu diesem Aktionsfeld zu finden.

Aus dem Englischen von Christine Hardung