Festgezurrte Standpunkte bestimmen leicht die Wahrnehmung der Wirklichkeit, vor allem wenn diese komplex und schwer überschaubar ist. Leider hat sich die deutsche Taurus-Debatte nach dem abgehörten und vom russischen Propagandasender RT veröffentlichten Gespräch des Inspekteurs der Luftwaffe mit drei Offizieren auf die politische Deutung des Gesprächsverlaufs verengt. Es geht fast nur noch um die Frage, ob die Ukraine Taurus-Marschflugkörper einsetzen kann, ohne dass deutsche Spezialisten in der Ukraine bei der Programmierung mitwirken. Grundsätzliche und weitergehende strategische Überlegungen und Folgenabschätzungen finden praktisch nicht statt.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Ukraine weitreichende Waffensysteme gegen Ziele auf russischem Territorium einsetzt, wenn vertragliche Auflagen der Geberländer dem entgegenstehen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass Kiew Taurus-Flugkörper einsetzen würde, um die Brücke bei Kertsch zu zerstören. Dies wurde auch im abgehörten Gespräch der Luftwaffenoffiziere so angenommen. Die Zerstörung dieser langen Brücke durch die Mephisto-Sprengköpfe des Taurus wäre kein Selbstläufer. Experten des US Army War College haben in Foreign Affairs im Dezember 2023 eine detaillierte Analyse der Brückenkonstruktion vorgenommen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die nachhaltige Zerstörung dieser langen Brücke mit Marschflugkörpern wie dem Taurus eine sehr schwierige Aufgabe wäre. Dazu sei eine massive Salve von sehr präzisen Treffern an tragenden Hauptpfeilern der Brücke notwendig.
Nicht nur in Moskau würde die Zerstörung der Brücke als spezifische deutsche Leistung aufgefasst werden.
Die Krimbrücken sind für die ukrainische Verteidigung gegen die russische Aggression völkerrechtlich legale und militärisch-operativ wichtige Angriffsziele, da die russischen Truppen im südlichen Frontabschnitt hauptsächlich über diese Brücken verstärkt und versorgt werden. Bisher ist es der ukrainischen Armee trotz mehrerer Angriffe nicht gelungen, die Brücken nachhaltig zu zerstören. In der Bundesregierung muss bedacht werden, dass Salven mit deutschen Taurus-Flugkörpern auf die Kertsch-Brücke ein spektakuläres, singuläres Ereignis im Kriegsverlauf wären, das die Angriffe auf das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte mit britischen und/oder französischen Marschflugkörpern im September 2023 weit in den Schatten stellen würde. Nicht nur in Moskau, sondern mit anderem Vorzeichen auch international würde die Zerstörung der Brücke als spezifische deutsche Leistung aufgefasst werden, während andere westliche Staaten der Ukraine keine Waffensysteme mit vergleichbarer Wirkung zur Verfügung stellen wollen oder können. Besonders heikel wäre dies, da durch die Unterbrechung der Nachschublinie über die Brücke keine wesentliche Veränderung der seit Herbst 2022 stagnierenden militärischen Lage an der Front zu erwarten wäre. Der Schwerpunkt der russischen Angriffe liegt in diesem Jahr überwiegend im östlichen Frontabschnitt, an dem die Russen nicht vom Nachschub über die Krimbrücken abhängig sind.
Scholz spürt vermutlich, dass Deutschland mit der Weitergabe des Taurus an die Ukraine unkalkulierbare Risiken eingehen und sich politisch-strategisch überheben würde. Warum sollte sich Deutschland weiter in diesem Krieg exponieren als die drei westlichen Nuklearmächte und ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen? Es verwundert, dass in der aufgeheizten Debatte die Tatsache keine Rolle mehr spielt, dass US-Präsident Joe Biden, völlig unabhängig von Donald Trump und der Blockade der US-Republikaner im Repräsentantenhaus, keine Waffensysteme mit einer Reichweite über 165 Kilometer an die Ukraine liefert. Trotz wiederholter Anforderungen aus Kiew, die ATACMS-Variante mit einer Reichweite von etwa 300 Kilometern zu liefern. Der Taurus hat eine Reichweite von über 500 Kilometern. Warum sollte Deutschland weiter ins Risiko gehen als die atomare Supermacht USA und die europäischen Nuklearmächte? In der US-amerikanischen Regierung wird an dieser Stelle klüger, besonnener und strategischer über mögliche Aktions-Reaktions-Ketten hinweg gedacht und analysiert – in der Absicht, das Risiko eines Krieges zwischen Russland und der NATO einzuhegen. In solchen Szenarien kann nämlich auch den USA die Eskalationskontrolle aus den Händen gleiten.
London und Paris agieren mit ihren Marschflugkörpern in der Ukraine vermutlich auch im Vertrauen auf ihr nukleares Abschreckungspotenzial.
Wenn Großbritannien und Frankreich Spezialisten bei der ukrainischen Luftwaffe einsetzen, um die Zielplanung und die Flugprogrammierung vorzunehmen oder zu überwachen, überschreiten sie eine Linie, hinter der sie faktisch zur Kriegspartei werden. In solch heiklen Fragen gibt es immer unterschiedliche Deutungen des Völkerrechts, gerade zwischen der angelsächsischen und der deutschen Schule. London und Paris agieren mit ihren Marschflugkörpern in der Ukraine vermutlich auch im Vertrauen auf ihr nukleares Abschreckungspotenzial und aufgrund ihrer geografischen Randlage im NATO-Raum. Wenn der britische Außenminister David Cameron jetzt anbietet, mit einem Storm-Shadow-Taurus-Ringtausch Berlin zu helfen, interveniert er in die innenpolitische Berliner Debatte.
Es handelt sich zudem um ein politisch unfaires Angebot, denn bei Annahme des Vorschlags durch die Bundesregierung würde diese sich in Widersprüche verwickeln und die innenpolitische Debatte noch anheizen. Sie kann nicht einerseits das britische Vorgehen mit Storm-Shadow-Spezialisten in der Ukraine als Modell für Deutschland ablehnen und es andererseits durch einen Ringtausch befördern. Es geht in der ganzen Debatte nicht um deutsche Befindlichkeiten und darum, wie diese umgangen werden könnten, sondern um unterschiedliche politisch-strategische Einschätzungen.
Im Feld der unterstützenden europäischen Staaten liegt Deutschland weit vorn.
Die Ukraine braucht von den europäischen Partnern in erster Linie eine starke und nachhaltige Unterstützung mit überlegenen westlichen Waffensystemen, schnelle Instandsetzungskapazitäten, viel mehr Munition für die Frontkräfte und die Luftverteidigung sowie Systeme für die elektronische Kampfführung. Nur so kann sie die Frontlinie halten und die russischen Angriffskräfte zermürben und abnutzen. Im Feld der unterstützenden europäischen Staaten liegt Deutschland weit vorn. Die bisherigen Unterstützungsleistungen Frankreichs sind trotz des Marschflugkörpers SCALP marginal. Großbritannien leistet mehr als Frankreich, hat aber im Sicherheitskooperationsabkommen mit der Ukraine für 2024 weniger als die Hälfte dessen zugesagt, was die Bundesregierung zur Verfügung stellen wird. London bleibt damit auch im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weit hinter Berlin zurück. Paris und London sollten bei Waffenlieferungen und finanziellen Hilfen an die Ukraine aufschließen, zumal künftige US-amerikanische Unterstützungsleistungen angesichts der fortwährenden Blockade im US-Repräsentantenhaus ungewiss sind.
Olaf Scholz hat Recht, wenn er sich nach sorgfältiger Abwägung gegen die Lieferung deutscher Taurus-Systeme an die Ukraine wendet, weil dies Deutschland tief in die Grauzone der Kriegsbeteiligung ziehen würde. Seine Entscheidung ist nachvollziehbar und entspringt der sicherheitspolitischen Gesamtverantwortung des deutschen Bundeskanzlers.