Zuletzt folgte Finnland: Im vergangenen Herbst hieß es aus Helsinki, man werde eine Sperranlage entlang der Grenze zu Russland zu errichten. Die Gespräche bei der Sitzung des Europäischen Rates am 9. Februar 2023 bestätigten, dass sich das Blatt endgültig gewendet hat. Es gibt immer mehr Rufe nach schärferen Grenzschutzmaßnahmen – und einige EU-Staaten haben deutlich gemacht, dass sie sogar bereit sind, Grenzzäune in anderen Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen zu finanzieren. So werden die eigenen Ängste über das nationale Territorium hinaus projiziert: In veritablen Panik-Aktionen versucht Europa offenbar das zu errichten, was der Geograf Klaus Dodds einen eisernen „Stacheldrahtvorhang“ nannte: einen neuen „Schutzwall“ im Sinne dessen, was sich Samuel Huntington in seinem Buch Kampf der Kulturen ausmalte. Brüssel scheint allerdings nicht gänzlich bereit zu sein, eine durchgehende Betonmauer entlang der Außengrenzen zu bauen. Man muss wohl hinzufügen: noch nicht.
Europa hat eine historisch komplizierte Beziehung zu Mauern. Zu Beginn des aktuellen Jahrtausends galten Grenzmauern als ablehnungswürdiges Relikt einer vergangenen Ära. Doch mit der Zeit änderte sich die Meinung. Mit der Erweiterung 2005 wurden auch die Zäune im Herzen Zyperns und am Rande Litauens in die EU integriert. Diese wurden freilich nur als unschönes Überbleibsel früherer Konflikte angesehen. In den 1990er und 2000er Jahren zeigte sich die EU als Verfechter einer Welt ohne Grenzen, einer Welt des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapitals- und Arbeitskräfteverkehrs. Der schöne Schein war jedoch bereits getrübt, denn mit dem Schengenraum wurden Kontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft, während die physischen Absperrungen an der Außengrenze immer massiver wurden – zum Beispiel in Spanien, das seine Grenze zu Marokko in den beiden Enklaven Ceuta und Melilla auf dem afrikanischen Kontinent in Stacheldraht und Beton goss. Dennoch: Zum Ende des Kalten Krieges gab es nur 200 Kilometer befestigte Grenzen. Sie wirkten wie Erinnerungsstücke an eine vergangene Zeit, eine vergangene geopolitische Ära.
Zum Ende des Kalten Krieges gab es nur 200 Kilometer befestigte Grenzen.
Der Wandel hin zum Errichten statt zum Einreißen von Mauern vollzog sich in Europa in zwei Phasen, beginnend im Jahr 2015. Damals führte die Krise in Syrien dazu, dass man in der EU der Ansicht war, es gebe auch in Europa eine sogenannte „Flüchtlingskrise“. In den darauffolgenden Jahren setzte sich der Mentalitätswandel fort, sowohl wegen der strategischen Bedrohung durch Russland nach der Krim-Annexion als auch wegen der Instrumentalisierung der Migrationsbewegungen durch gewisse Nachbarn der EU. Als Ergebnis gibt es in Europa im Jahr 2023 von Finnland bis Griechenland, von der Ukraine bis Calais in Frankreich 17 ummauerte oder umzäunte Grenzgebiete. Während Ende des 20. Jahrhunderts1,7 Prozent der europäischen Landgrenzen umzäunt waren, sind es heute 15,5 Prozent. 2 008 Kilometer Mauern und Zäune durchziehen derzeit den Kontinent.
Dass Europa eine eingezäunte Welt (und mit Mauern und Zäunen versehene eigene Grenzen) inzwischen voll und ganz akzeptiert, ist ein echter Tabubruch – schließlich galt „die Mauer“ bis vor einigen Jahren noch als ungewollt. Trumpeske Aussagen und Aktionen – ebenso grausam wie verstörend – sind keine Einzelfälle mehr. Die Mauer ist vielmehr zu einer akzeptablen Lösung geworden, die nicht mehr ausschließlich von Populisten und/oder Rechtsextremen vertreten wird. Die vermeintliche Lösung findet Eingang in den Mainstream-Diskurs; Ausgrenzung wird als probates Mittel eines identitätsbasierten Widerstands gegen die Erschütterungen der Globalisierung hingenommen.
Mauern erfüllen nicht die Ziele, für die sie eigentlich gebaut werden.
Doch Mauern (die heute einen lukrativen und globalisierten Markt mit enormen direkten und indirekten Kosten darstellen) erfüllen nicht die Ziele, für die sie eigentlich gebaut werden. Im Politiker-Jargon sollen sie die Grenzen abriegeln und undurchlässig machen. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass sich die Bewegungen schlichtweg verlagern – sowohl räumlich als auch zeitlich: Schmuggel (von Drogen, Waffen oder Menschen), irreguläre Grenzübertritte und sogar Auseinandersetzungen an den Grenzen verändern sich, werden unübersichtlicher und somit noch schwieriger zu überwachen. Gewisse Bewegungen verschwinden kurzzeitig, um dann an anderer Stelle oder in anderer Form wieder aufzutauchen. Gleichzeitig wird der (legale und illegale) Grenzübertritt teurer und zu einem echten Magneten für das organisierte Verbrechen. Grenzmauern mögen eine versinnbildlichte Abschottung darstellen, aber sie sind faktisch gar nicht dazu gedacht, komplett dicht zu sein. Vielmehr funktionieren sie als „Siebe“.
Studien zeigen, dass Mauern nicht nur den bilateralen Handel und die öffentliche Gesundheit in den Grenzgebieten beeinträchtigen sowie das Image einer Nation schädigen, sondern auch nur begrenzt wirksam sind: Sie blockieren weder unerwünschte Bewegungen noch erhöhen sie die Sicherheit wesentlich. Auf der Website der US-amerikanischen Zoll- und Grenzschutzbehörde wird schon seit Längerem betont, dass Mauern nur als „Bremsklötze“ dienen. Diese Ansicht teilt auch der finnische Grenzschutz, der erklärt, dass der getestete Prototyp seiner Mauer „die Bewegungen von Menschenmengen verlangsamen und lenken“ werde. Und: „Selbst wenn Menschen die Zaunanlagen umgehen, erfüllen diese Anlagen ihre Aufgabe, indem sie die illegale Einreise verlangsamen und den Behörden helfen, die Situation besser zu kontrollieren.“ Dies erstaunlich deutlichen Aussagen übertragen sich allerdings nicht unbedingt auf die Öffentlichkeitsarbeit. Wie wir spätestens seit Donald Trumps Erfolgen 2016 wissen, sind Grenzmauern eine sehr wirksame Wahlkampf-Waffe. Das dürfte auch dem österreichischen Bundeskanzler nicht entgangen sein, der kürzlich wieder einmal den Bau einer Mauer entlang der EU-Grenzenforderte. In Österreich stehen im kommenden Jahr Nationalratswahlen an.
Mit einer Mauer wendet man bewusst den Blick von der anderen Seite der Grenze ab. Dadurch „verbaut“ man sich allerdings auch Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und zur gemeinsamen Grenzpolitik. Wer mit Mauern und Zäunen einen wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Keil zwischen zwei Gebiete treibt, verstärkt deren jeweilige Schwächen und Unterschiede. Dies wiederum verschärft Gewalt: In ihrem Streben nach Sicherheit zeigen Staaten negative Verhaltensmuster, beispielsweise die plötzliche Verschiebung von Finanzierungsprioritäten, die Militarisierung von Grenzgebieten und die Fehlsteuerung der Arbeitsmigration auf Kosten der lokalen Wirtschaft und Ökosysteme. Motiviert ist dieses schädliche Verhalten durch die vorherrschende Rhetorik eines angeblichen Patentrezeptes: die Mauer als Allheilmittel.
Grenzmauern verstärken die globale Hierarchie der Mobilität.
Tatsächlich verstärken Grenzmauern die globale Hierarchie der Mobilität. Faktisch ist eine Mauer kein undurchdringlicher Schutzwall für alle, sondern eher ein Filter, der die unterschiedlichen reisenden Gruppen wie die Spreu vom Weizen trennt. Für einige birgt die Mauer grausame Entscheidungen sowie besondere Herausforderungen und Probleme; für andere ist sie kaum mehr als ein Fleck in der Landschaft. Für einige wenige ist sie sogar eine gute Gelegenheit, sich zu bereichern. Diese Ungleichheit trägt zur politischen Langlebigkeit des Bauens von Mauern als Allheilmittel bei – und ermöglicht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Der Mauerbau wird zum Mittel gegen die Instabilität, die er selbst verursacht. Grenzzäune und -mauern schaffen eine „Tragedy by design“ (auf deutsch etwa: eingeplante Tragödie). Anders gesagt: Jedes Überwinden dieser Mauer – Professor Scott Nicol sprach von „Leiter-Magneten“ – beweist, dass diese Mauer angeblich notwendig war. Dabei wird jedoch ignoriert, dass die Mauer selbst der Grund dafür ist, dass gewisse Aktivitäten illegal (geworden) sind.
In jedem Fall lässt sich beobachten, dass die EU-Staaten dem Ruf nach immer härteren Grenzbefestigungen folgen und damit zu einer Normalisierung und weiteren Verbreitung des Phänomens „Mauer“ beitragen. Solche Befestigungen, Zäune und Mauern sind vor allem ein Offenbarungseid, ein Eingeständnis des Scheiterns der internationalen und europäischen Zusammenarbeit und eine Abkehr von den Grundwerten der Europäischen Union. Die daraus resultierenden Reaktionen werden zu einer zunehmenden Spaltung, zu verstärkten (Migrations-)Bewegungen, wachsendem Unverständnis und immer größeren Ängsten führen. Abhilfe schaffen kann nur eine deutlich stärkere Zusammenarbeit, denn der Bau von Mauern löst nicht die Probleme, die er vorgeblich angeht. Mauern sind ein winziges Pflaster auf einem gebrochenen Bein: eine Scheinlösung für weiterhin ungelöste Probleme, die immer deutlicher zu Tage treten.
Aus dem Englischen von Tim Steins