Angesichts der aktuellen Umfragewerte ist es durchaus möglich, dass Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen im November Joe Biden schlägt. Bis dahin ist es zwar noch ein weiter Weg (sowohl im Wahlkampf als auch vor den Gerichten), doch in den Köpfen der europäischen Spitzenpolitiker spukt bereits die Albtraum-Frage: Was bedeutet es für die Ukraine – und auch für die NATO – wenn Trump erneut Präsident wird?
Diese Frage treibt offenbar auch Emmanuel Macron um. Frankreichs Präsident sagte kürzlich bei einem Besuch in Schweden: „Dies ist ein entscheidender und schwieriger Moment für Europa. Wir müssen handlungsfähig sein, um die Ukraine zu verteidigen und zu unterstützen, egal was es kostet und egal wie Amerika entscheidet.“ Damit deutete er an, dass die „Autonomie Europas“ gegenüber seinem transatlantischen Verbündeten gestärkt werden müsse.
Beunruhigung lässt sich auch aus einem gemeinsamen Brief herauslesen, der vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und den Ministerpräsidenten Estlands, Dänemarks, der Niederlande und der Tschechischen Republik unterzeichnet wurde und in dem eine deutliche Aufstockung der europäischen Militärhilfe für die Ukraine gefordert wird. In dem Schreiben heißt es: „Sollte die Ukraine verlieren, wären die langfristigen Konsequenzen und Kosten für uns alle sehr viel gravierender.“ Entsprechend erleichtert wurde am 1. Februar die einstimmige Entscheidung des Europäischen Rats aufgenommen, in den kommenden zwei Jahren50 Milliarden Euro für die Ukraine zur Verfügung zu stellen. Ungarns Premier Viktor Orbán hatte dem Druck nachgegeben und sein früheres Veto zurückgezogen.
Die grundsätzlichen Bedenken in Bezug auf militärisch-strategische Sicherheit bleiben dennoch bestehen. Trotz Trumps Drohung während seiner ersten Präsidentschaft, aus der NATO auszutreten (die er auf dem Brüsseler NATO-Gipfel 2018 aussprach), ist es unwahrscheinlich, dass sich die Vereinigten Staaten im Falle seiner Wiederwahl ganz aus dem Bündnis zurückziehen würden. Für eine Aufkündigung des Nordatlantikvertrags von 1949 wäre eine Abstimmung im Kongress erforderlich – und das würde politisches Kapital kosten, das Trump möglicherweise nicht hat.
Per Dekret könnte Trump amerikanisches Personal von NATO-Aufgaben in Europa abziehen.
Allerdings könnte er per Dekret amerikanisches Personal von NATO-Aufgaben in Europa abziehen oder sich – nach dem Vorbild Frankreichs in den Jahren 1966 bis 2009 – aus den militärischen Kommandostrukturen der NATO zurückziehen. Insbesondere könnte er die Unterstützung für die Ukraine in Form von Hilfsgütern, Geheimdienstinformationen und Munitionslieferungen einstellen. Damit würden die USA den Weg für einen Friedensschluss mit deutlichen Vorteilen für die russische Seite ebnen.
Für die europäischen Führungskräfte würden sich daraus drei große Herausforderungen ergeben: Sie müssten dutzende Milliarden Euro auftreiben, um die von den USA hinterlassene Finanzierungslücke zu schließen. Sie müssten ihre zersplitterte und miteinander konkurrierende Rüstungsindustrie hochfahren, um die benötigten Waffen, Munition und auch nachrichtendienstliche Mittel bereitstellen zu können. Und sie müssten all dies tun, während sie gleichzeitig eine glaubwürdige Streitmacht an den NATO-Grenzen aufstellen, um potenzielle weitere russische Aggressionen abzuschrecken – ohne Garantie auf amerikanische Unterstützung.
Seien wir ehrlich. Angenommen, die besagten Gelder könnten aufgetrieben und die europäische Rüstungsindustrie hochgefahren werden, um die Ukraine zu unterstützen – und bestenfalls wäre auch das Vereinigte Königreich als NATO-, aber nicht mehr EU-Mitglied voll in dieses Projekt involviert: Die aktuellen Nachrichtendienst-, Überwachungs-, Zielerfassungs- und Aufklärungsaufgaben unter Führung der USA würden die europäischen Staaten mit ihrer derzeitigen Ausrüstung schlicht überfordern. Ob die Europäer sich der Aufgabe stellen und scheitern oder – was wahrscheinlicher ist – angesichts der riesigen Probleme direkt einknicken, die Folgen für die Ukraine wären dieselben. Sie wäre gezwungen, einen vorübergehenden Frieden mit Russland zu schließen, um nicht in einer Sommeroffensive 2025 überrannt zu werden.
Europa braucht eine gemeinsame Verteidigungsstrategie.
Dennoch braucht Europa eine gemeinsame Verteidigungsstrategie und die Fähigkeiten, diese auch umzusetzen. Glücklicherweise ist die Basis, auf der eine solche Strategie aufbauen kann, bereits vorhanden. Das neue strategische Konzept der NATO, das nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verabschiedet wurde, skizziert Umfang und Struktur für die erforderlichen konventionellen Streitkräfte. Demnach müssten nach Artikel 5 des Vertrags (der vielzitierten Klausel zur gegenseitigen Verteidigung) im Krisenfall innerhalb von zehn Tagen 100 000 Soldaten mobilisiert werden können, von Tag zehn bis Tag 30 doppelt so viele und danach insgesamt eine halbe Million.
Das amerikanische Militärpersonal zählt 1,4 Millionen Mann. Sollten die USA aktiv bleiben, wäre das Konzept also recht einfach umsetzbar. Wäre sie hingegen raus oder erst in der dritten Phase bereit, sich zu engagieren, müsste Europa selbst massive militärische Kräfte bereitstellen. Mit insgesamt 1,3 Millionen Soldaten sind die vereinten europäischen Streitkräfte in etwa so stark wie die der USA. Allerdings sind sie bei weitem nicht so gut ausgerüstet.
Warschau positioniert sich als Dreh- und Angelpunkt der Verteidigung gen Osten.
Einige Staaten preschen voran: Polen schafft 1 000 neue Panzer südkoreanischer Bauart sowie weitere 1 400 Kampffahrzeuge an. Warschau positioniert sich damit eindeutig als Dreh- und Angelpunkt der Verteidigung gen Osten und baut darauf, dass die zukünftig aufgerüstete und modernisierte deutsche Bundeswehr an seiner Seite stehen würde. Finnland verfügt über eine beachtliche Reservearmee, Schweden fährt die Produktion seiner namhaften Rüstungsindustrie hoch. Das Vereinigte Königreich hingegen hat die Zahl seiner Streitkräfte auf den niedrigsten Stand seit der napoleonischen Zeit gesenkt und verweist nach wie vor offiziell auf eine „indopazifische Ausrichtung“: Man wolle als postimperiale Seemacht in der gesamten Golfregion sowie im Fernen Osten präsent sein.
Doch während die europäischen Staaten – mehr oder weniger enthusiastisch – aufrüsten, offenbaren sie grundlegende Schwächen: fehlende Standardisierung; eine veritable Obsession mit „herausragenden“ Spezialwaffen, die vor allem gebaut werden, um den weltweiten Ruf der heimischen Rüstungskonzerne aufzupolieren; fehlende Kapazitäten für den Nachbau von im Kampf verlorenen Fahrzeugen und Flugzeugen; unsichere Versorgungsketten; außerdem eine Vielzahl von „nationalen Champions“ – also Großkonzernen, die unnötigerweise miteinander konkurrieren.
Dem Worst-Case-Szenario einer zweiten Trump-Präsidentschaft und infolgedessen eines unfairen Friedens für die Ukraine könnte eine schnelle russische Wiederaufrüstung mit Ausrüstung aus China als weitere unheilvolle Entwicklung folgen. Aus diesem Grund haben Militärplaner von Großbritannien bis Estland in Reden bereits die Generation Z gewarnt, das Risiko eines bewaffneten Konflikts zu ihren Lebzeiten sei nicht unerheblich.
Es braucht einen koordinierten Plan, um die Kapazitäten der europäischen Rüstungsindustrie rasch auszubauen – mit dem Vereinigten Königreich als engagiertem Akteur, nicht als unbeteiligtem Zuschauer. Die europäischen Staaten sollten durch Partnerschaften und Standardisierung dafür sorgen, dass sie die notwendige „Masse“ auf dem hypothetischen Schlachtfeld erzeugen können. Das bedeutet, dass preisgünstige, standardisierte und zuverlässige Militärfahrzeuge, Artillerie- und Luftabwehrsysteme produziert werden müssen, die bei Zerstörung schnell ersetzt werden können, und dass Reservetruppen für den Einsatz dieser Waffen ausgebildet werden.
Eine derartige Waffenproduktion wird von den privaten Beteiligungs- und Risikokapitalgruppen, die die Eigentumsverhältnisse in der Rüstungsindustrie dominieren, als weitgehend unrentabel angesehen. Daher müssten wohl die Staaten diese Aufgabe übernehmen. Darüber hinaus sollten sich die europäischen NATO-Mitglieder mit zwei wichtigen Fragen befassen, deren Beantwortung die Politiker bisher kaum adressiert haben: Wie wollen wir kämpfen und warum würden wir es tun?
Europa hat eine Wirtschaft und eine Zivilgesellschaft, die in der Lage wäre, Aggressionen erfolgreich abzuwehren.
Was die erste Frage betrifft, so gilt die Binsenweisheit, dass Armeen Kriege beginnen, aber Gesellschaften und Volkswirtschaften sie gewinnen. Europa hat eine Wirtschaft und eine Zivilgesellschaft, die in der Lage wäre, Aggressionen erfolgreich abzuwehren. Doch die wichtige koordinierende Rolle innerhalb der NATO spielen nach wie vor die USA, und es gibt derzeit keinen echten Ersatz dafür. So hat die US-Armee in ihrem Einsatzkonzept die Rückkehr zu „Divisionen“ verordnet: Die kleinste Zähleinheit für US-Generäle ist dabei eine Drei-Brigaden-Einheit mit bis zu 15 000 Soldaten. Die meisten europäischen Armeen verfügen nicht über derartige Kommandostrukturen im Divisionsmaßstab, wollen sich aber rasch an die neue Schwerpunktsetzung der USA anpassen. Es bleibt das Problem: Wenn Amerika zu einem unzuverlässigen Verbündeten wird, ist unklar, wer in Europa das Sagen hat und die Führung übernimmt.
Bei der zweiten Frage, „Warum würden wir kämpfen?“, geht es ans Eingemachte, ans Existenzielle. Im Nordosten Europas, in Helsinki oder Tallinn, ist die Antwort allen klar, auch der Generation Z. Sie wissen sehr wohl, dass ihre hochtechnologisierten, liberalen Städte schon am ersten Tag eines russischen Angriffs in eine Höllenlandschaft verwandelt werden könnten. In den älteren, westlichen Demokratien ist das Gefühl anders. Sie sind zwar zu Hauptzielen der hybriden Kriegsführung und Desinformation Russlands geworden, aber es gibt weniger eindrückliche Erinnerung an die Sowjetunion.
Nur wenige der heutigen Führungspersönlichkeiten sind in die Politik gegangen, um sich auf die nationale Verteidigung und Sicherheit zu konzentrieren. Sie setzen eher Akzente in den Bereichen Wirtschaftswachstum oder Menschenrechte und Gerechtigkeit. Selbst die Wenigen, die sich des Ausmaßes der Gefahr bewusst sind, müssen ihre Parteien dirigieren, ihre Haushalte sanieren und den Pazifismus ihrer Wählerschaft im Blick behalten.
Die Gefahr einer zweiten Trump-Präsidentschaft sollte in den Köpfen der europäischen Politiker präsent sein
Die Gefahr einer zweiten Trump-Präsidentschaft sollte in den Köpfen der europäischen Politiker präsent sein. Es besteht ein klares Missverhältnis zwischen dem Konzept der NATO – der frühzeitigen Entsendung von Truppen zur Abschreckung einer möglichen russischen Aggression – und ihrer Fähigkeit, dieses tatsächlich umzusetzen. Diese Diskrepanz muss durch neue Partnerschaften, eine aktive Industriestrategie und das geopolitische Management von Lieferketten behoben werden. Vor allem aber müssen die Wählerinnen und Wähler auf das Ausmaß der Bedrohung aufmerksam gemacht werden. Dann wären sie vorbereitet für den Fall, dass ein US-Präsident Trump Europa im Stich lässt und ihm in den Rücken fällt.
© Project Syndicate
Aus dem Englischen von Tim Steins