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Am Wochenende gab der Iran bekannt, Uran über das laut dem Atomabkommen von 2015 erlaubte Maß von 3,67 Prozent anzureichern. Das hat die Internationale Atomenergiebehörde inzwischen bestätigt. Diese Entwicklung konnte eigentlich niemanden überraschen. Teheran hat bereits im Mai angekündigt, sich nicht mehr an vorgeschriebene Obergrenzen zu halten und reagierte damit auf die weitere Verschärfung der US-Sanktionen. Den im Abkommen (JCPOA) verbliebenen Staaten hatte Teheran eine Frist von 60 Tagen gesetzt, innerhalb derer neue Vertragsbedingungen ausgehandelt werden sollten.

Die iranische Führung betrachtet die europäischen Bemühungen, die Folgen der US-Sanktionen aufzufangen, als unzureichend. Eine weitere Aussetzung der JCPOA-Verpflichtungen seitens Teherans scheint unausweichlich. Dies stellt die Zukunft des Abkommens und des iranischen Atomprogramms in Frage.

Nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen im Mai 2018 sind Iran, Russland, China, Großbritannien, Deutschland und Frankreich im JCPOA verblieben. Die EU ist im Abkommen über ihren Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik vertreten, der auch den Vorsitz der Gemeinsamen Kommission innerhalb des JCPOA innehat. Im Großen und Ganzen stehen alle Unterzeichner weiter zu diesem Abkommen und betonen ihre Bereitschaft, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen. Sämtliche Teilnehmer halten die einseitigen US-Sanktionen für illegitim und sind der Auffassung, dass Washington in das Abkommen zurückkehren muss. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf.

Teheran hat nicht die Absicht, sich vollständig aus dem JCPOA zurückzuziehen, geschweige denn Atomwaffen zu entwickeln.

Der Iran, der seinen Verpflichtungen nach dem Ausstieg der USA ein Jahr lang gewissenhaft nachgekommen ist, obwohl Washington immer strengere Sanktionen verhängt hat, beruft sich auf Artikel 26 des JCPOA. Hiernach ist die „Wiedereinführung von Sanktionen“ ein Grund, „die Erfüllung seiner Verpflichtungen ganz oder teilweise einzustellen“. Die vom Iran erhofften wirtschaftlichen Vorteile, die ihm im Gegenzug zur Begrenzung des Atomprogramms zugesagt wurden, sind nicht eingetreten. Und so ist Teheran nun bereit, nach dem Prinzip „weniger gegen weniger“ zu handeln. Es baut sein Atomprogramm wieder aus, um den USA zu zeigen, dass deren Druck kontraproduktiv ist – und um sein Potenzial für weitere Deals zurückzugewinnen. Teheran hat nicht die Absicht, sich vollständig aus dem JCPOA zurückzuziehen, geschweige denn Atomwaffen zu entwickeln. Dies sind diplomatische Gesten in Erwartung günstiger Bedingungen für neue Verhandlungen, etwa bei einem Regierungswechsel in den USA.

Von Europa aus betrachtet stellt sich die Situation anders dar. In einer gemeinsamen Erklärung äußerte die EU-3 ihre Besorgnis über das Vorgehen des Iran und mahnte an, dass das Engagement der Europäer für das Abkommen davon abhängig ist, ob der Iran sich an das Abkommen hält. Sie forderte Teheran auf, die bereits getroffenen Maßnahmen zu überdenken und von weiteren destabilisierenden Handlungen abzusehen. Andernfalls deuteten die Europäer die Möglichkeit an, die außer Kraft gesetzten Sanktionen gegen den Iran wiederaufzunehmen.

Das Problem bei dieser Vorgehensweise besteht darin, dass Teheran sowieso schon der Ansicht ist, dass Europa seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Trotz lautstarker Erklärungen waren Berlin, London und Paris nicht in der Lage, Washingtons Politik entgegenzutreten. Sie blockiert das EU-Recht, welches eigentlich die Folgen der US-Sanktionen abfedern sollte, aber bisher kein einziges Mal zur Anwendung gekommen ist. Alle großen europäischen Unternehmen haben sich aus dem Iran aus Furcht vor US-Sanktionen zurückgezogen. Die Tauschbörse INSTEX, die neun Monate später in Gang gekommen ist, ist für den Handel mit Lebensmitteln und Medikamenten gedacht, die aber ohnehin nicht von den Sanktionen betroffen sind. Die fehlende wirtschaftliche Kooperation schmälert in den Augen der iranischen Führung die Bedeutung der Beziehungen zur EU.

Europa hat es nicht vermocht, mit seiner Teilnahme am JCPOA ein Vertrauensverhältnis zu Teheran aufzubauen. Die Tatsache, dass in Europa Gruppen ihr Rückzugsgebiet haben, die der Iran als terroristisch betrachtet (wie die Bewegung Arabischer Kampf für die Befreiung von Ahwaz) und dass die iranischen Geheimdienste politischer Morde in der EU bezichtigt werden, haben die Vertrauensbildung auf beiden Seiten erschwert. Das gute Verhältnis der europäischen Länder zu Israel und den Golfstaaten bedeutet, dass der Iran größtenteils als destabilisierende Kraft in der Region wahrgenommen wird. Die Versuche der EU-3, insbesondere Frankreichs, auf weiteren Vereinbarungen zu bestehen, sorgten in Teheran für Verärgerung – vor dem Hintergrund, dass die Parteien die bereits getroffenen Vereinbarungen nicht umgesetzt haben.

Die russische Position liegt traditionell irgendwo zwischen der europäischen und der iranischen Position. Moskau ist am Erhalt des JCPOA nicht aus abstrakten Gründen interessiert.

Die russische Position liegt traditionell irgendwo zwischen der europäischen und der iranischen Position. Moskau ist am Erhalt des JCPOA nicht aus abstrakten Gründen interessiert, sondern weil ihm klar ist, dass das Außerkrafttreten des Abkommens die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts in unmittelbarer Nähe der russischen Grenzen erheblich erhöht. Dabei zeigt Russland Verständnis für die iranische Position, für den die versprochenen wirtschaftlichen Vorteile ausgeblieben sind. Moskau ist der Ansicht, dass es von entscheidender Bedeutung ist, die Transparenz des iranischen Atomprogramms zu erhalten. Es befürchtet, dass ein Druckaufbau seitens Europas zusätzlich zum Druck der USA den Iran nicht wieder dazu bringt, den JCPOA vollständig umzusetzen, sondern eher zu einem endgültigen Verfall des Abkommens führt. Russland sieht auch keine Bedrohung durch das Raketenprogramm Teherans, solange das Land kernwaffenfrei bleibt. Die Situation im Nahen Osten betrachtet Moskau als einen schwierigen regionalen Konflikt, in dem sich eine große Anzahl von Akteuren gegenüberstehen, und der nicht durch einseitige Zugeständnisse zu lösen ist.  

Die EU wird in Russland einen wichtigen Partner für die Aufrechterhaltung des JCPOA finden, allerdings wird sich Moskau in der derzeitigen Situation an keiner Kampagne beteiligen, die den Iran unter Druck setzt, um ihn dazu zu bringen, das Abkommen bis zur letzten Kommastelle umzusetzen. Russland hält es für falsch und destruktiv, von einer Seite zu verlangen, dass sie ihre Verpflichtungen vollumfänglich erfüllt, während die andere Seite dies nicht tut. Und wenn Europa will, dass Teheran den JCPOA strikt einhält, muss es selbst auch mehr tun. 

Da sich der Iran auf das Abkommen vor allem aus dem Grund eingelassen hat, weil er auf eine wirtschaftliche Kooperation mit Europa hoffte, sollte Europa diese Beziehungen auch aufbauen (die Kooperation mit China, so eingeschränkt sie auch ist, besteht weiter; Russland war nie ein vorrangiger Wirtschaftspartner für Teheran, die USA gingen selbst im Rahmen des JCPOA nicht auf eine nennenswerte wirtschaftliche Zusammenarbeit ein). Hierbei ist Russland nicht bereit, die Verantwortung für das zu übernehmen, was Europa nicht leisten kann. Darüber hinaus hat sich Moskau bereits zu einem mutigen Schritt entschlossen und erklärt, dass Rosatom trotz der US-Sanktionen im Iran verbleiben und tätig sein wird. Parallel dazu gab es Meldungen, wonach chinesische Unternehmen weiterhin iranisches Öl kaufen. Nichts dergleichen ist von europäischer Seite festzustellen.

Daneben lässt sich nicht leugnen, dass die Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU-3 im Rahmen des JCPOA einen besonderen Stellenwert in den Beziehungen beider Seiten einnimmt. Der konstruktive Dialog über das iranische Atomprogramm ist auch auf dem Höhepunkt der Konfrontation um die Ukraine im Jahr 2014 nicht zum Erliegen gekommen. Alles, was mit dem JCPOA im Zusammenhang steht, nimmt nach wie vor einen wichtigen Platz in der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Moskau einerseits und Paris, Berlin und London andererseits ein.

Obwohl alle sonstigen Widersprüche in den bilateralen und multilateralen Beziehungen zwischen Russland und Europa bestehen bleiben, beweist es doch, dass die Großmächte bei der Beilegung internationaler Krisen kooperieren können und müssen.

Aus dem Russischen von Bärbel Sachse