Der Ärger im Élysée-Palast ist offensichtlich. Dass der französische Präsident in einem langen Grundsatzinterview auf einen Namensbeitrag der deutschen Verteidigungsministerin antwortet und ihr eine „Fehlinterpretation der Geschichte“ vorwirft, ist schon recht ungewöhnlich. „Die Illusionen einer europäischen strategischen Autonomie müssen ein Ende haben“, hatte Annegret Kramp-Karrenbauer geschrieben. „Die Europäer werden nicht in der Lage sein, die entscheidende Rolle Amerikas als Sicherheitsanbieter zu ersetzen.“ Für Paris war das starker Tobak, ein „Angriff mit einem Flammenwerfer auf die französische Doktrin“, wie sich der französische Journalist Renaud Girard im „Figaro“ echauffierte.
Die Ministerin wiederum antwortete postwendend. „Nur wenn wir unsere eigene Sicherheit ernst nehmen, wird Amerika das auch tun“, sagte sie in ihren als „Grundsatzrede“ bezeichneten Ausführungen an der Universität der Bundeswehr. „Das hat auch der französische Präsident gerade festgestellt – und ich stimme ihm zu.“ Aber „die Idee einer strategischen Autonomie Europas geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten“, fährt sie fort. Freilich steht eine Abkehr Europas von der NATO und den USA auch in Paris keineswegs zur Diskussion. Ist also alles nur ein großes Missverständnis? Alles halb so schlimm? Ein Sturm im Wasserglas?
Das mögen sich die Redenschreiber der Ministerin gedacht haben. Aber was Heiko Maas und Jean-Yves Le Drian, die beiden Außenminister, in einem gemeinsamen Beitrag für ZEIT-Online, Le Monde und die Washington Post zur gleichen Zeit aufgeschrieben haben, kommt dann doch wieder eher dem nahe, was in der Überschrift des Interviews mit dem Präsidenten steht: „Die Macron-Doktrin“. Die dort entwickelten Ideen zu einer „strategischen Autonomie Europas“ gehen ja über die Gedankenwelt der Verteidigungsministerin weit hinaus.
Angesichts der grundlegenden Veränderungen im internationalen System, in dem der Wettbewerb, ja die Auseinandersetzungen mehrerer Großmächte um eigene Einflusssphären an Bedeutung gewinnen, steht für ihn nichts weniger als eine „Neuerfindung der internationalen Kooperation“ zur Debatte. Und damit Europäer dabei eine Rolle zu spielen haben, müsse die Struktur eines „politischen Europa“ geschaffen werden, ein „stärkeres Europa, das seine Stimme erheben, sein Gewicht mit seinen Grundsätzen zur Geltung bringen kann.“
Keineswegs geht es dem französischen Präsidenten darum, sich von den USA abzuwenden.
Keineswegs geht es dem französischen Präsidenten dabei darum, sich von den USA abzuwenden. Aber „wir sind nicht die USA. Sie sind unsere historischen Verbündeten, wir schätzen wie sie die Freiheit, die Menschenrechte, wir sind eng miteinander verbunden, aber wir haben zum Beispiel Vorstellungen von Gleichheit, die nicht denjenigen der USA entsprechen. Unsere Werte sind nicht ganz dieselben.“ Auch unsere verschiedene Geographie führe dazu, dass unsere Interessen nicht immer übereinstimmen. Deshalb dürften wir uns „in unserer internationalen Politik nicht von den Interessen der USA abhängig machen oder ins Schlepptau nehmen lassen.“ Es geht also um die Emanzipation Europas von den USA, nicht um die Abwendung.
Nun ist allerdings noch wenig darüber zu erfahren, in welcher Form und in welchem Rahmen sich Macron diese Emanzipation vorstellt. Nur vage hat sich der französische Präsident darüber ausgelassen, wie „Europa“ in zehn oder 20 Jahren aussehen soll – etwa bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu Beginn des Jahres, als er von drei Kreisen sprach, in denen europäische Integration und Zusammenarbeit auf verschiedene Weise organisiert werden könne. In jedem Fall hat er ja schon in seinem Wahlkampf vor drei Jahren eine „Neugründung Europas“ gefordert, also eine Weiterentwicklung der Europäischen Union.
Doch von solch weiten Horizonten kann weder bei Kramp-Karrenbauers Grundsatzrede, noch bei den Reaktionen aus Deutschland auf Macrons Denkanstöße die Rede sein. Stattdessen wird zögerlich „Realismus“ verkündet, hinhaltend Widerstand gegen Ideen weiterer Integrationsschritte geleistet und zugleich das Hohelied auf die enge deutsch-französische Zusammenarbeit gesungen. Diese gibt es ja auch wirklich. Aber zugleich gibt es die Notwendigkeit, gemeinsam Schritte in die Zukunft zu gehen. Dafür aber müssten Berlin und Paris Verständigung darüber erzielen, worin denn die Herausforderungen für Europas Zukunft bestehen. Das ist aber ganz offensichtlich nicht der Fall.
Und die „Grundsatzgedanken“ der Verteidigungsministerin und noch CDU-Chefin sind dazu auch nicht geeignet. Der Wunsch, die deutsch-amerikanischen Beziehungen nach den desaströsen Trump-Jahren wieder zu reparieren in allen Ehren – der Kern des Verhältnisses zwischen den USA und Europa hat sich ja nicht erst seit der Präsidentschaft Trumps fundamental verändert. Es reicht aber nicht, einfach an die Zeit vor Trump anzuknüpfen, auch wenn das künftige außenpolitische Team des Präsidenten Joe Biden dies nahelegt und vieles leichter machen wird.
Vielmehr sind die Gedanken des französischen Präsidenten zur Rolle Europas im Konkurrenzkampf der Großmächte USA, China und Russland (und vielleicht weitere) überzeugend und sollten aufgenommen werden. Das heißt nicht, sie eins zu eins zu übernehmen. Aber die Europäer müssen selbst aktionsfähig sein, sich zur gemeinsamen Entscheidungsfindung aber erst noch befähigen. Dazu müssen Deutschland und Frankreich gemeinsam ihren Beitrag leisten – was sie übrigens auch immer wieder bekräftigen.
Es reicht aber nicht, einfach an die Zeit vor Trump anzuknüpfen, auch wenn das künftige außenpolitische Team des Präsidenten Joe Biden dies nahelegt.
In der neuen Konkurrenz USA-China (Russland wird ja in Washington kaum noch als gleichwertiger Konkurrent betrachtet) werden die Europäer sicher eher an der Seite der USA als an der Chinas stehen, wenn es um grundsätzliche Fragen geht. Aber eine so enge Gefolgschaft wie zu Zeiten des Kalten Krieges mit der Sowjetunion wird sich nicht wieder einstellen. Dafür sind schon die ökonomischen Interessen aller Beteiligten zu sehr miteinander verwoben und stehen zugleich in Konkurrenz zueinander. Das war im Wettstreit zwischen den USA und der Sowjetunion, der ein ideologischer und kein ökonomischer war, nicht der Fall.
Außerdem bedienen sich sowohl Peking wie Washington ihrer jeweils eigenen erheblichen ökonomischen Macht, um ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen. Da ist es nur folgerichtig, wenn auch die ökonomische Großmacht EU nach Wegen sucht, dabei nicht unter die Räder zu geraten und zum Objekt geopolitisch motivierter Sanktionsregime zu werden, die andere steuern.
Es besteht also durchaus Handlungsbedarf. Der mag in Paris und Berlin unterschiedlich gesehen werden. Aber ein, wenn auch ehrlich gemeintes, Treuebekenntnis zum Bündnis mit den USA reicht dazu nicht, erst recht nicht in der Form, die die Verteidigungsministerin gewählt hat. Ein Bekenntnis zu Europa und zur deutsch-französischen Kooperation auch nicht, denn rhetorisch stimmen Berlin und Paris in dieser grundsätzlichen Frage ja überein. Aber was bedeutet dies praktisch?
„Strategische Autonomie Europas“ oder „europäische Souveränität“ sind die Begriffe, unter denen die „Macron-Doktrin“, wenn man denn diese Formel benutzen will, den Weg in die Zukunft gestalten will. Macron selbst gesteht ja zu, dass der Begriff „europäische Souveränität“ exzessiv ist, „weil er ja bedeuten würde, dass es eine europäische politische Macht gäbe. Da sind wir noch nicht“, sagt er. Aber ihn als „Illusion“ abzutun wie Kramp-Karrenbauer ist eben das, was Macron eine „Fehlinterpretation der Geschichte“ nennt.
Vielleicht könnte dieser ungewöhnliche öffentliche Schlagabtausch ja nun auch dazu genutzt werden, sich nicht einfach gegenseitig der „Illusion“ oder der „Fehlinterpretation der Geschichte“ zu bezichtigen, sondern der Unterschiedlichkeit der Sichtweisen Rechnung zu tragen und endlich einen konstruktiven Streit anzuzetteln – nicht darüber, was nicht geht und was wie schwierig ist, sondern darüber, was gehen soll und wie man dorthin kommt.