Die Ukraine braucht dringend Waffen und Unterstützung, um den russischen Angriff zum Stehen zu bringen. Russland darf nicht gewinnen. Jedoch wurde General Skibizki, der stellvertretende Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes vor ein paar Tagen in einem Interview im Economist zitiert, er sehe keine Möglichkeit für die Ukraine, den Krieg allein auf dem Schlachtfeld zu gewinnen. Selbst wenn es der Ukraine gelänge – eine Aussicht, die in immer weitere Ferne rücke –, die russischen Streitkräfte an die Grenzen zurückzudrängen, würde das den Krieg nicht beenden: „Solche Kriege können nur durch Verträge beendet werden“ und „gegenwärtig ringen beide Seiten um die ‚günstigste Position‘ im Vorfeld möglicher Gespräche“.
„Es wäre naiv zu glauben, dass die Ukraine in absehbarer Zeit vollständig die Kontrolle über ihr Territorium zurückgewinnen könnte“, sagte der tschechische Präsident und entschiedene Ukraineunterstützer Pjotr Pavel dem Sender Sky News. Russland werde die besetzten Gebiete nicht aufgeben: „Was wir tun müssen, ist, den Krieg zu stoppen.“
Angesichts des unendlichen Leids und der vielen Toten nach Wegen zu suchen, wie der Krieg gestoppt werden kann, statt wider die Faktenlage an der Hoffnung eines militärischen Sieges als der einzig annehmbaren Option festzuhalten, ist ein Gebot moralischer Realpolitik. Als Rolf Mützenich im März im Parlament die Frage stellte, ob nicht parallel zur entschlossenen Waffenhilfe an die Ukraine auch über Wege zum Einfrieren des Krieges diskutiert werden sollte, brach ein Sturm der Entrüstung los.
„Naive Appeasementpolitik gegenüber Russland“, verlautbarten unisono Ricarda Lang und Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Überlegungen über das Einfrieren eines Konflikts bei gleichzeitiger entschlossener militärischer, politischer und humanitärer Unterstützung mit München 1938 gleichzusetzen, zeugt von geschichtlicher Unkenntnis oder Unehrlichkeit. Damals entschieden europäische Großmächte über den Kopf der Tschechen hinweg, einen Teil ihres Landes kampflos Hitlerdeutschland auszuliefern. Mit wahrheitswidrigen Gleichsetzungen wird versucht, eine ungelegene Frage von vornherein zu desavouieren.
Es braucht eine offene Debatte darüber, dass ukrainische und deutsche Interessen zwar in wichtigen Fragen in die gleiche Richtung gehen, aber nicht deckungsgleich sind.
Dabei müssen Fragen der Lastenverteilung für die Aufnahme und Integration von 1,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern ebenso wie die Steigerung der Verteidigungsausgaben diskutiert werden. Insbesondere da der Wortwechsel von der „Verteidigungsfähigkeit“ hin zur „Kriegstüchtigkeit“ in diesem Zusammenhang keine semantische Petitesse ist, sondern der Zeitenwende einen bewusst bellizistischen Akzent verleiht. Es braucht eine offene Debatte darüber, dass ukrainische und deutsche Interessen zwar in wichtigen Fragen in die gleiche Richtung gehen, aber nicht deckungsgleich sind. Je intensiver die NATO sich mit Material und Menschen an dem Krieg beteiligt, desto sicherer dürfte sich die Ukraine fühlen. Gleichzeitig lehnen in Deutschland laut einer Meinungsumfrage 72 Prozent die Entsendung von Soldaten, 58 Prozent die Bereitstellung der Marschflugkörper Taurus und 31 Prozent überhaupt Waffenlieferungen an die Ukraine ab.
Eine Verengung der Debatte auf einen militärischen Sieg der Ukraine als einzig akzeptable Option wirft in der Konsequenz die Frage auf, was getan werden soll, wenn sich dieser Erfolg nicht einstellt. Soll Russland auf dem Schlachtfeld besiegt und aus den besetzten Gebieten vertrieben werden, wird dies ohne massive weitere Eskalation – einschließlich des zumindest indirekten Einsatzes von Soldaten aus NATO-Ländern – nicht gelingen. Sie wäre mit langandauernden Kämpfen, hohen ukrainischen Verlusten und – bei erfolgreichen Geländegewinnen – mit dem Risiko einer russischen Waffeneskalation verbunden.
Das tausendfache Sterben gebietet mehr als alles andere die Suche nach Wegen, den Krieg zu beenden, ohne dass die Ukraine verliert und ohne dass Russland gewinnt. Mützenichs Aufforderung, neben dem kleinteiligen Streit über einzelne zu liefernde Waffen auch darüber nachzudenken, ob außer einem kriegsentscheidenden militärischen Erfolg der Ukraine auch andere Wege zur Beendung des Krieges führen könnten, ist kein Verrat an der ukrainischen Sache. Solche Überlegungen sind Teil einer unbedingt erforderlichen demokratischen Debatte, um auch weiterhin eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die Unterstützung der Ukraine zu gewinnen.
Die Gesellschaft darf die Friedensdiskussion nicht der AfD oder Sahra Wagenknecht überlassen.
Menschen verlieren das Vertrauen in Politik, die Opfer für unrealistische Ziele verlangt. Wenn ein vollständiger Sieg über Russland unerreichbar ist, dann ist ein bitterer Kompromiss, bei dem die Ukraine – unterstützt und abgesichert durch westliche Militär- und Wirtschaftshilfen – ihre Freiheit behält, aber Territorium verliert, möglicherweise eher ein Ziel, für das die langfristige Zustimmung der Bevölkerung gewonnen werden kann. Der russische Völkerrechtsbruch bleibt dabei fortbestehendes Unrecht. Wer die Debatte um solche imperfekten, aber dafür eventuell möglichen Lösungen aus dem Parlament und dem Meinungsmainstream empört verbannen möchte, wird erleben, wie sie sich umso mehr in sich selbst verstärkenden Blasen entfalten, wo dann auch die abwegigsten Ideen noch angeklickt, geliked und geteilt werden.
Alle Überlegungen zu Verhandlungslösungen bleiben allerdings abstrakt-hypothetisch, solange Russland nicht ernsthaft zu Verhandlungen bereit ist. Putin wird nicht freiwillig von seinen erklärten Zielen ablassen, die sich grob wie folgt zusammenfassen lassen: erstens Grenzverschiebung und Annektierung der Krim und der Ostukraine, zweitens ein Regimewechsel in Kiew und drittens die Errichtung eines demilitarisierten Vasallenstaates à la Belarus in der Restukraine. Russische Verhandlungsbereitschaft wird sich ergeben, wenn sich in Russland der Eindruck verstärkt, dass die Zeit militärisch, wirtschaftlich sowie innen- und außenpolitisch gegen Russland arbeite und die Punkte 2 und 3 unerreichbar seien.
Ergänzend zu den Waffenlieferungen an die Ukraine und den Sanktionen gegen Russland bedarf es zusätzlicher Bemühungen, um zu Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zu kommen.
Ergänzend zu den Waffenlieferungen an die Ukraine und den Sanktionen gegen Russland bedarf es zusätzlicher Bemühungen, um zu Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zu kommen. Die von der Schweiz organisierte Friedenskonferenz Mitte Juni, auf der erst einmal „nur“ über nukleare Sicherheit, humanitäre Aspekte wie die Rückführung von verschleppten Kindern und die Sicherheit von Nahrungsmitteltransporten unter Beteiligung möglichst vieler Länder gesprochen werden soll, ist hier ein wichtiges Bemühen, das unbedingt unterstützt werden sollte. Die interne Opposition gegen Putin – so schwach sie im Moment auch erscheint – gilt es zu ermutigen. Dazu gehören die Hilfe für Exilmedien und Exilorganisationen, das Angebot politischen Asyls für russische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, aber auch die Botschaft, dass es für ein Russland, das sich von Putin befreit, einen Weg zurück nach Europa gibt.
Außenpolitisch müssen Länder außerhalb der NATO-Strukturen gewonnen werden, sich für eine Lösung des Konflikts zu engagieren. Dass diese Länder sich bisher wenig bis gar nicht engagieren, liegt daran, dass ihre nationalen Interessen und Prioritäten andere sind als die westlichen. Ein flammender Appell der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock wird hier zu keinem Umdenken führen. Insbesondere wenn sich deutsche Außenpolitik in anderen Fällen von überwältigenden Mehrheitsentscheidungen der Völkergemeinschaft unbeeindruckt zeigt.
Um Länder des Globalen Südens für eine Unterstützung der Ukraine zu gewinnen, muss es eine westliche Bereitschaft geben, deren Interessen zu verstehen.
Um Länder des Globalen Südens für eine Unterstützung der Ukraine zu gewinnen, muss es eine westliche Bereitschaft geben, deren Interessen zu verstehen. Ohne den Willen der reichen Länder, die in vielfacher Weise in die regelgebundene internationale Ordnung eingewobenen strukturellen Ungerechtigkeiten zu überwinden, wird es nicht gelingen, den Globalen Süden im Namen der regelgebundenen internationalen Weltordnung von der Solidarität mit der Ukraine zu überzeugen.
Ob Deutschland und die EU China bewegen können, im Sinne des Friedens auf Russland einzuwirken, erscheint zweifelhaft; die Volksrepublik ist bisher sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch der große Gewinner dieses Konflikts. Dass es hier dennoch Möglichkeiten gibt, zeigt die Erklärung von Xi Jinping gegen den Einsatz von Nuklearwaffen im Krieg in der Ukraine während des Besuchs von Bundeskanzler Olaf Scholz in Peking im Herbst 2022. Auch wenn es bisher trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen ist, China davon abzubringen, de facto an der Seite Russlands zu stehen, bleibt es wichtig, China glaubhaft zu verdeutlichen, dass sich ein chinesischer Beitrag zur Lösung der Krise positiv auf die chinesisch-europäischen Beziehungen auswirken würde.
Als zweitwichtigster Waffenlieferant der Ukraine kann Deutschland in vertraulichen Gesprächen mit Kiew und den Verbündeten Initiativen jenseits eines langanhaltenden Abnutzungskrieges ausloten. Wäre möglicherweise ein ukrainischer Vorschlag vorstellbar, der in keiner Weise die russischen Annektierungen anerkennt, aber einen Verzicht auf die militärische Rückeroberung der besetzten Gebiete anbietet, wenn Russland gleichzeitig eine NATO-Mitgliedschaft oder äquivalente westliche Sicherheitsgarantien für die freie Ukraine hinnimmt und einer Volksabstimmung unter UN-Kontrolle in den besetzten Gebieten über die Zugehörigkeit zu Russland oder zur Ukraine zustimmt? Solche oder ähnliche Überlegungen könnten Russland diplomatisch unter Zugzwang setzen und der Weltöffentlichkeit zeigen, dass die Ukraine – trotz der völkerrechtlich eindeutigen Lage – bereit ist, mit dem Aggressor über Wege zum Frieden zu verhandeln. Diplomatisch muss es um Initiativen und Lösungsvorschläge gehen, die Russland mehr als bisher international isolieren und den weltweiten Druck auf Russland erhöhen, die Kriegshandlungen einzustellen.
Die reale Macht, wirklich abschreckend zu eskalieren, haben militärisch sowieso nur die USA.
Westliche militärische Eskalationsbereitschaft ist eine andere Option, um den Verhandlungsdruck auf Russland zu erhöhen. Allerdings ist Eskalation immer ein Spiel mit dem Feuer. Die reale Macht, wirklich abschreckend zu eskalieren, haben militärisch nur die USA. Dass die USA bisher nur zurückhaltend eskalieren, dürfte daran liegen, dass sie die Ukraine zwar aus geopolitischen Gründen und aus westlichem Werteverständnis schützen wollen, aber gleichzeitig die Gefahr einer Ausweitung des Krieges und eine mögliche Nukleareskalation verhindern wollen. Diese vorsichtige Entschlossenheit, die auch von der Bundesregierung verfolgt wird, als ängstliches Zaudern zu kritisieren, wird dem Ernst der Lage nicht gerecht.
Die Freigabe des 60-Milliarden-US-Dollar-Pakets durch den US-Kongress und die massive europäische und insbesondere deutsche Unterstützung werden, so ist zu hoffen, die Front stabilisieren, Russland die Hoffnung auf eine „günstigere Position“ nehmen und dort die Bereitschaft erhöhen, nach Lösungen auf der Grundlage eines militärischen Patts zu suchen.
Wie man möglicherweise als ersten Schritt auf dem Weg zum Frieden den Konflikt einfrieren kann, ist eine legitime und notwendige Frage. Wenn diese nicht abstrakt-hypothetisch bleiben soll, muss der Frage eine Antwort folgen, durch welche Kombination von politischem Druck, militärischer Unterstützung, diplomatischen Allianzen, Verhandlungsrahmen und Kompromissvorschlägen der Weg zum Einfrieren und Beenden des Krieges begonnen werden könnte. Dies erfordert vertrauliche Diplomatie – und öffentliche Debatte.