Wahrscheinlich werden Historiker erst nach Dekaden einen passenden Begriff für die heutige Zeit finden. Zu viel ist gerade in Bewegung, zu wenig hat sich vollends materialisiert. Neue Ost-West-Konfrontation, Kalter Krieg 2.0, Ende des regelbasierten Systems oder Beginn der multipolaren Weltordnung? An Ideen wird es nicht mangeln; an Versuchen, Parallelen zu früheren Zeiten zu ziehen, sicherlich auch nicht. Manche Begriffe, die nach vergangenen Epochen klingen, werden aber absehbar die strategischen Debatten der kommenden Jahre prägen. „Abschreckung“ ist ein solcher Begriff.

Gründe dafür gibt es viele und die prominentesten liegen auf der Hand. Die vergangenen zehn Jahre waren von zwei großen Brüchen in der europäischen Sicherheitsordnung gekennzeichnet: von Russlands Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 und vom Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022, der die „Zeitenwende“ in der deutschen Politik eingeläutet hat. Bereits in den Jahren zuvor hatte sich eine Verschlechterung in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen abgezeichnet. Aus dem, was passiert ist, und dem, was in Zukunft verhindert werden soll, speist sich der gegenwärtige Abschreckungsdiskurs.

Dabei ist Abschreckung als Konzept heimisch in den Hochzeiten des Kalten Krieges (ihr Ursprung geht in die Antike zurück). NATO-Atomwaffen sollten den konventionell überlegenen Warschauer Pakt von einem Angriff auf Westeuropa abhalten. Heute funktioniert Abschreckung unter anderen Vorzeichen: Ein konventionell und technologisch unterlegenes Russland schreckt mit seinem taktischen und strategischen Nukleararsenal die NATO davor ab, im Krieg in der Ukraine militärisch zu intervenieren.

Nukleare Abschreckung funktioniert, indem Land A von einer Handlung gegen Land B abgehalten wird, da B die Konsequenzen klar und glaubwürdig signalisiert. A berücksichtigt diese bei seiner Entscheidung, wodurch es auf die Handlung verzichtet. Der Abschreckungsdiskurs ist auf strategischer Ebene, dem Einsatz von Atomwaffen, angesiedelt, wuchert aber auch in den konventionellen und ökonomischen Bereich hinein. Der Vordenker der US-Nuklearstrategie Thomas C. Schelling definierte Abschreckung als die Verhinderung einer Handlung durch Androhung von Konsequenzen. Trotz seiner Bedeutung fristet dieses Thema heute ein Nischendasein.

Die Realität der Abschreckung ist weitaus komplexer als ihre spieltheoretischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen.

Die Realität der Abschreckung ist weitaus komplexer als ihre spieltheoretischen Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Konflikte sind geprägt von Freund-Feind-Denken, von sprachlich und sozial konstruierten historischen Feindbildern und großem Misstrauen. „Othering“ verhärtet die Fronten, diskursive Grenzen erschweren Verständnis für die Gegenseite. Aktionen der anderen Seite werden oft als Bedrohung wahrgenommen, Paranoia dominiert politische Debatten. Entscheidungsträger überbieten sich mit Härte und Entschlossenheit, statt Lösungen zu suchen. Solche Dynamiken erschweren es, Abschreckungsstrategien zu entwickeln und Konflikte zu entschärfen.

Abschreckung wird in einem Kontext entwickelt, in dem Recht weniger zählt als ihre Funktionsweise und die Vermeidung des schlimmsten Falls. Die moralische Verurteilung der Gegenseite, die oft politische Debatten prägt, kann strategische Überlegungen vernebeln und zu Fehlschlüssen führen. Solche Verzerrungen behindern effektive Abschreckungsstrategien und erschweren das Konfliktmanagement.

Abschreckung erfordert Verständnis für die Psychologie der Gegenseite und die Wahrnehmung von Diskursveränderungen im Konfliktverlauf. Sie funktioniert durch strategische Empathie: Die Kenntnis der Ängste und Sorgen der anderen Seite hilft, Handlungen zu vermeiden, die diese Ängste schüren könnten. Dabei ist es besonders wichtig zu verstehen, dass Abschreckung im Kopf des Opponenten stattfindet. In Konfliktsituationen mit zerstörtem Vertrauen ist es aber schwierig, Entschlossenheit zu signalisieren, die nicht als eine Form der Aggression wahrgenommen werden könnte.

Im aktuellen Krieg in der Ukraine betrachtet Russland möglicherweise eine militärische Konfrontation mit der NATO als bereits im Gange.

Im aktuellen Krieg in der Ukraine betrachtet Russland möglicherweise eine militärische Konfrontation mit der NATO als bereits im Gange. Hinweise darauf liefern Beiträge russischer außenpolitischer Akteure und Kommentare in Medien, die auch westliches Publikum beeinflussen sollen. Diese Perspektive ist für russische Eliten wirkmächtig, unabhängig von westlicher Kritik. Wenn eine Seite glaubt, sich im Krieg zu befinden, die andere dies aber leugnet, beeinflusst dies die Organisation und die Instrumente von Abschreckung.

Diese Asymmetrie in der Interpretation der aktuellen Lage kann zu unterschiedlichen Risikoeinschätzungen auf beiden Seiten führen. Wenn der Westen glaubt, sich weit genug von einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Russland zu befinden, kann er tendenziell zu größeren eskalativen Schritten (aus Sicht Russlands) bereit sein. Darunter fällt auch die Entscheidung, den Einsatz von ballistischen Raketen des Typs ATACMS (aber auch die Marschflugkörper Storm Shadow beziehungsweise SCALP) auf Ziele in Russland freizugeben oder perspektivisch Marschflugkörper des Typs JASSM (mit einer Reichweite, je nach Konfiguration, von circa 1 000 Kilometern) an die Ukraine weiterzugeben. Wladimir Putin hat angedeutet, diese Entwicklung als eine direkte Kriegsbeteiligung des Westens zu betrachten.

Der wiederholte Einsatz solcher Raketen durch die Ukraine erhöht die Kriegskosten für Russland. Das Ziel ist, eine Verhaltensänderung zu bewirken. Das kann aber auch dazu führen, dass Russland versuchen könnte, die Kosten für die Ukraine und den Westen hochzutreiben. Dies kann von einer Reihe neuer hybrider Aktionen, einer Eskalation auf dem Schlachtfeld – wie dem jüngsten Einsatz einer experimentellen IRBM Oreshnik mit mehrfachen Gefechtsflugkörpern gegen Ziele im ukrainischen Dnipro, wie zusätzlichen Angriffen auf zivile Infrastruktur oder der Weitergabe moderner Antischiffsraketen P-800 Oniks an Rebellengruppen im Roten Meer – bis zur Wiederaufnahme von Atomwaffentests reichen. 

Wenn Russland glauben sollte, dass seine Abschreckung nicht mehr funktioniert, weil es wiederholten Angriffen mit Raketen ausgesetzt ist, die ohne größere Kosten für den Westen ablaufen, könnte es eine massive Eskalation oder Ausweitung des Konflikts suchen, um eine glaubwürdige Abschreckung wiederherzustellen. Letzteres kann auch weitere escalate to de-escalate-Aktionen bedeuten.

Bei solch einer dynamischen und angespannten Situation kann es immer wieder Momente der Fehlkalkulation und Fehlinterpretation geben.

Bei solch einer dynamischen und angespannten Situation kann es immer wieder Momente der Fehlkalkulation und Fehlinterpretation geben. Dann können schnell Automatismen greifen – der Point of no Return. Informationen auf beiden Seiten werden nie perfekt sein. Die Ziele einer Policy und ihre Konsequenzen können unter Stress auseinanderfallen. Abschreckung als Strategie der Konfliktverhinderung kann dann ins Gegenteil abdriften und zu Konflikteskalation beitragen.

Das Spannungsverhältnis von Abschreckung und strategischer Stabilität einerseits und der Beteiligung an einem bewaffneten Konflikt andererseits, kann zur Auflösung eben dieser strategischen Stabilität zwischen NATO und Russland beitragen. Aber auch längerfristig ausgerichtete Schritte der Abschreckung können (in einem übergeordneten diskursiven Rahmen des Misstrauens und der Feindschaft) zu einer Verstetigung und Verschärfung des Konflikts beitragen. 

Die zentrale Aufgabe der NATO, entsprechend des Strategic Concept 2022, ist deterrence and defence. Auch die deutsche Sicherheitsstrategie betont diesen Ansatz. Der Ausbau militärischer Infrastruktur, so auch die geplante Stationierung der sogenannten Long Range Fires (darunter auch Hyperschallwaffen wie Dark Eagle) in Deutschland durch die USA, die Anschaffung neuer Plattformen wie F-35 und eine höhere Anzahl von Manövern, sind eine Form der Selbstvergewisserung nach innen und eine Signalisierung von Entschlossenheit nach außen.

Letztere Komponente muss bei Russland nicht zwangsläufig den seitens der NATO erwünschten Effekt erzeugen – nämlich Zurückhaltung. Die Beteuerungen des Verteidigungsbündnisses, dass ihre Aktionen nicht gegen Russland gerichtet sind, werden unter heutigen Bedingungen noch mehr auf taube Ohren in Moskau stoßen als noch in den Jahren zuvor. Vielmehr können diese auf Abschreckung ausgerichteten Maßnahmen der NATO zu einer gesteigerten Wahrnehmung der Unsicherheit führen – und zu Aktionen Russlands mit dem Ziel, diese Unsicherheit zu reduzieren beziehungsweise die Unsicherheit der anderen Seite zu steigern.

Dies erfolgt beispielsweise durch den Aufbau russischer Kapazitäten, die Stationierung von Atomwaffen an den Grenzen der NATO, die Zunahme von Übungen der Atomstreitkräfte, die Entwicklung neuer Trägersysteme oder die Vertiefung von neuen Bündnissen. Auch der Bereich der sogenannten „esoterischen Superwaffen“ wie dem Hyperschallgleiter Avangard, die nuklear bestückte Poseidon-Unterwasserdrohne und der nuklear betriebene Marschflugkörper Burewestnik gehören zum Aufbau des Abschreckungspotenzials.

Es ist heute besonders wichtig zu erkennen, dass Maßnahmen, die auf Abschreckung zielen, nicht zwangsläufig den gewünschten deeskalierenden Effekt haben müssen.

Der Versuch der NATO, angesichts des Krieges in der Ukraine über Selbstvergewisserung nach innen und Entschlossenheit nach außen für sich selbst mehr Sicherheit zu generieren, führt letztlich zu einem Sicherheitsdilemma. Dies kann zu einer stetigen Steigerung von Potenzialen und Drohungen, einer Aufrüstungs- und Eskalationsspirale führen. Eben weil Russland im Glauben sein könnte, sich bereits in einem Krieg mit der NATO in der Ukraine zu befinden, können politische Forderungen nach dem Einsatz von Waffen gegen russisches Territorium (etwa von Taurus-Marschflugkörpern) zu einer schnelleren Eskalation und Kulmination in Form direkter Kampfhandlungen zwischen Russland und NATO führen.

Die Entscheidung zum Aufbau neuer militärischer Infrastruktur, eine konfrontative Haltung, wird auf Jahrzehnte die Beziehungen zwischen der NATO und Russland prägen – an Verbesserung ist kaum zu denken. Bestenfalls wird sie in mehreren Jahren, nachdem zumindest der militärische Teil des Konflikts in der Ukraine vorüber sein dürfte, in die Debatten um Rüstungskontrolle und Abrüstung einfließen und ein Verhandlungspfand werden.

Für politische Entscheidungsträger ist es heute besonders wichtig zu erkennen, dass Maßnahmen, die auf Abschreckung zielen, nicht zwangsläufig den gewünschten deeskalierenden Effekt haben müssen. Wenn die andere Seite diese Schritte als Bedrohung für ihre Sicherheit wahrnimmt oder sich bereits im Krieg sieht, könnten sie vielmehr die Reste der strategischen Stabilität zwischen beiden Seiten unterminieren.

Was hieraus folgen muss, ist eine vertiefte Debatte und Reflexion um strategische Interessen und gegebenenfalls eine Anpassung und Rekalibrierung dieser Interessen vor dem Hintergrund einer sich weiter verschärfenden sicherheitspolitischen Lage. Innezuhalten und sich Zeit für qualitativ hochwertige Entscheidungen zu nehmen, die sowohl kurzfristige Dynamiken als auch langfristige Entwicklungen reflektieren, ist das Gebot der Stunde.