Der 11. September 2001 war der Schlusspunkt des optimistischen Jahrzehnts, des vermeintlichen Endes der Geschichte. Terror und Tod brachen in die prosperierenden westlichen Gesellschaften ein, die sich eigentlich schon als Sieger im „Kampf um die Moderne“ sahen und deren Modell über kurz oder lang die ganze Welt befrieden würde. Wie auch die 9/11-Anschläge hat das demütigende Finale des 20-jährigen Krieges in Afghanistan mit einem Schlag die Distanz zu den ‚tatsächlichen‘ Realitäten zunichte gemacht. Es herrscht doppelte Verunsicherung im Westen: Wir sind verwundbar und wir können fremde Gesellschaften und Staaten nicht nach unseren Vorstellungen modellieren. Welche Schlüsse ziehen wir daraus für unsere Friedens- und Sicherheitspolitik?

9/11 erschütterte das Sicherheitsversprechen der Moderne, das sich auf die Erwartung einer immer besseren Beherrschung von Risiken stützt. Mögen die Anschläge vom 11. September und der folgende „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und im Irak noch als „Urknall unserer Welt“, als historische Zäsur gegolten haben, so folgten darauf zahlreiche andere „Epizentren“, die in den letzten beiden Jahrzehnten ihre Schockwellen aussandten: von der Wirtschafts- und Finanzkrise bis zur Pandemie und der Erderhitzung.

Dass keine größeren Terroranschläge mehr von afghanischem Boden aus geplant, dass Schulen aufgebaut wurden, dass eine Generation an Afghaninnen und Afghanen Bildung und Demokratie erfahren konnten, ist keine Kleinigkeit. Aber es hat keinen Bestand. Angesichts der Rückkehr der Taliban bleibt ein tiefes Gefühl der Vergeblichkeit. Wenn die einzige Hoffnung noch darin besteht, bei den neuen Machthabern Züge eines menschlicheren Umgangs mit ihrer Bevölkerung zu identifizieren, dann bleiben vom größten NATO-Militäreinsatz in der Geschichte des Bündnisses und der milliardenschweren Entwicklungszusammenarbeit vor allem zerstörte Illusionen übrig.

Angesichts der Rückkehr der Taliban bleibt ein tiefes Gefühl der Vergeblichkeit.

Die schmerzhaften Bilder aus Kabul haben mit einem Schlag alle Fragen aufgeworfen, mit denen wir uns in Europa am liebsten nicht befassen würden: Wie viel Opfer- und Risikobereitschaft sollen und können europäische Gesellschaften zur Erreichung außenpolitischer Ziele aufbringen? Was ist die Richtschnur unseres Engagements: Schutz der Menschenrechte oder Wahrung internationaler Stabilität? Was können Militär, Entwicklungszusammenarbeit und Demokratieförderung leisten und wie viel „strategische Geduld“ können wir aufbringen? Und schließlich die Gretchenfrage: Sag, wie hältst Du’s mit der Bundeswehr, also, wie gehen wir künftig mit Auslandseinsätzen um?

Die Prioritäten des europäischen Schutzgaranten, der USA, haben sich in den letzten Jahren verschoben. Die Krisen rund um Europa werden künftig immer weniger Amerikas Krisen sein. 9/11 war der Katalysator, der vormals konkurrierende Weltbilder in einer politischen Strategie zusammenführte. Aus Fukuyamas „the West was the best“ und Huntingtons „the West against the rest” entstand die politische Idee der „guten Zivilisation“, die ohne weiteres auf alle anderen Länder erfolgreich übertragen werden könnte. Vorausgesetzt, dass „der Westen“ diesen gemeinsamen Willen formulierte. Während ersteres – der Modellexport – bereits in den vergangenen zehn Jahren zurückgefahren wurde und große Stabilisierungsmissionen in den kommenden Jahren in den USA kaum Rückhalt haben werden, erlebt letzteres – das Freund-Feind-Denken und das Konzept des Westens als außenpolitisch homogen handelnder Block – im Ringen mit China ein Revival. Ob Europa den amerikanischen Rufen nach geostrategischer Einigkeit nachkommt ist noch unentschieden. In jedem Fall aber wird die europäische Region nicht mehr im Vordergrund des amerikanischen Interesses stehen. Ergo: Europa ist mit seiner Nachbarschaft alleine. 

Noch sind die politischen Implikationen des Afghanistan-Debakels nicht abzusehen. Sicher ist: Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Stabilisierung oder Erzwingung von Frieden werden künftig noch stärker als bisher von Politik, Medien und Bevölkerung in die Zange genommen. Die Dilemmata einer künftigen deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik führen vor Augen, dass die Anhänger der politischen Schwarz-Weiß-Fotografie mit ihren kategorischen Urteilen über die Zukunft von Auslandseinsätzen kaum als Ratgeber geeignet sind.

Die Krisen rund um Europa werden künftig immer weniger Amerikas Krisen sein.

Aus Afghanistan lernen – so ihr Tenor – hieße: Die Bundeswehr könne allenfalls zur Erreichung militärischer Ziele eingesetzt werden. Hätten die NATO-Truppen und mit ihr die Bundeswehr Afghanistan nach der Zerschlagung von Al-Qaida und der Vertreibung der Taliban 2002/2003 verlassen, könnte für den militärischen Teil des Engagements bilanziert werden: mission accomplished. „Ja“ zur punktuellen Zerschlagung terroristischer Gruppen, „nein“ zur Unterstützung von gesellschaftlichem Wandel. „Ja“ zur taktischen Ausbildung fremder Sicherheitskräfte, „nein“ zur langfristigen Demokratisierung ausländischer Armeen und Polizeien. Der demokratische Aufbau von Staaten durch Unterstützung von außen – auch im Lichte der Irak- und Mali-Erfahrungen – sei endgültig gescheitert. US-Präsident Biden erklärte in seiner Rede zur Lage der Nation die Ära des nation building für beendet. „Ich glaube nicht an state building“, so die europäische Version, vertreten durch Präsident Emmanuel Macron.

Pauschalurteile und eine schlichte Abkehr vom nation building helfen der Politik aber nicht weiter. In der vernetzten Weltrisikogesellschaft brauchen Verantwortungsträgerinnen und Militärplaner Netzwerke, internationale Partner und differenzierte Analysen für die Auswahl realistischer und zukunftsweisender Handlungsoptionen. Das gilt für die Krisenprävention wie für das akute Management von Gewaltkonflikten.

Schon heute bestimmt eine auf Risikominimierung bedachte Interventionspraxis das Engagement Europas außerhalb ihrer Grenzen. Militärschläge in Mali, Drohnen-Einsätze in Somalia oder eine Zusammenarbeit von Bundeswehr und Bundespolizei mit dubiosen Sicherheitskräften in Nigeria und in Tunesien – das ist tagtägliche Einsatzrealität europäischer und amerikanischer Sicherheitsdienste. Diese Formen des „remote warfare“ werden auch in Zukunft das Interventionsgeschehen Europas in Subsahara- und Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten bestimmen. Über die Wirksamkeit der Maßnahmen lässt sich trefflich streiten. Eine zunehmend verschlechterte Sicherheitslage in der Sahel-Region gegenüber einem kontinuierlichen Aufwuchs an Mitteln – nicht zuletzt der Bundesregierung – lässt erahnen, dass die bisherigen Ansätze aus Ertüchtigung von Militär und Grenzschutz, sektoralen Programmen der Entwicklungszusammenarbeit und vereinzelten Militärschlägen keine Selbstläufer für erfolgreiche Stabilisierung und Friedensförderung sind. Das Gegenteil ist zu befürchten, glaubt man den wenigen empirischen Befunden über die Radikalisierung von jungen Menschen und ihrer Motivation, sich bewaffneten Gruppierungen anzuschließen. Staatswerdungsprozesse sind komplex und oft gewaltsam. Soziale Ungleichheit ist stets Ursache für Instabilität. Und gegen politische Repression, korrupte Patronagenetzwerke und Ressourcenknappheit hat die Bundeswehr in solchen Kontexten keine Chance – das wissen auch die Soldaten.

Schon heute bestimmt eine auf Risikominimierung bedachte Interventionspraxis das Engagement Europas außerhalb ihrer Grenzen.

Was also tun? Nur weil das Demokratie-Export-Modell eine kaum zu bewältigende Herausforderung ist, heißt das nicht, dass ein friedensverträglicher Staatsaufbau ‚light‘ unmöglich wäre. Die UN-Missionen in Liberia und Ost-Timor zeigen das ebenso wie die Erfolge der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Die Friedens- und Konfliktforschung verbreitet grundsätzlich Hoffnung. Blaupausen gibt es zwar keine, aber zwingende Bedingungen für erfolgreiche Einsätze: Die internationalen Partner müssen sich auf gemeinsame, realistische und flexibel anpassbare Ziele ihres Engagements verständigen, politische Schlechtwetterlagen und auch ein Scheitern als Teil der Strategie einplanen und frühzeitig mögliche Risiken an lokale Partner sowie die heimische Bevölkerung kommunizieren. Die Arbeit in Konfliktregionen eilt nicht von Sieg zu Sieg. Strategische Geduld ist gefragt: Staatsaufbau ‚light‘ mit einem rechenschaftspflichtigen Sicherheitssektor ist eine Herkules-Aufgabe für 30 bis 40 Jahre. Diese Voraussetzungen müssen geknüpft sein an Bedingungen vor Ort. Hierzu zählen ein von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptierter Friedensvertrag, ein hohes politisches Interesse an Zusammenarbeit, ein Mindestmaß an öffentlicher Sicherheit sowie rudimentäre institutionelle staatliche Kapazitäten. Kommen diese Bedingungen nicht zusammen und erfolgen nation building, Entwicklungszusammenarbeit und Anti-Terror-Maßnahmen als voneinander losgelöste Agenden internationaler Akteure – wie aktuell im Sahel-Raum zu beobachten –, ist die Gefahr des Scheiterns ähnlich hoch wie in Afghanistan.

Mit den „Leitlinien Krisenprävention“ und dem „vernetzten Ansatz“ hat die Bundesregierung auf dem Papier bereits die Voraussetzungen geschaffen, um friedensfördernden Staatsaufbau auf diese Weise zu unterstützen. In der Praxis jedoch dominiert allzu häufig der Eigensinn einzelner Ressorts, die mit jeweils eigenen Zielen, Programmen, Partnern und Ansätzen vor Ort tätig sind. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn der „vernetzte Ansatz“, das Ineinandergreifen von zivilen und militärischen Instrumenten zur Stabilisierung und Friedenssicherung sowie die ressortübergreifende Zusammenarbeit der Ministerien, wurde in Afghanistan initiiert, praktiziert und weiterentwickelt. Nicht der Ansatz als solcher ist gescheitert, sondern seine Umsetzung. Es braucht den politischen Willen aller beteiligten Akteure zur gemeinsamen Analyse, Strategieformulierung und Umsetzung vor Ort. Das gilt für die deutsche wie die europäische Politik. Rufe nach einer schnellen Eingreiftruppe durch den EU-Chefdiplomaten Borrell werden dieser komplexen Anforderung nicht gerecht – zumindest dann nicht, wenn sie nicht Teil einer größeren Strategie zur Friedensförderung sind.

Nur weil das Demokratie-Export-Modell eine kaum zu bewältigende Herausforderung ist, heißt das nicht, dass ein friedensverträglicher Staatsaufbau ‚light‘ unmöglich wäre.

Die Bearbeitung und Transformation von Gewaltkonflikten wird stets eine Risikoinvestition bleiben. Den notwendigen langen Atem und einen tragfähigen politischen Konsens über die Einsätze kann es nur dann geben, wenn die Gesellschaft künftig stärker als – kritischer – Partner von Außen- und Sicherheitspolitik wahrgenommen wird. Bisher wurde eine solche Debatte von der Öffentlichkeit nicht besonders nachgefragt. Vielmehr haben sich beide Seiten, Politik und Gesellschaft, in einer Koexistenz des freundlichen Desinteresses eingerichtet: Von wenigen Ausnahmen abgesehen – beispielsweise die Irak-Invasion 2003 oder die Migrationskrise – findet eine öffentliche Befassung mit Fragen der internationalen Politik nicht statt. Umgekehrt werden Auslandseinsätze eher an der Bevölkerung vorbei verhandelt und jede Partei ist froh, wenn sie Mandatseinsetzungen oder -verlängerungen im Parlament ohne größere Debatten übersteht.

Daher überrascht es wenig, wenn die jährliche Umfrage zur Einstellung der Öffentlichkeit zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Bürgerinnen und Bürgern eine insgesamt geringe Kenntnis über die konkreten Einsätze attestiert – Tendenz abnehmend. Auch andere Umfrageergebnisse zeigen, dass sich viele Menschen bei Militäreinsätzen nicht einfach bei „Pro“ oder „Contra“ verorten, sondern sich mit vielen „Ja-abers“, Zweifeln und Fragen irgendwo dazwischen einordnen. Um die innenpolitischen Voraussetzungen für eine wirksame und von der Öffentlichkeit getragene Außenpolitik zu schaffen, braucht es ehrliche Debatten über die Ziele, Kosten und Risiken von Einsätzen. Dies muss auf einer informierten Grundlage geschehen, z.B. durch die konsequente Evaluierung von Militäreinsätzen.

Wer heute über Afghanistan urteilt, hat die Bilder vom 11. September vor Augen. Und das Erinnern an diesen Tag kann viele Formen annehmen: Das persönliche Erinnern an das „Wo warst Du, als es geschah“ und die vielleicht heute schon verflüchtigten Gefühle. Das zeremonielle Erinnern in Staatsakten und Mahnmalen. Das mediale Erinnern in den immer wiederkehrenden Bilderfluten und Minutenprotokollen. Aber eben auch ein politisch-gesellschaftliches Erinnern in dem Sinne, nun, 20 Jahre später, das politische Erbe des 11. September mit seinen ganzen Irrwegen und Illusionen als etwas zu begreifen, von dem eine ernsthafte Debatte über neue Entwürfe für eine konkrete Friedens- und Sicherheitspolitik ihren Ausgang nehmen kann.