Zum Jahreswechsel hat Frankreich die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen. In dieser Woche treffen sich die EU-Verteidigungsminister und -ministerinnen zu einem informellen Treffen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Dabei wird es unter anderem um die Themen nukleare Sicherheit und atomare Abschreckungsstrategien gehen.
In den vergangenen Jahren hat sich der französische Präsident deutlich als Verfechter der Atomkraft positioniert. Geschichtlich gesehen ist Frankreichs unabhängige Entwicklung der Atomtechnologie für Nuklearwaffen und Energieerzeugung eine wichtige Quelle nationalen Stolzes. Seit den 1990er Jahren ist der Atomtrend jedoch rückläufig – eine Folge der Katastrophe von Tschernobyl. Jährliche Berichte des internationalen Beraters für Energie- und Atompolitik, Mycle Schneider, zeigen, dass Atomenergie weltweit im Niedergang ist. Dennoch wirbt Frankreich unermüdlich für Investitionen in diese Technologie.
Ohne eine Atomwirtschaft auf dem neuesten technischen Stand kann Frankreich sein Nuklearwaffenarsenal nicht weiter ausbauen und modernisieren.
Zum 1. Januar 2022 hat ein Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission Investitionen in Atomenergie und Erdgas als nachhaltig eingestuft. Bei der sogenannten EU-Taxonomie geht es um Milliarden-Fördertöpfe. Emmanuel Macron machte sich dafür stark, der Atomenergie ein „grünes Label“ zu verschaffen. Welche Interessen Frankreichs tatsächlich hinter der Atomenergie stehen, zeigt ein Zitat aus der Rede Macrons bei seinem Besuch in der Atomschmiede Le Creusot im Jahr 2020: „Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie – und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.“ Im Klartext heißt das: Ohne eine Atomwirtschaft auf dem neuesten technischen Stand kann Frankreich sein Nuklearwaffenarsenal nicht weiter ausbauen und modernisieren. Das gilt für alle neun Atomwaffenstaaten.
Derzeit rüsten diese Staaten alle auf. Russland und die USA beschaffen neue Trägersysteme, die ihre Atombomben sehr viel schneller und präziser ins Ziel bringen, so dass dem Gegner keine Abwehrmöglichkeiten bleiben – beispielsweise mit „Hyperschallraketen“. Damit hat ein neues atomares Wettrüsten begonnen. Der US-Thinktank Atlantic Council beschreibt die Notwendigkeit der zivilen Nutzung der Atomenergie für die nationale Sicherheitspolitik ganz offen: „Die zivile US-amerikanische Atomindustrie bildet ein strategisches Anlagegut von lebenswichtiger Bedeutung für die nationale Sicherheit der USA.“ Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Reden anderer Präsidenten von Atomwaffenstaaten.
Hyperschallraketen und Small Modular Reactors: Derzeit rüsten alle neun Atomwaffenstaaten auf.
Der zivile Atomkomplex kostet die USA jährlich mindestens 42,4 Milliarden US-Dollar. Die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) gibt an, dass alle Atomwaffenstaaten zusammen über 100 Milliarden US-Dollar jährlich in ihre Nuklearwaffenarsenale investieren.
Auch Frankreich will an technischen Entwicklungen teilhaben, die in anderen Atomwaffenstaaten schon längst begonnen haben. Präsident Macron hat angekündigt, eine Milliarde Euro in die Forschung und den Bau von Small Modular Reactors (SMR) zu investieren. SMR-Reaktoren sind kleine Atomreaktoren, die vor allem als Antrieb von U-Booten und damit ihrer militärischen Nutzung an entlegenen Kriegsschauplätzen dienen sollen. Die neuen Jagd-Unterseeboote sollen Frankreichs Weltmacht-Ambitionen unterstreichen. Hintergrund ist unter anderem der geplatzte U-Boot-Deal mit Australien: Im vergangenen Jahr kündigte Australien den Auftrag für französische Diesel-U-Boote und kaufte stattdessen Atom-Technologie aus den USA und Großbritannien.
Die örtlich flexiblen, U-Boot-basierten atomaren Waffensysteme besitzen für alle Atomwaffenstaaten größte strategische Bedeutung. Sie haben die Fähigkeit, bis zu drei Monate ohne Auftauchen unter Wasser zu bleiben; sie können mit hoher Geschwindigkeit unerkannt weite Distanzen zurücklegen und an nahezu beliebigen Orten rund um den Globus auftauchen. Bis zu 20 Raketen mit jeweils einem Dutzend individuell lenkbarer Atomsprengköpfe können von dort abgefeuert werden. All das spielt in der Nuklearwaffendoktrin der fünf „offiziellen“ Atomwaffenstaaten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China eine zentrale Rolle. Gleichzeitig untermauert der Besitz dieser Technologie den Weltmachtstatus dieser Länder. Frankreich – ebenso wie den übrigen Atomwaffenstaaten – ist daran gelegen, diesen weiter auszubauen.
Vom 12. bis zum 13. Januar 2022 findet das erste Treffen der EU-Verteidigungsminister und -ministerinnen unter französischer Ratspräsidentschaft in Brest statt – dem Ort, wo die seegestützten französischen Atomwaffen stationiert sind: eine Demonstration der Vormachtstellung Frankreichs. Schon bei seiner Rede 2020 in Le Creusot bekräftigte der französische Präsident die militärischen Ambitionen des Landes: „Die Atomenergie wird der Eckpfeiler unserer strategischen Autonomie bleiben. Es geht um alle Teile der Abschreckung, um den Antrieb unserer Atom-U-Boote, U-Boote für den Abschuss ballistischer Raketen. Und um den Antrieb unserer nuklearen Flugzeugträger.“
Hinter der geplanten Modernisierung der französischen Atomkraft für angeblich billigeren Strom versteckt Frankreich die Agenda seines Nuklearwaffenprogramms.
Hinter der geplanten Modernisierung der französischen Atomkraft für angeblich billigeren Strom versteckt Frankreich folglich die Agenda seines Nuklearwaffenprogramms. Die exorbitanten Kosten seiner zivil-militärischen Atomindustrie bürdet der Staat seit Jahren dem französischen Steuerzahler auf. Die Kosten für den Bau des Druckwasserreaktors in Flamanville betragen beispielsweise 19,4 Milliarden Euro. Letztlich subventionieren Stromkunden und Investoren mit dem „Klimaretter Atomkraft“ militärische Anwendungen.
In der europäischen Union sind Atomenergie und die nukleare Teilhabe umstritten. Die EU-Taxonomie wird von Österreich und Luxemburg stark kritisiert. Gleichzeitig existiert mit dem Atomwaffenverbotsvertrag bereits seit dem 22. Januar 2021 ein multilateraler UN-Vertrag zum Verbot der Massenvernichtungswaffen.
Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft ist Frankreich nun in der perfekten Position, um die zivil-militärische Nutzung der Atomenergie und eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsstrategie, die auf der Doktrin der nuklearen Abschreckung fußt, voranzubringen.