Putins Krieg gegen die Ukraine hat die kooperative Sicherheitsarchitektur nicht nur beschädigt, sondern nachhaltig zerstört. Die Helsinki-Akte von 1975, die Charta von Paris aus dem Jahr 1990 und die NATO-Russland-Grundakte von 1997 schufen eine Grundlage für sicherheitspolitische Kooperation in Europa – ja sogar „ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“, wie die Charta von Paris euphorisch titelte. So jedenfalls sahen die Staatenlenker dies im Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges. 

Heute wirft der Krieg in der Ukraine einen langen Schatten über die europäische und die globale Sicherheit. Zusammenarbeit und Kooperation sind von militärischer Konfrontation abgelöst worden. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist zerstört, Angst vor Abhängigkeit im Energiesektor hat zu einer Zeitenwende geführt und das Konzept der positiven Wirkung ökonomischer Interdependenz („Wandel durch Handel“) hat sich nicht nur im Falle Russlands als Fehlwahrnehmung erwiesen, sondern funktioniert auch im Verhältnis der USA und ihrer asiatischen und europäischen Verbündeten zu China nicht. Im Gegenteil: Die Hinwendung zu konfrontativer, im Wesentlichen militärisch-basierter Verteidigungspolitik ist global zu spüren.

Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sind verwischt.

Die weltweiten Militärausgaben befinden sich mit über zwei Billionen US-Dollar auf dem höchsten Stand aller Zeit. Angesichts der Haushaltsankündigungen für die nächsten Jahre wird diese Summe in Zukunft Jahr für Jahr weiter rasant steigen. Nuklearwaffen sind wieder in den Fokus gerückt. Nach dem überraschenden und kaum für möglich gehaltenen Angriff Russlands ist nachvollziehbar, dass jetzt – als erster Reflex – aufgerüstet wird, dass ökonomische Abhängigkeiten abgebaut werden und dass Sorgen um kritische Infrastruktur bestehen. Es geht auch nicht nur um traditionelle militärische Bedrohungen. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden sind verwischt. Hybride Kriegsführung, der Einsatz von Söldnern, Cyberkrieg, Zerstörung kritischer Infrastruktur, Unterminierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit Desinformationskampagnen und Wahlbeeinflussung, Sanktionen und andere Maßnahmen des Wirtschaftskrieges sind zum Standard internationaler Auseinandersetzung geworden.

Gibt es einen Ausweg aus der ständigen politischen, ökonomischen und vor allem militärischen Eskalation? Trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit eines Endes des Machtkampfs mit Putin, trotz der zugespitzten Situation in Ostasien, trotz der vielen jetzt weniger beachteten Kriege und Konflikte – sei es Jemen, Syrien, Afghanistan oder Mali – ist es notwendig, über das mögliche Ende dieser Kriege nachzudenken. Dies sollte parallel auf drei Ebenen passieren: sicherheitspolitisch, politisch-diplomatisch und ökonomisch.

Sicherheitspolitik ist mehr als Verteidigung mit Waffen.

Bei allem Verständnis für die jetzt im Zeichen der Zeitenwende hektisch in Auftrag gegebene Beschaffung neuer Waffen ist zu beachten, dass Sicherheitspolitik mehr ist als Verteidigung mit Waffen. Auch wenn zurzeit kein Weg für eine Verhandlungslösung des Ukrainekrieges in Sicht ist, sollte sie mitbedacht werden. Letztlich kann dieser Krieg nur durch Übereinkünfte am Verhandlungstisch beendet werden. Auch wenn Russland den Ukrainekrieg völkerrechtswidrig vom Zaun gebrochen hat und offensichtlich Kriegsverbrechen begeht, wird es langfristig in Europa keine Sicherheit ohne Russland und schon gar nicht gegen Russland geben. Die Beachtung russischer Sicherheitsinteressen, so schwer dies auch wegen der russischen Aggression und Putins Fantasievorstellungen von Russland fällt, ist Voraussetzung für eine Deeskalation, für seriöse Verhandlungen.

Politisch-diplomatisch ist es erforderlich, die derzeitige geopolitische Ausrichtung im Konzert der Mächte vom Ende her zu denken. Viele Länder setzen auf eine militärisch gestützte geostrategische Außenpolitik. Chinas durchsetzungsfähige Militär-, Außen- und Wirtschaftspolitik wird zu Recht mit Sorge gesehen. Aber auch die EU will militärisch autonom werden. Die USA versuchen Partner für ihre in Konkurrenz zu China geführte Politik zu finden. Auch andere Mächte wie Australien, Japan oder Indien positionieren sich in Rivalität zu China. 

Geopolitik, die nur die eigenen Vorteile maximiert, führt in eine gefährliche Sackgasse.

Statt auf Geopolitik zu setzen, ist es erforderlich, den Fokus auf Werte (Demokratie, Menschenrechte) und verbindliche Regeln (Völkerrecht) zu legen, auch wenn Putin gerade das Völkerrecht in eklatanter Weise verletzt und Demokratie in China ein Fremdwort ist. Es ist erforderlich, das Narrativ deutlich zu verändern. Der „Westen“, der mit Rigorismus Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einfordert, hat allzu oft in besserwisserischer Manier diese Werte und Prinzipien betont – „the West against the rest“. Man wendete oft genug Doppelmoral an und beachtete diese Werte selbst nicht, wie beispielsweise im sogenannten Krieg gegen den Terror und im Irakkrieg. Sollen diese Prinzipien und Projekte für Demokratie und gegen Autokratie überzeugen, dann muss man das Konzept des „Westens“ völlig aufgeben und versuchen, mit demokratischen Ländern partnerschaftliche und nicht euro-zentrische (oder „westro-zentrische“) Beziehungen zu pflegen. Kurzum, Geopolitik, die nur die eigenen Vorteile maximiert, führt in eine gefährliche Sackgasse: Der Zusammenprall ist vorprogrammiert.

Ist die alleinige Antwort des „Westens“, mit militärischen Mitteln im geopolitischen Konkurrenzkampf die Oberhand zu behalten? Ökonomisch ist es sinnvoll, Abhängigkeiten abzubauen und Lieferketten zu diversifizieren. Das kann nicht durch eine radikale Entkopplung geschehen, sondern muss schrittweise erfolgen. Offenbar hat der Schock der Pandemie, vor allem aber haben Russlands Möglichkeiten, mit dem Stopp von Energielieferungen zu erpressen, die Prioritäten ein wenig verändert. Aber längst nicht alle Prioritäten. Noch nie seit den frühen 1990er Jahren war die militärische Belastung des globalen Einkommens so hoch wie heute, deutlich über zwei Prozent mit einem Trend zu weiteren Steigerungen.

Rüstungskontrolle findet zurzeit nicht statt.

Soll die Zeitenwende nur aus einer Rückbesinnung auf alt-hergebrachte Muster der militärisch-gestützten Gewaltanwendung bestehen? Rüstungskontrolle findet zurzeit nicht statt. Die Vereinten Nationen sowie andere Rüstungskontrollforen sind an die Seite gedrängt. Rüstungskontrolle und Deeskalation müssen aber schon jetzt mitbedacht werden, auch wenn die Kremlführung sich noch dagegen sperrt und die chinesische Führung zurzeit hierfür kaum ansprechbar ist.

Die Fortschreibung des jetzigen Kurses führt global in eine Situation, die gefährlicher wird als die Konfrontation in der Hochphase des Kalten Krieges, da die Welt jetzt zusätzlich durch die Klimakrise ernsthaft in Gefahr ist. 
Obwohl die Risiken des Klimawandels und der Aufrüstung bekannt sind, ist derzeit keine Umkehr des Trends in Sicht. Die beiden Krisen steuern auf eine scheinbar unabweisbare Katastrophe zu. Nachdem die alte Weltordnung – mit einem halbwegs funktionierenden Multilateralismus, mit Kompromissen und einem Geben und Nehmen – abgelöst wurde durch nationalistische Bestrebungen, die dann im Falle Russlands zum Völkerrechtsbruch führten, durch Betonung von Nuklearwaffen und durch die Verfolgung vermeintlicher Eigeninteressen, werden die Ziele der Klimaabkommen verfehlt und Rüstungskontrollverträge geschliffen.

Die G20-Mitgliedsländer sind für 82 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich.

Geopolitisch ambitionierte Mächte wie China, Indien, die Türkei, Brasilien, Südafrika oder Saudi-Arabien müssen in die Bemühungen zur Rüstungskontrolle eingebunden werden. Als entsprechendes Forum bieten sich die G20-Gipfeltreffen quasi „naturgegeben“ an. Die G20 fokussierten ihre Gespräche zunächst vorrangig auf makroökonomische Fragen, haben inzwischen aber ebenso über nachhaltige Entwicklung, Energie, Umwelt und Klimawandel verhandelt, nicht jedoch ernsthaft über globale Sicherheitspolitik. Die G20-Mitgliedsländer sind aber für 82 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Fast der gesamte Rüstungsexport entfällt auf die G20 und 98 Prozent der Atomsprengköpfe lagern in ihren Arsenalen. Die heutigen militär-basierten Rüstungsanstrengungen bündeln sich in den G20. 

Sollen unsere Gesellschaften resilienter, ökologisch nachhaltiger werden, dann müssen die Prioritäten geändert werden.

Außerdem bestehen zwischen Klima- und Rüstungspolitik Zusammenhänge, die sich am deutlichsten in den Kriegen und gewaltsamen Konflikten der letzten Jahrzehnte, den Fluchtbewegungen, Migrantenströmen und entsprechenden Gegenreaktionen niederschlagen. Sollen unsere Gesellschaften resilienter, ökologisch nachhaltiger werden, dann müssen die Prioritäten geändert werden, dann kann nicht – ohne Aussicht auf Deeskalation – ein so großer Anteil an Ressourcen permanent ins Militär gesteckt werden. Die Zeitenwende muss also mehr enthalten als die derzeitige Aufrüstung.  

Da die Mitglieder dieses exklusiven G20-Clubs auch die Hauptverursacher des Klimawandels sind, tragen sie die Hauptverantwortung für die beiden aktuellen Katastrophentrends. Es ist also Zeit, sie an ihre Verantwortung zu erinnern und sie zur Umkehr zu drängen. Vielleicht kann die Tatsache, dass Indien in diesem Jahr den Vorsitz der G20 führt, genutzt werden, die Sicherheitspolitik prominent auf die Agenda der G20 zu setzen. Denn Indien hat sich mit Verweis auf die Wahrnehmung eigener Interessen geweigert, die westlichen Sanktionen gegen Russland zu übernehmen. Damit hat die Regierung in Delhi – ähnlich wie einige andere Länder der G20-Gruppe (Brasilien, Südafrika, die Türkei) – die Tür für Gespräche offengehalten. Um eine Zeitenwende hin zu einer globalen Sicherheitsordnung und Kooperation in der Klimakrise zu ermöglichen, bedarf es mehr als die derzeitige deutliche militärische Positionierung des Westens in Konfrontation mit Russland.

Es ist wünschenswert, dass sich die Führungsmächte des globalen Südens im Rahmen der G20-Gespräche um eine regelbasierte, multilaterale Weltordnung bemühen. Dass es Möglichkeiten für eine Sicherheitsordnung gibt, die über den europäischen Tellerrand schaut, deutet der indische Außenminister Jaishankar an, wenn er selbstbewusst sagt: „Europas Probleme sind die Probleme der Welt, aber die Weltprobleme sind nicht die europäischen.“