In der aktuellen Krise zählt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu den verschiedenen Gesprächskanälen, in welchen um eine Deeskalation gerungen wird. Gerade in der deutschen Politik wird ihre mögliche Rolle regelmäßig hervorgehoben. So traf Außenministerin Baerbock bei ihrem Besuch in Kiew auch mit deutschen Expertinnen und Experten der OSZE-Sonderbeoachtungsmission für die Ukraine zusammen, um die Wertschätzung der Bundesregierung für ihre wichtige Arbeit auszudrücken.
Zur gleichen Zeit gab der russische Botschafter bei der OSZE, Alexander Lukashevich, bekannt, dass Russland auch künftig nicht beabsichtige, seine sicherheitspolitischen Initiativen unter dem Dach der OSZE zu besprechen. Die Organisation sei geprägt von „amorphen Strukturen“ und ihr fehle ohne einen internationalen Rechtsstatus die Relevanz. Wie steht es um die größte regionale Sicherheitsorganisation der Welt auf dem Weg zum 50. Jahrestag der Schlussakte von Helsinki im Jahr 2025?
Ultimativ fehlt es der OSZE an völkerrechtlicher Autorität.
Was auf den ersten Blick wie ein russischer Affront anmutet, ist in der Sache zunächst richtig. Die OSZE hat keinen völkerrechtlichen Gründungsvertrag. Sie ist trotz der Umbenennung von einer Konferenz (KSZE) zu einer Organisation (OSZE) auf dem Budapester Gipfel 1994 auch weiterhin ein politisches Dialogforum mit quasi-permanenten Strukturen. Nicht umsonst spricht man von 57 „Teilnehmerstaaten“ zwischen Vancouver und Wladiwostok, nicht von Mitgliedsstaaten.
Das ist mehr als eine juristische Spitzfindigkeit. Das ungesicherte rechtliche Fundament der Organisation hat unmittelbare Auswirkungen auf ihre Arbeit: Status, Immunität und Privilegien für Büros und Beschäftigte müssen mit jedem Land bilateral vereinbart werden; Entscheidungen in der OSZE sind rechtlich nicht bindend. Ultimativ fehlt es der OSZE also an völkerrechtlicher Autorität, auch und gerade im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen.
Umso zentraler wäre für die OSZE daher ihre politische Autorität. Als einziges sicherheitspolitisches Forum bringt sie alle europäischen Länder, die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die USA, Kanada und die Mongolei zusammen. Russland und die NATO-Staaten sitzen wöchentlich am selben Tisch im Konferenzzentrum der Wiener Hofburg. Weitreichende Beschlüsse sind aufgrund der tiefen Spaltungen innerhalb der Organisation und der bestehenden Konsensregel allerdings eine Ausnahme. Gelingt es dennoch – wie bei der Einrichtung der OSZE-Beobachtungsmission zu Beginn der Ukrainekrise 2014, zu welcher die intensiven Verhandlungsbemühungen des damaligen deutschen Außenministers Steinmeier maßgeblich beitrugen – haben OSZE-Entscheidungen ein hohes normatives Gewicht.
Weitreichende Beschlüsse sind aufgrund der tiefen Spaltungen innerhalb der OSZE und der bestehenden Konsensregel allerdings eine Ausnahme.
Leider lassen sich derartige Sternstunden der Diplomatie an einer Hand abzählen. Die OSZE befindet sich in einer Dauerkrise am Rande der Handlungsunfähigkeit. Der schwedische Vorsitz endete im Dezember 2021 mit wenig substantiellen Ergebnissen. Das von der OSZE ausgerichtete Human Dimension Implementation Meeting, Europas größte Menschenrechtskonferenz, scheiterte am Widerstand Russlands. Auseinandersetzungen um Wahlbeobachtungsmissionen sind die Regel. Einigungen lassen sich auch bei vermeintlich operativen Themen wie dem Jahresbudget oder der Tagesordnung für die jährliche Sicherheitskonferenz nur noch mit enormer Mühe herstellen. 2020 blickte die Organisation besonders tief in den Abgrund, als in einer beispiellosen Führungskrise die Nachbesetzung und Mandate ihrer vier wichtigsten Posten inklusive des Generalsekretärs zur Disposition standen.
Hintergrund sind grundlegende Differenzen mit Blick auf den Wesenskern der OSZE. Die westlichen Staaten betonen den Sicherheitsansatz aus politisch-militärischen, Wirtschafts-, Umwelt- und Menschenrechtsfragen, der aus Helsinki hervorgegangen ist und die Organisation kennzeichnet. Einige östliche Teilnehmerstaaten stellen vor allem die Zuständigkeit und Agenda im Bereich der Menschenrechte in Frage. Würde man die OSZE heute gründen wollen, wäre selbst eine Verständigung auf die Prinzipen der Organisation kaum mehr vorstellbar. An Reformversuchen über die Jahre mangelte es freilich nicht. Heraus kam dabei meist wenig. Ob künftige OSZE-Vorsitze – in diesem Jahr Polen, anschließend Nordmazedonien, Estland (Bestätigung steht noch aus) und Finnland – mehr Erfolg haben werden, darf bezweifelt werden.
Moskau betont einerseits die fehlende Relevanz der OSZE, hat andererseits aber genau zu diesem Bedeutungsverlust durch die Schwächung von Mandaten und operativen Fähigkeiten beigetragen.
Verantwortung für den beklagenswerten Zustand der OSZE tragen viele. Moskau betont einerseits die fehlende Relevanz der Organisation, hat andererseits aber genau zu diesem Bedeutungsverlust durch die Schwächung von Mandaten und operativen Fähigkeiten beigetragen. Kleinere Länder wie Armenien und Aserbaidschan behindern oft auch einfachste Entscheidungen zu Verfahrensfragen aus nationalem Konkurrenzkalkül. Zuständigkeiten von OSZE-Feldmissionen werden von den jeweiligen Gastländern beschnitten, was bei aller Kritik freilich ihr souveränes Recht ist. Auch westliche Länder gaben der OSZE oft nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit und bevorzugten andere Organisationen oder bilaterale Formate. Viele Staaten erwiesen ihr zudem mit einem rigorosen Sparkurs einen Bärendienst.
Dabei bietet kaum eine Organisation in der Welt Sicherheit zu einem günstigeren Preis an. Ihr reguläres Jahresbudget von zuletzt etwa 138 Millionen Euro ist im internationalen Vergleich bescheiden. Die Ukraine-Beobachtungsmission hat ein separates Budget von circa 100 Millionen Euro. 2020 beschäftigte die OSZE über 3 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus 51 Ländern an 20 Orten. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind dabei durchaus beachtlich, was sich gerade auch im Ukrainekonflikt wieder zeigt. Oft fernab öffentlicher Aufmerksamkeit macht die Präsenz der unbewaffneten internationalen Beobachter entlang der Kontaktlinie im Osten einen signifikanten Unterschied. Seite an Seite arbeiten lokales ukrainisches und entsandtes amerikanisches, russisches und europäisches Personal. Laut dem jüngsten Bericht der Generalsekretärin Helga Schmid hat die OSZE zwischen Juli 2019 und Oktober 2021 über 3 000 lokale Waffenruhen vermittelt. Millionen von Zivilisten wurde durch Reparaturarbeiten an kritischer Wasser- und Elektrizitätsinfrastruktur der Zugang zur Grundversorgung ermöglicht. In täglichen Berichten dokumentiert die OSZE die (Nicht-)Einhaltung des Minsker Abkommens und ist eine unentbehrliche neutrale Stimme vor Ort.
Kaum eine Organisation in der Welt bietet Sicherheit zu einem günstigeren Preis an.
Warum ihr so entscheidendes Wirken dennoch nicht breitere Beachtung findet, hat verschiedene Gründe. Die Beobachter werden zum einen massiv in der Ausübung ihrer Arbeit behindert. Der Zugang zu relevanten Regionen und Objekten wird ihnen verwehrt, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt und OSZE-Beobachtungsdrohnen gestört oder abgeschossen. Insgesamt 134 783 Waffenstillstandsverletzungen registrierte die Organisation 2020, was die Kapazitäten, Waffenruhen zu vermitteln, um ein Vielfaches überschreitet. Angesichts der geopolitischen Dynamiken und der raschen aktuellen Entwicklungen auf der Weltbühne gerät die mühsame deeskalierende Arbeit in den Konfliktzonen jedoch immer wieder aus dem Fokus der Teilnehmerstaaten.
Welche Rolle also kann die OSZE für eine künftige europäische Sicherheitsordnung spielen? Wie bei jeder Organisation liegt das letztlich am politischen Willen der beteiligten Staaten. In der OSZE ist dieser aktuell bei entscheidenden Akteuren nicht vorhanden. Daher ist der naheliegendste Weg – nämlich das Rad nicht neu zu erfinden, sondern die Organisation zu entstauben und zu stärken – auf absehbare Zeit kaum praktikabel. Die Krise der OSZE ist keine operative, sondern eine politische. Mit Blick auf ihren einzigartigen Erfahrungsschatz was die Früherkennung und Prävention sowie das Management und die Moderation von Konflikten betrifft sowie ihren erprobten Instrumentenkasten für vertrauensbildende Maßnahmen ist das zutiefst bedauerlich.
Laut dem jüngsten Bericht der Generalsekretärin Helga Schmid hat die OSZE zwischen Juli 2019 und Oktober 2021 über 3 000 lokale Waffenruhen vermittelt.
In der akuten Zuspitzung, die wir derzeit beobachten, ist jeder Gesprächskanal richtig und wichtig – ganz gleich ob es sich um direkte Gespräche zwischen Russland und den USA, den NATO-Russland-Rat, ein reaktiviertes Normandie-Format oder diskrete Diplomatie hinter den Kulissen handelt. Was auch immer der Erhaltung des Friedens dient, erfüllt seinen Zweck. Langfristig werden wir eine inklusive Plattform für europäische Sicherheit jedoch dringend brauchen. Die für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik konstitutive kollektive Verteidigung im Rahmen der NATO auf der einen Seite und kooperative Sicherheit für Gesamteuropa auf der anderen schließen einander nicht aus. Niemandem ist das mit Blick auf die eigene Geschichte bewusster als Deutschland. Gerade deshalb haben wir ein besonderes Interesse an einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung – auch wenn das Ziel derzeit in besonders weiter Ferne zu liegen scheint.