Der russische Krieg gegen die Ukraine wirft seinen Schatten weiterhin auf andere Konfliktgebiete. Die Spannungen zwischen den seit Langem verfeindeten Nachbarn Armenien und Aserbaidschan nehmen wieder zu, nachdem die diplomatischen Bemühungen unter Vermittlung der EU – wenn auch sehr langsam – Wirkung zu zeigen begannen und immerhin eine zwischenzeitliche Erholungsphase zu beobachten gewesen war. Die reale Situation vor Ort, vor allem aber das Machtgefälle zwischen den beiden Hauptkontrahenten und die begrenzten Einflussmöglichkeiten internationaler Akteure in der Region lassen jedoch viel Spielraum für weitere Eskalationsschritte in der nächsten Zeit.

2020 eroberte Aserbaidschan in einem 44 Tage andauernden Krieg die zuvor von armenischen Truppen besetzten Gebiete rund um Bergkarabach sowie Teile Bergkarabachs selbst zurück. Die geschrumpfte „Republik Bergkarabach“, die faktisch von armenischen Lokalbehörden verwaltet wird, wurde unter den Schutz russischer Friedenstruppen gestellt, die nach dem von Russland vermittelten trilateralen Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland, Armenien und Aserbaidschan entsandt worden waren.

Anfang August 2022 kam es im Bereich des Latschin-Korridors, der Bergkarabach mit Armenien verbindet und für dessen Sicherung die russischen Friedenssoldaten verantwortlich sind, erneut zu tödlichen Gefechten. Russland und auch die Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zum Südkaukasus machten Aserbaidschan für die Verletzung des Waffenstillstands verantwortlich, was in diesen Zeiten, in denen es zwischen Moskau und Brüssel wenig Übereinstimmung gibt, beachtlich ist.

Von den beiden Konfliktparteien ist Aserbaidschan diejenige, die sowohl die Motivation als auch die Mittel hat, den nach dem Krieg bestehenden Status quo infrage zu stellen. Der Krieg ging zwar zugunsten Aserbaidschans aus, aber Baku hat es nicht geschafft, Bergkarabach komplett unter seine Kontrolle zu bringen. Dies wird durch die russischen Friedenstruppen und die – wenn auch geschwächte – de facto armenische Verwaltung der Republik Bergkarabach verhindert.

Aserbaidschan fürchtet, jede nennenswerte armenische Präsenz innerhalb seiner Grenzen werde früher oder später den armenischen Separatismus neu entfachen.

Der Status Bergkarabachs – der entscheidende Streitpunkt, an dem sich vor 30 Jahren der Konflikt überhaupt entzündete – wurde in dem Waffenstillstandsabkommen nicht thematisiert. Die nach dem Krieg deutlich geschwächte armenische Seite deutete mögliche Abstriche von ihren Forderungen an und sendete damit das Signal, dass sie Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan nicht an der Statusfrage scheitern lassen werde. Jerewan beharrt lediglich auf dem allgemeinen Grundsatz, dass die Sicherheit und die Rechte der Karabach-Armenier gewährleistet werden müssen. Damit macht Armenien ein großes politisches Zugeständnis.

Baku zeigt kein Interesse, sich mit einer entsprechenden Geste zu revanchieren. Erst kürzlich schloss Präsident Ilham Alijew in einem Interview mit dem aserbaidschanischen Fernsehen einmal mehr den Gedanken eines wie auch immer gearteten Sonderstatus für die Region oder für die dort lebenden Armenier kategorisch aus. Er versprach den Karabach-Armeniern für die Zukunft die gleichen Rechte, die die aserbaidschanische Bevölkerung genieße – was einige Aserbaidschaner zu sarkastischen Kommentaren animierte: Solche Verheißungen könnten nur bedeuten, dass Alijew nun auch die Armenier ihrer politischen und bürgerlichen Rechte berauben wolle, nachdem er sie dem eigenen Volk bereits genommen habe.

Ein noch größeres Problem als Alijews autoritäre Herrschaft sind möglicherweise seine gezielten Feindseligkeiten gegenüber den Armeniern. Nach dem Krieg von 2020 verurteilte unter anderem das Europäische Parlament Baku wegen der systematischen Ausmerzung des armenischen Kulturerbes in den aserbaidschanisch kontrollierten Gebieten. Im März 2022 wurde eine von Aserbaidschan betriebene Gaspipeline, die Bergkarabach versorgt, demoliert und blieb eine Woche außer Betrieb, sodass die Einheimischen bei eisigen Temperaturen frieren mussten. Die aserbaidschanische Armee versuchte, die armenische Bevölkerung Bergkarabachs unterdessen psychologisch unter Druck zu setzen, und forderte sie mit Lautsprecherdurchsagen auf, das Gebiet zu verlassen. Auch dass Alijew andauernd von Kapitulation redet und immer wieder Gebietsansprüche im armenischen Kernland anmeldet, lässt nicht darauf schließen, dass er gewillt ist, eine gemeinsame Zukunft im Zeichen von Frieden und Versöhnung aufzubauen.

Das ist der Gesamtkontext, in den man die Verletzungen des Waffenstillstands einordnen muss. Aserbaidschan fürchtet, jede nennenswerte armenische Präsenz innerhalb seiner Grenzen werde früher oder später den armenischen Separatismus neu entfachen, sobald der geopolitische Wind sich dreht. Das ist offenbar der Grund, warum Alijew den momentanen Vorteil Aserbaidschans maximal nutzen will, um eine Lösung für den Konflikt herbeizuführen – sprich: um möglichst viele Armenier, einschließlich Zivilbevölkerung, aus Karabach zu entfernen.

Die russische Friedenstruppe hat aber weder ein eindeutiges Mandat noch klare Einsatzregeln.

Dabei sind ihm die russischen Friedenstruppen im Weg. Durch den taktischen Einsatz seiner Druckmittel gelingt es Baku jedoch, sich das Gebiet, für dessen Sicherung theoretisch die russischen Friedenssoldaten verantwortlich sind, Stück für Stück unter seine Kontrolle zu bringen. Die jüngsten Gefechte am Latschin-Korridor resultierten in einer Vereinbarung zwischen Baku und Moskau (von dem Jerewan demonstrativ ausgeschlossen wurde), nach der das Gebiet bereits am 25. August an Aserbaidschan übergeben werden soll. Auch wenn es zum völkerrechtlich anerkannten Staatsgebiet Aserbaidschans gehört, mussten die De-facto-Behörden der Republik Bergkarabach angesichts der fehlenden Sicherheitsgarantien für die ortsansässige armenische Bevölkerung diese wohl oder übel auffordern, das Gebiet zu räumen, und trugen auf diese Weise unfreiwillig dazu bei, dass Baku seine Ziele erreicht.

Zugleich pocht Baku darauf, dass die armenischen Truppen laut dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen aus Bergkarabach abziehen müssen. Russland, das als Garant für das Abkommen fungiert, lässt nicht zu, dass die armenische Präsenz zum Schutz der ortsansässigen armenischen Bevölkerung aufgestockt wird. Die russische Friedenstruppe hat aber weder ein eindeutiges Mandat noch klare Einsatzregeln und beschränkt sich deshalb weitgehend darauf, die Waffenstillstandsverstöße zu registrieren. Eine echte Handhabe, diese Verstöße zu verhindern oder die dadurch geschaffenen Fakten rückgängig zu machen, haben die Friedenssoldaten nicht.

Zudem nutzt Baku eifrig die Tatsache, dass Russland durch seinen Einmarsch in die Ukraine massiv abgelenkt ist, um seine Agenda voranzutreiben. Dabei geht es nicht nur darum, dass die russischen Streitkräfte anderweitig ausgelastet sind. Eine Rolle spielt auch, dass Russland neuerdings auf die Türkei und damit auf Aserbaidschans wichtigsten Verbündeten angewiesen ist, um seine diplomatische und wirtschaftliche Isolation vom Westen zu durchbrechen.

Vor dem Hintergrund, dass die Türkei mit Aserbaidschans Hilfe offensiv ihre eigenen Machtinteressen im Kaukasus verfolgt, könnte Russland sich die wenigen verbliebenen armenischen Vorposten in Karabach abhandeln lassen und sich im Gegenzug weitaus gewichtigere Vorteile in seinem bilateralen Verhältnis zur Türkei verschaffen. Deshalb war es keine Überraschung, dass Putin und Erdogan bei ihrem Treffen in Sotschi die Notwendigkeit, die Lage im Kaukasus zu stabilisieren, mit keinem Wort erwähnten.

Eine mögliche Lösung für die Zukunft könnte eine von der OSZE entsandte Friedenstruppe sein.

Der Westen ist unterdessen durch die Suche nach alternativen Energielieferanten in Beschlag genommen, zu der ihn der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste in diesem Zusammenhang nach Baku und unterzeichnete eine Absichtserklärung über die Aufstockung der aserbaidschanischen Gaslieferungen. Dieses Memorandum of Understanding verpflichtet Aserbaidschan nicht einmal dazu, die geringen Gasmengen zu liefern, die es anzubieten hat, aber für Alijew war es ein diplomatischer Coup, denn die EU adelte ihn damit zum zentralen Partner in der sich gerade herausbildenden Energiegeopolitik, ohne irgendwelche Bedingungen mit Blick auf die Menschenrechte oder den Konflikt in Bergkarabach daran zu knüpfen.

Ansonsten beschränkt die EU sich weitgehend darauf, „beide Seiten“ in regelmäßigen Abständen zur Zurückhaltung zu ermahnen. Einige EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Frankreich würden gerne eine prominentere Rolle im Kaukasus übernehmen, aber ohne Hard Power vor Ort ist dies ein überaus schwieriges Unterfangen. Eine mögliche Lösung für die Zukunft könnte eine von der OSZE entsandte Friedenstruppe sein. Dafür müssten allerdings die Staaten des Westens und Russland kooperieren und die Europäer bereit sein, Friedenssoldaten in die Region zu entsenden – für beides gibt es derzeit keinerlei Anzeichen.

Vor diesem Hintergrund bleibt nur eine einzige realistische Option, um dauerhaft Frieden zu schaffen: Das Machtgefälle zwischen Armenien und Aserbaidschan muss verringert werden. Dafür müsste Armenien sein Abschreckungspotenzial massiv erhöhen. Das braucht zum einen Zeit und erfordert Investitionen. Zum anderen setzt es voraus, dass das Land seine politische Spaltung überwindet und im nationalen Interesse an einem Strang zieht.

Außerdem braucht es mehr Kompromissbereitschaft auf aserbaidschanischer Seite. Inzwischen gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich in der aserbaidschanischen Gesellschaft allmählich Kriegsmüdigkeit breitmacht: Die Euphorie nach dem Sieg von 2020 verfliegt zunehmend und macht wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Sorgen Platz. Eine massive Häufung von Selbstmorden von Kriegsveteranen schürt Zweifel an den offiziellen Triumphnarrativen aus Baku. Dennoch besteht vorläufig wenig Aussicht auf Frieden, denn Alijew wird den geopolitischen Rückenwind nutzen, um seine Machtposition weiter auszubauen, und damit alle echten diplomatischen Bemühungen behindern.

Dieser Artikel gibt die persönliche Meinung des Verfassers und nicht notwendigerweise die Meinung der S&D-Fraktion oder des Europäischen Parlaments wieder.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld