Das Gebäude wurde von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Auf dem Bürofernseher liefen bereits die Bilder der brennenden Türme des World Trade Center, sodass uns sofort klar war, was diese Explosion auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu bedeuten hatte: Ein Flugzeug war in das Pentagon geflogen. Wir stürmten logischerweise (und unvorsichtigerweise) so schnell an die Fenster unseres Bürohochhauses, dass wir noch sahen, wie die American-Airlines-Maschine in dem gigantischen Gebäudekomplex in Flammen aufging. Ich stand hilflos da und sah gefühlt stundenlang zu, wie das Feuer die Schaltzentrale des US-Militärs verschlang. Ich versuchte zu verstehen, was dieser Brand für Amerika, für die Welt und für mich bedeutete. Ich versuche bis heute, es zu verstehen.

Ich war an jenem Tag hilflos, aber nicht ganz uninformiert. Ich arbeitete bei der RAND Corporation, einem mehrheitlich vom Pentagon finanzierten Forschungsinstitut. Die Angriffe auf das World Trade Center hatten eine Sitzung zum Thema Terrorismusbekämpfung unterbrochen, an der neben mir einige der führenden Terrorismusexperten der USA teilnahmen. Augenscheinlich hatte unsere Sitzung die Tragödie auf der anderen Straßenseite nicht verhindern können. Die zeitliche Koinzidenz verstärkte unser Gefühl der Nutz- und Bedeutungslosigkeit. Was spielte es für eine Rolle, welche Codes wir in unserer Datenbank den verschiedenen Terrorgruppen zuwiesen, wenn das Pentagon in Flammen stand?

Was spielte es für eine Rolle, welche Codes wir in unserer Datenbank den verschiedenen Terrorgruppen zuwiesen, wenn das Pentagon in Flammen stand?

Immerhin ahnten wir sofort, wer die Anschläge verübt hatte. Wir hatten uns intensiv mit Osama bin Laden und Al-Qaida beschäftigt. Wir wussten, dass die Gruppe einen relativ hohen Entwicklungsstand erreicht hatte und auf spektakuläre Anschläge auf amerikanischem Boden aus war. Viele der Teilnehmer hatten die Regierung seit Jahren vor der Gruppe gewarnt. Die anwesenden Experten waren von Anschlagsszenarien ausgegangen, die dem ähnelten, was am 11. September dann tatsächlich geschah. Als unser Gebäude evakuiert wurde, fühlten sie sich bei aller Erschütterung intellektuell bestätigt.

Im Rahmen meiner Doktorarbeit befasste ich mich damals mit der innenpolitischen Dimension der Außenpolitik. Vor allem interessierte mich die Frage, wie und warum die USA in Bedrohungssituationen zur Überreaktion neigen. Ebenso in Gedanken versunken wie die anderen Teilnehmer starrte ich zum brennenden Pentagon herüber und fragte mich, wie eine amerikanische Überreaktion auf einen solchen Angriff wohl aussehen könnte. Was hier passierte, war schließlich gewaltig. Beim größten Angriff auf US-Boden seit Pearl Harbor waren Tausende getötet worden. Während ich mit Schmerz und Frust auf das Feuer blickte, hatte ich das Gefühl, dass keine Reaktion eine Überreaktion darstellen könnte.

Nicht einmal ein so aufsehenerregendes und mit so viel menschlichem Leid verbundenes Geschehen wie 9/11 konnte bewirken, dass Amerika sich grundlegend verändert.

Ich habe mein Heimatland unterschätzt. Die USA blieben ihrer Geschichte treu. Sie beantworteten die Anschläge mit einer Generalmobilmachung, die sogar die Bedeutung einer derart spektakulären Schreckenstat in den Schatten stellte. Sie begannen einen „weltweiten Krieg gegen den Terror“, der sich ausdrücklich nicht nur als Krieg gegen die Täter der Anschläge vom 11. September, sondern vor allem gegen den Terrorismus als Methode verstand. Im Namen dieses Kreuzzugs begann Amerika mehrere Kriege, gab Billionen von Dollar aus, führte den Sturz mehrerer Regime herbei, schränkte im eigenen Land die Freiheitsrechte ein und folterte und ermordete Terrorverdächtige in anderen Ländern. Viele Ziele, die in diesem Rahmen verfolgt wurden, hatten mit den Anschlägen vom 11. September nichts zu tun.

Wenn ich an diesem Jahrestag vom Überreagieren spreche, geht es nicht darum, den Streit über die vielen kontroversen Entscheidungen der vergangenen zwanzig Jahre neu aufzurollen. Es geht vielmehr darum, rückblickend festzustellen, dass nicht einmal ein so aufsehenerregendes und mit so viel menschlichem Leid verbundenes Geschehen wie 9/11 bewirken konnte, dass Amerika sich grundlegend verändert. Selbstverständlich hat jener Tag das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger und auch die Außenpolitik der USA dramatisch verändert. Doch wenn man bedenkt, wie oft es hieß, wir würden nie wieder dieselben sein, muss man feststellen, dass die Kultur der USA die Anschläge schlicht und einfach in ihre vorhandenen Denkmuster integriert hat.

Die Schwerfälligkeit der USA führte zu einer Tendenz, nicht einfach nur Kriege zu führen, sondern radikale weltanschauliche Kreuzzüge auszufechten.

Vor den Anschlägen des 11. September waren die USA ein Land, das absolute Sicherheit verlangte und dies zum Erfolgsmaßstab für Entscheidungsträger machte. Sie waren ein Land, das gegen jede Bedrohung dieser Sicherheit langsam, aber vollständig mobilmachte. Diese Schwerfälligkeit führte zu einer Tendenz, nicht einfach nur Kriege zu führen, sondern radikale weltanschauliche Kreuzzüge auszufechten. Die USA verstanden die Welt jenseits ihrer Grenzen nicht und konnten ihr nicht besonders viel abgewinnen. Von Immigration und Globalisierung war das Land zunehmend frustriert. 9/11 hat an diesen Grundmerkmalen der US-Kultur nicht das Geringste verändert, sondern bestenfalls die eine oder andere Entwicklung beschleunigt. Trotz aller selbstanalytischen Auseinandersetzung mit der Frage „Warum hassen sie uns?“ und mit „der Rolle des Islam im Westen“ hat das Trauma des 11. September keinen tiefgreifenden Kulturwandel bewirkt.

Als ich vor zwanzig Jahren zum brennenden Pentagon hinüberstarrte, hätte ich mir diesen Verlauf nicht vorstellen können. Unter dem Eindruck der sich überstürzenden Ereignisse gerieten mir damals einige wesentliche Tatsachen über die USA aus dem Blick: Das Land ist unvorstellbar groß, sprengt mit seinem Reichtum jeden historischen Vergleich und hat ein Maß an Eigenständigkeit erreicht, von dem andere Länder nur träumen können. Die USA sind so riesig und mächtig, dass sie ihre Grundüberzeugungen nicht hinterfragen müssen – und so tun sie es auch fast nie.

Die USA sind so riesig und mächtig, dass sie ihre Grundüberzeugungen nicht hinterfragen müssen – und so tun sie es auch fast nie.

Auch wenn es unhöflich ist, es auszusprechen: Ein solches Land kann sogar die tödliche Zerstörung absorbieren, die ein Angriff wie 9/11 anrichtet, genauso wie es gegenwärtig die weitaus höhere Zahl der Corona-Toten einfach wegsteckt. Es ist in der Lage, die Lehren aus einem Terrorangriff oder einer Pandemie zügig in sein bestehendes System politischer Konfliktlinien und kultureller Strömungen zu integrieren. Und was der Rest der Welt von seiner Reaktion auf solch epochale Ereignisse hält, kann ein Land wie die USA meist ignorieren.

Es sind historische Entwicklungen denkbar, die so gewichtig sind, dass sie sogar die Kultur eines so mächtigen und isolierten Giganten verändern. Die Geschichte lehrt uns, dass dies früher oder später passiert – vielleicht wird Chinas Aufstieg dies zuwege bringen. Die Anschläge des 11. September konnten es nicht.

So haben wir denn die Brände gelöscht, die Gebäude wiederaufgebaut und für die verlorenen Menschenleben Vergeltung geübt. Aber verändert haben wir uns nicht.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld