Auch wenn es die vom türkischen Staatspräsidenten seit Jahren frustrierten Beobachter im Westen nicht wahrhaben wollen: Recep Tayyip Erdoğan verbucht derzeit auf internationalem Parkett einen Prestigeerfolg nach dem anderen. Noch zu Beginn des Jahres ob seiner erratischen Richtungswechsel von vielen Partnern gemieden, suchen Staats- und Regierungschefs nun seine Nähe – im politischen, wie im geografischen Sinne. Das erste ukrainisch-russische Treffen auf Ministerebene nach dem Beginn des russischen Angriffs fand in Antalya statt, spätere Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien in Istanbul.

Von Seiten der EU, der Ukraine und Russlands wird die türkische Balance-Politik im Krieg und das Bekenntnis zur völkerrechtskonformen Regelung des Bosporus-Schiffsverkehrs gelobt. Im Rahmen der NATO-Beitrittsverhandlungen Schwedens und Finnlands rang Erdoğan den Skandinaviern für ihn wichtige Zugeständnisse ab und konnte nebenbei prestigeträchtige Bilder mit US-Präsident Joe Biden produzieren. Und zuletzt einigten sich Russland und die Ukraine unter persönlicher Vermittlung von UN-Generalsekretär Antonio Guterres in Istanbul auf die Einrichtung eines Korridors durch das Schwarze Meer zur Ausfuhr des weltweit dringend benötigten ukrainischen Weizens. Guterres lobte, ebenso wie kurze Zeit später das US-amerikanische State Department, dabei ausdrücklich die konstruktive Rolle der Türkei.

Dass sich die Türkei derzeit so profilieren kann, kommt nicht von ungefähr. Es ist Ausdruck tektonischer Verschiebungen der internationalen Kräfteverhältnisse, einer geostrategischen Zeitenwende. Noch nie war die Bedeutung der Türkei so groß wie seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die traditionelle Südostflanke ist nun stärker als zuvor das Schwarzmeergegengewicht der NATO zu Russland. Zudem wird die Türkei als Ordnungs- und Brückenmacht mit Kontakten zu allen relevanten Akteuren der Region wahrgenommen. Die Türkei in der sich neu konfigurierenden Weltordnung als Partner zu wissen, ist derzeit wichtiger als die Probleme der Vergangenheit, auch wenn diese keineswegs gelöst sind. Egal ob die sich stetig verschlechternde Situation der Rechtsstaatlichkeit, Einschränkungen der Medien- und Meinungsfreiheit oder Differenzen in einzelnen außenpolitischen Fragen: Die Relativierung von Problemen und die Einbeziehung der Türkei haben derzeit eindeutig mehr Konjunktur als Ermahnungen.

Präsident Erdoğan weiß das und reizt in internationalen Foren mehr denn je sein Blatt aus, um das zu bekommen, was er möchte. Die Aufwertung der Türkei muss ihm wie ein Geschenk des Himmels vorkommen, um einem scheinbar unaufhaltsamen Strudel zu entkommen. Denn angesichts einer desaströsen Wirtschaftslage droht ihm der Machtverlust bei den spätestens im kommenden Frühsommer anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Seit Monaten läuft nun bereits eine Kampagne, die die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Außen- und Sicherheitspolitik lenken soll.

Noch nie war die Bedeutung der Türkei so groß wie seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Doch auch in diesem Bereich läuft längst nicht alles so gut, wie seine Prestigeerfolge erwarten ließen. Einen heftigen Rückschlag erlebte Erdoğan letzte Woche in Teheran. Es war ein eigentümliches Gipfeltreffen, das dort vor den Augen der Weltöffentlichkeit inszeniert wurde. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Medien und internationale Beobachter die Zusammenkunft des sogenannten Astana-Prozesses, der seit 2017 ausgewählte Konfliktparteien des Syrienkriegs versammelt. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin war dies seit Beginn des von ihm befohlenen Angriffs auf die Ukraine die erste Reise in ein Land, das außerhalb des Gebiets der ehemaligen Sowjetunion liegt. Dass der russische Paria für diese Reise ausgerechnet den durch strenge Sanktionen international isolierten Iran auswählte, war für viele Beobachter Ausdruck des neuen, wenig schmeichelhaften Standings Russlands in der Weltgemeinschaft.

Der Fokus auf die beiden Autokraten Putin und den iranischen Gastgeber, Staatspräsident Ebrahim Raisi, ließ den dritten Teilnehmer des Treffens zunächst fast in den Hintergrund treten. Dabei war mit dem sendungsbewussten Recep Tayyip Erdoğan nicht nur ein wichtiger Verbündeter der Ukraine nach Teheran gekommen, sondern auch der höchste Vertreter des truppenmäßig zweitstärksten NATO-Mitglieds. In einer Zeit, in der Russland von den westlichen Staaten mit großem Aufwand isoliert wird und die Verhandlungen mit dem Iran über sein Atomprogramm kurz vor dem Scheitern stehen, produzierte Erdoğan Bilder globaler Reichweite mit den erklärten Gegnern des Westens. So mancher in EU und NATO fragte besorgt, was der als unsichere Kantonist wahrgenommene Erdoğan mit seinem außenpolitischen Verhalten bezwecke. Ein genauer Blick zeigt allerdings bekannte Muster – und eher wenig Grund zur Sorge.

Nüchtern betrachtet verfolgte Erdoğan mit seinem Besuch drei Ziele. In typisch türkischer Manier sollte der Besuch in Teheran den westlichen Partnern die strategische Ambiguität der türkischen Außenpolitik signalisieren. Systematisch entzieht sich der Präsident der Vereinnahmung durch eine Seite. Noch vor wenigen Wochen war die Erleichterung groß, als die Türkei einschwenkte und ihren Widerstand gegen den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands aufgab. Die staatspolitische Verantwortung habe über die machtpolitischen Manöver des türkischen Staatspräsidenten gesiegt, hieß es in NATO-Kreisen. Dass sich der höchste Repräsentant des türkischen Staates nun unmittelbar darauf mit den erklärten Hauptfeinden der NATO trifft, entspricht Erdoğans Prinzip, immer mehrere außenpolitische Standbeine zu haben. Jenseits von Bildern, die demonstrative Geschlossenheit zeigen sollten, traten jedoch vor allem Differenzen zu Tage. Allen Beobachtern und auch den drei Staatsführern wurde mehr als deutlich, dass die Allianz auf wackeligen Beinen steht.

Nach innen, so das zweite Ziel, ist der Besuch ein Puzzleteil einer seit Beginn des Ukrainekriegs laufenden Imagekampagne, die Erdoğan auf Augenhöhe mit den wichtigsten Staatsführern der Welt präsentiert. Bereits seine staatsmännischen Fotos mit US-Präsident Biden während des NATO-Gipfels in Madrid komplementierten die Bilder Erdoğans als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine. Dass Erdoğan sich nun in großer Geste mit Raisi und Putin zeigt, vervollständigt sein Bild in den türkischen Medien. Es verdeutlicht nicht nur sein Gewicht auf der internationalen Bühne, sondern besänftigt auch die zahlreichen NATO-kritischen Stimmen in der türkischen Bevölkerung und die seines Koalitionspartners, der radikal-nationalistischen MHP.

Die Türkei hält gegenüber Russland und Iran nicht die gleichen Machthebel in der Hand wie gegenüber EU und NATO.

Und schließlich verfolgt Erdoğan mit Nachdruck ein sehr konkretes, machtpolitisches Ziel. Seit Monaten spricht er von der Notwendigkeit, in Nordsyrien eine groß angelegte Militäroperation durchzuführen, um gegen die PKK-nahe YPG-Miliz vorzugehen. Resultat soll neben der Bekämpfung kurdischer Separatisten die Etablierung eines türkisch kontrollierten Grenzstreifens sein, in den anschließend ein beträchtlicher Teil der syrischen Flüchtlinge aus der Türkei zurückgeführt werden kann. Bereits in den vergangenen Wochen haben türkische Einheiten immer wieder Angriffe auf YPG-Stellungen auf syrischem Boden geflogen, doch dies reicht dem Präsidenten noch nicht. Für einen groß angelegten Angriff auf die kurdischen Gebiete Syriens benötigt Erdoğan allerdings das Placet der beiden Schutzmächte des Assad-Regimes, eben Russlands und des Irans.

Hier scheiterte er jedoch auf ganzer Linie. Putin und Raisi ließen Erdoğan jenseits einer allgemeinen Zustimmung zu dem Prinzip, terroristische Organisationen zu bekämpfen, vollständig auflaufen. Beide betonten die Bedeutung der territorialen Integrität Syriens und erteilten jeglichen Invasionsplänen der Türkei eine klare Absage. Die Türkei, so dürfte Erdoğan schmerzlich klar geworden sein, hält gegenüber Russland und Iran nicht die gleichen Machthebel in der Hand wie gegenüber EU und NATO. „Die Türkei kann dem Iran nichts anbieten, was diesen von seiner Position abbringen würde“, sagt der Kenner der türkischen Außenpolitik, Ilhan Uzgel. „Im Gegenteil: Schon jetzt ist der Iran unglücklich mit dem türkischen Einfluss im benachbarten Irak, den der Iran als Konkurrenz zur eigenen Hegemonie empfindet.“

Ein Angriff auf das nordirakische Zakho am 20. Juli mit neun Toten, für das der Irak das türkische Militär verantwortlich macht, dürfte die Fronten diesbezüglich noch einmal verhärtet haben. „Russland immerhin hat ja zumindest ein Interesse daran, dass die Türkei sich im Ukrainekrieg weiterhin in einer Mittlerrolle hält und nicht auf den harten Sanktionskurs des Westens einschwenkt“, so Uzgel weiter. „Mit Russland kann die Türkei verhandeln. Aber offensichtlich ist man in Moskau davon überzeugt, dass man in solchen Verhandlungen nicht die Kontrolle über Syrien opfern müsse.“

Für Erdoğan ist diese Erkenntnis ein Rückschlag. Viele Beobachter sind überzeugt, dass eine Militäroperation im syrischen Kurdengebiet ein zentraler Bestandteil seiner Wahlkampagne werden sollte. Das Anfachen des türkischen Nationalismus sollte so trotz Rekordinflation und steigender Unzufriedenheit einen Meinungsumschwung bewirken und seine Wiederwahl garantieren. Und dies wäre bitter nötig: Fast alle Umfrageinstitute sehen derzeit das Oppositionsbündnis unter Führung der republikanischen CHP deutlich vorne.

Der einzige Erfolg, den Erdoğan in Teheran erzielen konnte, war, dass er Putin vor den Kameras der Weltöffentlichkeit 45 Sekunden auf sich habe warten lassen, spotteten unabhängige Medien. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass man den türkischen Präsidenten niemals unterschätzen sollte. Durchaus geschickt hat er die Türkei als „hybrides Partnerland“ der NATO positioniert, das gleichzeitig Verbündeter ist und eine nahezu vollständig eigenständige Außenpolitik verfolgt. Diese Position verschafft Erdoğan erheblichen außenpolitischen Manövrierraum, den er in den nächsten Monaten nutzen wird. Egal ob Syrien, Zypern, Griechenland oder Armenien: Die Nachbarländer der Türkei werden genau beobachten müssen, welche Lehren Erdoğan aus seinem Scheitern in Teheran zieht.