„Lasst China schlafen, denn wenn es erwacht, wird es die Welt erschüttern.“ – So lautet ein Zitat, welches oft Napoleon Bonaparte zugeschrieben wird. Unabhängig davon steht eines fest: Nach mehr als 150 Jahren ist China wiedererwacht und zu einer bedeutenden Weltmacht aufgestiegen. Das „Machtbeben“, welches der Aufstieg Chinas ausgelöst hat, ist weltweit spürbar. Nach Jahrhunderten westlicher Dominanz verschieben sich die globalen Machtpole gen Osten. Klassische Großmacht- und Geopolitik sind wieder auf dem Vormarsch. Die liberale, regelbasierte Ordnung, welche die letzten 70 Jahre währte, scheint sich hingegen endgültig ihrem Ende zuzuneigen. Wir erleben gegenwärtig eine Zeitenwende der Weltpolitik und das Entstehen einer neuen globalen Machtstruktur.
Es steht außer Frage, dass sich die strategische Rivalität zwischen China und den USA in den vergangenen Jahren deutlich intensiviert hat. In Washington ist man mittlerweile parteiübergreifend davon überzeugt, dass China die USA als globale Führungsmacht ersetzen möchte, und man ist fest entschlossen, Xi Jinpings Machtambitionen Grenzen zu setzen. In Peking hegt man hingegen den Verdacht, dass die USA China einkreisen und eine neue Containment-Politik betreiben wollen. Im Zentrum des Wettbewerbs der beiden Großmächte stehen neben politischen und militärischen Herausforderungen auch zunehmend Fragen der Technologieentwicklung und der Handelspolitik. Darüber hinaus geht es um die Formierung neuer Bündnisse und Allianzen, wie beispielsweise AUKUS (Australien, Großbritannien und die USA) und des Quadrilateral Security Dialogue (Quad) zwischen Australien, Indien, Japan und den Vereinigten Staaten.
Auch China baut seine strategischen Partnerschaften im Rahmen der BRICS und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sowie mit autoritären Systemen wie Russland und dem Iran weiter aus. Nur wenige Wochen vor dem russischen Überfall auf die Ukraine beschworen die Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping im Februar 2022 noch die „grenzenlose Freundschaft“ zwischen beiden Ländern. Bis heute hat die Pekinger Führung Russlands Invasion nicht verurteilt. Erst im März dieses Jahres verkündete der chinesische Präsident Xi Jinping bei einem Besuch in Moskau: „Im Moment gibt es Veränderungen, wie wir sie seit 100 Jahren nicht mehr erlebt haben. Und wir sind diejenigen, die diese Veränderungen gemeinsam vorantreiben.“ Die Zeichen stehen gegenwärtig auf beiden Seiten des Pazifiks auf Konfrontation. In den Machtapparaten in Washington und Peking stellt man sich zunehmend nicht mehr die Frage, ob es zum Krieg zwischen beiden Ländern kommt, sondern wann.
Auch in Europa wähnen einige Zeitgenossen den Westen bereits in einem neuen Kalten Krieg mit China. Dieser historische Vergleich mag zwar für manche naheliegend sein, ihm liegt jedoch eine grundlegende Fehleinschätzung der aktuellen weltpolitischen Lage zugrunde. Zum einen ist die Volksrepublik China nicht mit der UdSSR vergleichbar. Im Unterschied zur Sowjetunion ist Peking tief in die liberale Weltwirtschaftsordnung eingebunden. Für viele Staaten der Welt ist China inzwischen der wichtigste Handelspartner. Zum Zweiten existiert heute kein Ideologiekonflikt zwischen China und dem Westen. Der Grundkonflikt zwischen Autokratien und Demokratien ist zwar vorhanden, aber nicht systemprägend. Und drittens sind die globalen Kräfteverhältnisse heute nicht mehr allein auf zwei Machtpole verteilt. Der Großmächtewettbewerb zwischen China und den USA ist zwar strukturbildend, doch die Zeiten uni- oder bipolarer Systeme sind endgültig vorbei. Stattdessen leben wir in einer Welt mit unterschiedlichen Machtzentren, in der viele Staaten ein Denken in Einflusszonen oder neue Blockbildungen ablehnen.
Der Grundkonflikt zwischen Autokratien und Demokratien ist zwar vorhanden, aber nicht systemprägend.
Dennoch ist und bleibt der Aufstieg Chinas eine Herausforderung für die liberalen Demokratien – vielleicht sogar eine größere als es die Sowjetunion jemals war. Deshalb brauchen wir eine kluge Außenpolitik, die nicht nur die alten Konzepte aus der Vergangenheit kopiert, sondern die veränderten Realitäten von heute anerkennt. Zu diesen Realitäten gehört auch, dass wir ohne eine wirksame Zusammenarbeit mit China globale Menschheitsaufgaben wie die Bekämpfung des Hungers und des Klimawandels und die Beendigung von Kriegen sowie Fragen der Rüstungskontrolle und der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen nicht lösen können. Die friedliche Bewältigung der sino-amerikanischen Rivalität und die Suche nach einer gemeinsamen Basis sind daher für die globale Stabilität und die Zukunft der Menschheit von entscheidender Bedeutung.
Um den Frieden zu erhalten, ist es unerlässlich, die Kerninteressen und Ängste der USA und Chinas zu verstehen. Nirgendwo prallen die Interessen der beiden Großmächte unmittelbarer aufeinander als im Indopazifik und im Konflikt um Taiwan. Seit September 2022 hat Präsident Biden mehrfach bekräftigt, dass die USA im Falle einer chinesischen Invasion der Insel militärisch zur Seite stehen würden. Aus Sicht Pekings ist dies eine empörende Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas. Präsident Xi Jinping hat bereits mehrfach angedroht, die Insel notfalls auch militärisch mit dem Festland „wiedervereinen“ zu wollen. Auch wenn Peking immer wieder betont, dass es eine „friedliche Lösung“ im Streit um Taiwan bevorzugen würde, sollten wir diese Drohungen sehr ernst nehmen. Eine Eskalation oder gar ein Krieg um Taiwan hätte katastrophale Folgen für die globale Sicherheit und die Weltwirtschaft. Taiwan ist ein Schlüsselstaat in den globalen Lieferketten, insbesondere in der Chip- und Halbleiterindustrie.
Darüber hinaus sind die USA eng mit der Republik Korea und mit Japan verbündet und verfügen über Militärbasen in Thailand sowie auf den Philippinen. Eine chinesische Invasion könnte deshalb einen regionalen Flächenbrand oder gar einen Nuklearkrieg zwischen China und den USA entfachen. Mittlerweile haben sich beide Seiten in eine strategische Sackgasse manövriert, in der es kaum mehr taktischen Spielraum gibt, um sich aufeinander zuzubewegen, ohne dass eine der beiden Seiten dabei ihr Gesicht verliert. Wir sollten daher realistisch bleiben: Es wird auf absehbare Zeit keinen großen Wurf für die Lösung der Taiwan-Frage geben. Um eine Eskalation zu vermeiden, sollte der Fokus deshalb auf der Aufrechterhaltung des Status quo liegen. Dies bedeutet konkret, dass wir einerseits Taiwan weiterhin unterstützen, aber gleichzeitig auch Chinas Interessen und Ängste mitberücksichtigen sollten. So sollte etwa bei der Frage hochrangiger politischer Besuche in Taipeh stets die Abwägung im Vordergrund stehen, ob sie letztlich zum Frieden und Erhalt des Status quo in der Taiwanstraße beitragen oder nicht.
Auch dürfen wir nicht übersehen, dass es im Ost- und Südchinesischen Meer noch weitere ungelöste Territorialkonflikte gibt, etwa um den Liancourt-Felsen (Dokdo/Takeshima), die Diaoyu-/Senkaku-Inseln oder die Spratly-Inseln. Allein um die Spratly-Inseln streiten sich die Volksrepublik China, Taiwan und Vietnam sowie Brunei, Malaysia und die Philippinen. Dies zeigt im Übrigen auch: Asien ist weitaus mehr als nur China. In Asien leben heute fast 60 Prozent der Weltbevölkerung. Wir täten deshalb gut daran, unsere Beziehungen auch mit weiteren Staaten im Indopazifik, insbesondere zu Japan, Südkorea, Indien und den ASEAN-Staaten weiter zu intensivieren und auszubauen.
Europa kann im Spannungsfeld der strategischen Rivalität zwischen China und den USA nur bestehen, wenn es mit einer Stimme spricht.
Dabei ist völlig klar, dass wir unsere Strategie im Umgang mit China und dem Indopazifik stärker europäisieren müssen. Europa kann im Spannungsfeld der strategischen Rivalität zwischen China und den USA nur bestehen, wenn es mit einer Stimme spricht und sich weder von China, aber auch nicht von den USA auseinanderdividieren lässt. Ziel muss es sein, Europas Unabhängigkeit und strategische Souveränität auszubauen und zu stärken. Dafür ist es notwendig, dass wir unsere Abhängigkeiten reduzieren, unsere Wettbewerbsfähigkeit steigern und die Koordinierung zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten, wie auch unter den Mitgliedstaaten selbst, weiter verbessern.
Im Idealfall könnte eine europäische China-Strategie durch eine gemeinsame transatlantische Strategie erweitert oder ergänzt werden. Auf dem G7-Gipfel in Hiroshima ist Bundeskanzler Olaf Scholz gemeinsam mit den anderen Staats- und Regierungschefs der G7 genau dies gelungen. Dort beschlossen die G7, sich nicht von China abzukoppeln, sondern ihre Handelsbeziehungen zu diversifizieren und ein gezieltes De-risking zu betreiben. Dabei geht es nicht darum, Chinas Aufstieg zu verhindern, sondern wirtschaftliche Abhängigkeiten von China, beispielsweise durch das „China plus eins“-Prinzip, zu minimieren.
Wahr ist aber auch, dass amerikanische und europäische Interessen nicht immer und überall identisch sind. Dies bedeutet keineswegs, dass Europa eine Position der Äquidistanz zwischen Peking und Washington einnehmen sollte. Amerika ist und bleibt unser engster Verbündeter. Wir teilen mit den USA ein gemeinsames Interesse an einer regelbasierten Ordnung, offenen Gesellschaften, demokratischen Standards, fairem Handel und freien Seewegen. Doch Europa ist im Unterschied zu Amerika keine pazifische Macht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns zwar mit den Amerikanern eng abstimmen, gleichzeitig aber auch einen genuinen europäischen Ansatz für unser künftiges Engagement im Indopazifik entwickeln – zumal in der inneramerikanischen Diskussion der Wettstreit mit China spätestens seit der Präsidentschaft Donald Trumps dominiert.
Die EU könnte sich etwa für die Einrichtung von Rüstungskontrollforen zwischen China und den USA einsetzen. Dass solche Bemühungen nicht vergebens sind, zeigte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Peking im vergangenen November, bei dem das nukleare Tabu auch von Präsident Xi Jinping nochmals bekräftigt wurde. Anfang Juni hat auch die US-Regierung Russland und China zu Gesprächen über nukleare Rüstungskontrolle ohne Vorbedingungen aufgerufen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigt auch der SIPRI-Bericht vom Juni 2023: Demnach rüstet die Volksrepublik China weiterhin massiv auf und könnte bis Ende dieses Jahrzehnts über genauso viele ballistische Interkontinentalraketen verfügen wie die USA und Russland.
Neben einem Neustart in der Rüstungskontrolle brauchen wir zudem dringend neue trilaterale Formate und Mechanismen, die das Risiko einer militärischen Konfrontation und einer unbeabsichtigten Eskalation minimieren und Dialog auch in kritischen Phasen ermöglichen. Bislang gibt es kaum offene Kommunikationskanäle zwischen Peking und Washington. In diesem Zusammenhang war vor allem das Treffen zwischen US-Außenminister Blinken und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping Mitte Juni 2023 ein wichtiges Signal. Der erste Besuch eines US-Außenministers in China seit fünf Jahren zeigt, dass endlich wieder mit – statt nur über einander geredet wird. Deshalb war es auch richtig, dass Olaf Scholz vergangene Woche Ministerpräsident Li Qiang und seine Delegation zu den 7. Deutsch-Chinesischen Regierungskonsultationen in Berlin empfangen hat.
Direkte Gespräche, eingebettet in eine europäische und transatlantische Chinastrategie, sind letztlich unerlässlich, um den Großmächtewettbewerb und die gegenseitigen Beziehungen wieder etwas berechenbarer zu gestalten. Dabei können im Übrigen auch direkte Parteiendialoge eine wichtige Rolle spielen, wie etwa der seit 1984 bestehende zwischen der SPD und der Kommunistischen Partei Chinas. Letztendlich haben die vielfältigen Gespräche, Treffen und unterschiedlichen Foren ein gemeinsames Ziel: zu zeigen, dass ein Krieg zwischen China und dem Westen eben nicht unausweichlich ist.