Auf der Suche nach einer Exit-Strategie für den Krieg gegen die Ukraine werden seit Kriegsbeginn immer wieder ähnliche Argumente hervorgebracht. So betont Herbert Wulf in seinem kürzlich erschienenen Artikel die Notwendigkeit eines schnellen Waffenstillstands als Nahziel, um Tod und Leid zu verhindern. Dieses könnte der Ausgangspunkt für erste Schritte hin zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa sein. Um es zu erreichen, fordert der Autor zunächst neutrale Vermittlung von außen, wie sie sich bei der Aushandlung des inzwischen aufgekündigten Getreideabkommens bewährt habe. Ein Verhandlungsprozess nach Maßgabe der „Helsinki-Prinzipien“, eine neue Helsinki-Schlussakte (Helsinki II), die Wiederbelebung der OSZE sowie ein neu verhandeltes Abkommen zur Kriegsbeendigung (Minsk III) solle sich anschließen.

Wulfs Leitgedanke ist es, auf bewährte Lehren und Methoden des Kalten Krieges zurückzugreifen, letztlich um der Eskalationsgefahr Herr zu werden, die mit der gegenwärtigen, volatilen Lage verbunden ist. Der Ansatz ist nachvollziehbar – aber ist er auch realistisch?

Wulf stützt die Annahme, dass der von ihm beschriebene Weg erfolgreich sein kann, auf das historische Beispiel des Kalten Krieges. Schon die Vergleichbarkeit des Präzedenzfalles erscheint jedoch fraglich: Die Sowjetunion des Kalten Krieges war eine auf Konsolidierung bedachte Weltmacht, die nicht verlieren wollte, was sie im Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Putins Russland ist eine revanchistische Großmacht, die versucht, verlorene Teile ihres Imperiums zurückzuerobern. Der Autor staubt bei seinen Überlegungen ein Buzzword aus der Anfangsphase des Krieges wieder ab: Ein Übereinkommen müsse für Moskau „gesichtswahrend“ sein. Um die Waffen zum Schweigen zu bringen, mag das einleuchten. Nur bedeutet „Gesichtswahrung“ für Putin eben etwas ganz anderes, als es für den sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew bedeutet hätte – nämlich einen greifbaren Ertrag von Kriegspolitik und Kriegsverbrechen, der zur Fortsetzung ermutigt.

Es ist deshalb folgerichtig, dass der von Wulf skizzierte Prozess sich der Logik des Moskauer Revisionismus unterwirft. Russlands Vision einer „multipolaren“ Weltordnung bedeutet letztlich eine sicherheitspolitische Rolle rückwärts ins 19. Jahrhundert. Sie verlangt die Anerkennung legitimer Einflusssphären der Großmächte, die sich als Pole innerhalb besagter Multipolarität definieren. Dieses sicherheitspolitische Konzept ist in zwei Weltkriegen katastrophal gescheitert. Deshalb hat die Weltgemeinschaft es durch die regelbasierte Ordnung ersetzt, auf die die Bundesregierung sich weiterhin beruft.

Die Ukraine muss die Unterstützung bekommen, die sie zu einer erfolgreichen Verteidigung braucht.

Moskau kämpft in der Ukraine auch für die Beseitigung dieser Ordnung. Ein potentieller „Helsinki II“-Prozess wird dort übersetzt mit: „Weg mit dem Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen durch Gewalt“. Die russische Führung fordert bereits seit Jahren eine neue Helsinki-Konferenz zur Anerkennung der multipolaren Weltordnung. Ihr Ergebnis wäre jedoch sicherlich keine Rückkehr zu den relativ stabilen Verhältnissen des Kalten Krieges. Eine „wiederbelebte“ OSZE, die sich den Moskauer Vorgaben entsprechend konstituiert, könnte deshalb ebenso wenig befriedend und stabilisierend wirken wie eventuelle „Minsk III“-Verhandlungen über die Zukunft der Ukraine. Zudem kann die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine sich einem Verhandlungsprozess mit der Prämisse „Gesichtswahrung“ für Russlands Kriegspolitik unmöglich freiwillig aussetzen. Zu einem solchen „Minsk III“ kann es also nur kommen, wenn die westlichen Partner der Ukraine die Unterstützung entziehen.

Es ergibt sich das Bild einer Quadratur des Kreises: Eine Verhandlungslösung, die auf Wiederherstellung des status quo ante bellum hinausliefe, kann für den revanchistischen Imperialismus der russischen Führung nicht „gesichtswahrend“ wirken und stellt deshalb für sie auch keine Option dar. Eine Lösung, bei der neue, durch Gewalt veränderte Grenzen faktisch akzeptiert werden, steht in einem eklatanten Widerspruch zu den von Wulf beschworenen „Helsinki-Prinzipien“ und zum Völkerrecht. Letztlich wäre damit eine Bestätigung der Kriegspolitik verbunden, die Moskau zu einer Fortsetzung seiner erfolgreichen Strategie ermutigen und daher auch nicht nachhaltig befriedend wirken wird – völlig abgesehen davon, dass keine demokratisch gewählte Regierung der Ukraine sich eine solche Exit-Strategie jemals zu eigen machen könnte.

Im Fazit erweist sich die von Wulf skizzierte Ausstiegsstrategie als Illusion oder, schlimmer noch, als (Teil-) Kapitulation vor der russischen Kriegspolitik. Ein Waffenstillstand jetzt bedeutet: Die besetzten Teile der Ukraine werden faktisch auf Dauer an Russland abgetreten, mit der Konsequenz für die Sicherheit Europas und der Welt, dass der Angriffskrieg als Mittel der Außenpolitik rehabilitiert wird. Ein neu ausgehandeltes „Helsinki II“ bedeutete: Die regelbasierte Weltordnung wird zugunsten eines Gleichgewichts der Großmächte unter Anerkennung ihrer Einflusssphären aufgegeben. Man mag das für Realismus halten und die relativ stabile Bipolarität des Kalten Krieges lediglich als eine Variante dieses Modells interpretieren. Dass eine solche Welt auf absehbare Zeit sicherer und stabiler wäre als die, in der wir heute leben, dürften aber selbst die Befürworter einer Exit-Strategie im Sinne Wulfs nicht ernsthaft behaupten.

Die Alternative bleibt deshalb richtig. Die Ukraine muss die Unterstützung bekommen, die sie zu einer erfolgreichen Verteidigung braucht. Verteidigung beinhaltet ausdrücklich auch die Befreiung besetzter Gebiete. Dass das nicht durch eine glanzvolle Operation im Stil früher Panzerschlachten zu erreichen ist, sondern nur durch ein hartnäckiges Ringen mit einem auf den langfristigen Erfolg angelegten Plan, liegt auf der Hand. Diese Perspektive sollte aber nicht dazu führen, dass die Unterstützer schneller ermatten als die kämpfende Ukraine. Denn nur das russische Scheitern kann die Kriegspolitik des Kremls widerlegen und damit die Grundlage für sicherheitspolitische Stabilität in Europa wiederherstellen.