Als die russische Führung bei der Planung ihres Einmarschs in die Ukraine mit einer schnellen „Spezialoperation“ rechnete, hat sie sich verkalkuliert. Moderne Kriege ziehen sich im Allgemeinen in die Länge. Die Vernichtung eines Staates ist im 21. Jahrhundert ein schwieriges Unterfangen, und in asymmetrischen Konflikten haben auch die schwächeren Parteien keine schlechten Chancen, sich zumindest ein Remis zu erkämpfen. Dass die Ukraine einen schnellen Sieg davonträgt, ist allerdings auch nicht sehr wahrscheinlich – vor allem wenn man bedenkt, dass selbst ein Kriegsausgang, bei dem die völkerrechtlich anerkannten Grenzen der Ukraine wiederhergestellt würden, nicht automatisch das Ende des Krieges bedeuten müsste. Seit Beginn des Großangriffs ist der Konflikt zusehends komplizierter und unübersichtlicher geworden. Inzwischen geht es nicht mehr nur um Gegensätze zwischen Russland und der Ukraine, sondern auch um die Perspektiven der Großmächte und die zukünftige Weltordnung. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Starker einen Krieg gegen einen Schwächeren verliert, aber wenn in einem asymmetrischen Konflikt der Schwache siegt, dann oftmals nicht in Form eines schnellen Happy Ends.

Dass der aktuelle Krieg schon so lange andauert und sich wahrscheinlich noch länger hinziehen wird, hat mehrere Gründe. Erstens gibt es in dem Konflikt keinen Spielraum für mögliche Kompromisse. Jede Seite ist überzeugt, dass die Fortsetzung des Krieges eine bessere Option ist als Verhandlungen. In der Theorie gelten Konflikte dieser Art als „unreif“: In ihrer subjektiven Wahrnehmung glauben die Konfliktparteien, dass eine Fortsetzung des Krieges sie immer noch weniger teuer zu stehen kommt als eine wie auch immer geartete Kompromisslösung. Beide Seiten glauben, dass die Möglichkeiten für den entscheidenden Sieg auf dem Schlachtfeld noch nicht ausgeschöpft sind. Dabei spielen sehr viele Faktoren eine Rolle: Die Konfliktparteien hegen ein abgrundtiefes Misstrauen gegeneinander, haben bittere historische Vorerfahrungen gemacht, gehen von absoluten Worst-Case-Szenarien aus und füllen jede Informationslücke mit maximal pessimistischen Spekulationen. Die Folge: Selbst in einem Krieg, in dem eine Annäherung der Positionen theoretisch möglich wäre, wenn beide Parteien einen hohen Preis zahlen, können keine Kompromissspielräume entstehen. Letztere sind aber die Grundvoraussetzung für jede Konfliktlösung. Der Konflikt ist so „unreif“, dass selbst Bemühungen von Vermittlern keinen Sinn haben.

Die Konfliktparteien haben im Zuge des Krieges den politischen Preis für jedes denkbare Zugeständnis inzwischen massiv in die Höhe geschraubt.

Zweitens haben die Konfliktparteien im Zuge des Krieges den politischen Preis für jedes denkbare Zugeständnis inzwischen massiv in die Höhe geschraubt. Russland hat sogar seine Verfassung geändert, um sich vier teilbesetzte ukrainische Gebiete einzuverleiben. Die ukrainische Regierung hat seinen Einsatz im Laufe des Krieges erhöht und hält mittlerweile jedes Resultat für unzumutbar, bei dem nicht gewährleistet ist, dass sie die Kontrolle über das gesamte ukrainische Territorium zurückbekommt, die russischen Regierungsvertreter zur Verantwortung gezogen werden und Russland Schadenersatz leistet. Hinzu kommt, dass sowohl in der Ukraine als auch in Russland die Kriterien für einen Sieg einigermaßen diffus sind und sich leicht ändern können, sobald durch das Kriegsgeschehen die Emotionen hochkochen und die Radikalisierung zunimmt. Für viele Menschen in der Ukraine ist ein Sieg nur dann ein Sieg, wenn Russland aufgespalten und/oder nuklear entwaffnet wird.

Dass der politische Preis für Zugeständnisse mittlerweile so hochgetrieben wurde, bleibt nicht ohne Folgen: Einmal eingenommene Standpunkte verhärten sich, und wer Kompromissbemühungen auch nur andeutet, wird ausgegrenzt. Nach und nach wird der Konflikt zur Normalität. Die Allgemeinheit gewöhnt sich an den Kriegsalltag. Sie lernt, mit den gegebenen Verhältnissen zu leben, und legt sich ein neues Koordinatensystem politisch-moralischer Werte zurecht – und in diesem Koordinatensystem müssen Politikerinnen oder Politiker, die darüber sprechen, dass es Teillösungen geben und man den Konflikt eingrenzen oder einfrieren könne und dass dies auch ohne einen vollständigen Sieg der Ukraine möglich sei, mindestens mit dem Karriereende rechnen.

Der Krieg hat gezeigt, dass die sicherheitspolitische Weltordnung nicht für die Ewigkeit gemacht ist.

Drittens hat dieser Krieg gezeigt, dass die sicherheitspolitische Weltordnung nicht für die Ewigkeit gemacht ist und die Kräfteverhältnisse sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Russland hat, wie inzwischen deutlich geworden ist, seine Möglichkeiten massiv überschätzt und kann in der Welt von heute kaum mehr den Status einer Großmacht für sich in Anspruch nehmen. Doch auch der Westen hat nicht erreicht, was er erreichen wollte: Allem diplomatischem und politischem Druck und allen Sanktionen zum Trotz konnte er den Krieg weder abwenden noch stoppen. Wenn man die Stärke eines Akteurs danach bemisst, wie gut er in der Lage ist, Konfliktsituationen zu seinen Gunsten zu beenden, geben sowohl Russland als auch die EU und die USA in diesem Krieg bislang ein schwaches Bild ab.

Solange es unmöglich ist, den Krieg zu beenden, werden die interessierten Parteien (deren Kreis sich immer mehr erweitert, sodass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine zur echten globalen Sicherheitskrise mutiert) und auch die ukrainische und die russische Bevölkerung sich an die Kriegsrealitäten gewöhnen und versuchen, damit umzugehen – also die Risiken zu minimieren und dort, wo es möglich ist, die Oberhand zu gewinnen. Die Strategie, die Ukraine mit Waffenlieferungen und Finanzhilfen statt durch Sicherheitsgarantien oder gar durch eine direkte Kriegsbeteiligung zu unterstützen, steht exemplarisch für diese Art der Situationsbeherrschung. Da die USA, China, die EU und ihre größten Mitgliedstaaten die Nuancen dieses Krieges und die Gefahr, die er für sie darstellt, unterschiedlich bewerten, werden konkurrierende Ansätze und politische Konzepte ins Spiel gebracht werden. Der Krieg bekommt eine globale Dimension, bei der es um die zukünftige Weltordnung geht.

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist inzwischen Teil eines sehr viel umfassenderen Konflikts, bei dem die Interessen der meisten großen Staaten auf dem Spiel stehen.

Kampf um die zukünftige Weltordnung – das bedeutet: Der Krieg offenbart nicht nur die momentanen Kräfteverhältnisse und verschiebt sie, sondern er entscheidet auch über die zukünftigen „Spielregeln“. Es kann durchaus sein, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine sich als ein Glied in einer ganzen Kette von Konflikten erweisen wird, die die globale Kräfteverschiebung mit sich bringen wird, welche durch die Schwächung der amerikanischen Führungsrolle und durch Chinas Aufstieg in Gang gesetzt wurde. Diese Entwicklung ist schon seit einer ganzen Weile Thema, aber erst in den vergangenen Jahren hat China bei den entscheidenden Kräfteressourcen den Rückstand auf die USA aufgeholt, ein weltumspannendes Netz von Allianzen aufzubauen begonnen und die gedanklichen Grundlagen für ein eigenes Weltordnungsprojekt formuliert. So gesehen ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine inzwischen Teil eines sehr viel umfassenderen Konflikts, bei dem die Interessen der meisten großen Staaten auf dem Spiel stehen. Das bedeutet allerdings zugleich, dass auch eine Beendigung des Krieges nur im Rahmen von grundsätzlicheren Übereinkünften möglich ist, mit denen diese Interessen ausbalanciert werden könnten. Wenn wir es denn mit einem echten Hegemoniewechsel zu tun haben, wird die Übergangsphase eher von noch mehr Destabilisierung als von der Lösung der bestehenden Konflikte geprägt sein. Welches Schicksal dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine beschieden ist und wie dieser Krieg ausgeht, wird vielleicht davon abhängen, in welche Richtung andere Konflikte sich entwickeln oder wie das Ringen um die zukünftige internationale Sicherheitsarchitektur ausgeht – und diese Konflikte werden in den Hauptstädten der stärksten Staaten ausgetragen.

All das reißt ganz andere Perspektiven auf und macht wenig Hoffnung darauf, dass der Krieg schnell beendet werden könnte, dass die Kriegsverbrecher bestraft würden und die Ukraine unter dem Schutz der NATO-Mitgliedschaft oder direkter Sicherheitsgarantien zügig wiederaufgebaut würde. Die Übergangsphase, in der die Weltordnung neu ausgehandelt wird und die globalen Gegensätze sich zuspitzen, kann sich ziemlich lange hinziehen. Vor dem Hintergrund, dass die Preise im aktuellen Krieg so hoch sind, werden die Gegensätze und Rivalitäten sich unterschiedlich ausprägen und in verschiedenen Bereichen ausgetragen werden. Die USA, China und die EU stecken in einem komplizierten Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten und Rivalitäten und sind aufeinander angewiesen. Gleichzeitig sind sie bemüht, ihre gegenseitige Abhängigkeit so zu steuern, dass für sie mehr herausspringt als für andere. Für sie kann der Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Orientierungshilfe dienen, die ihnen sagt, wie sie ihr Kräftepotenzial bemessen sollten – und das ist eine Orientierungshilfe, auf die sie schwer verzichten könnten und die sie ungern ihren Konkurrenten überlassen. Auch das kann sich kriegsverlängernd auswirken.

Noch nie war für die Europäische Union die Gefahr, ihren globalen Einfluss zu verlieren, so akut.

Wenn die Welt sich rasant auf die Neuauflage einer bipolaren Ordnung zubewegen sollte, in der der Westen und die nicht-westliche Welt, der Globale Norden und der Globale Süden, Autokratien und Demokratien oder schlicht und einfach die USA und China einander gegenüberstehen würden, dann würden die Trennlinien schärfer gezogen und die geopolitische Komponente der Rivalität würde die entscheidende sein. Mit dieser Entwicklung der Dinge wüchse die Wahrscheinlichkeit, dass auf dem Territorium der Ukraine eine neue Version des „koreanischen“ oder „deutschen“ Szenarios aus Zeiten des Kalten Krieges Wirklichkeit würde. Die Entscheidung über die Zukunft der Weltordnung ist schon im Gange, aber weder die Ukraine noch Russland haben die volle Kontrolle darüber, welchen Verlauf der Krieg zwischen ihnen nimmt.

Für Europa kommt es in dieser schwierigen Gesamtsituation entscheidend darauf an, dass es eine eigene Vision für eine Sicherheitsordnung entwickelt und die eigenen strategischen Interessen richtig definiert. Noch nie war für die Europäische Union die Gefahr, ihren globalen Einfluss zu verlieren, so akut. Mit Hilfe der Lektionen, die sie in aller Eile aus der russischen Invasion gelernt hat, kann die EU zwar vermutlich ihr Kräftepotenzial so aufrüsten, dass es dem neuen Zeitalter der Instabilität gerecht wird, aber damit wird es nicht getan sein. Europa muss eine fundierte Antwort auf die Herausforderung finden, vor die Europa durch die verschärfte Rivalität zwischen den USA und China gestellt wird. Es muss eine langfristige Chinapolitik entwickeln, zu der auch die Haltung der EU zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine und ihre Interessen in diesem Krieg gehören müssen. Europa muss die Sicherheitsrisiken kalkulieren und außerdem ermitteln, welchen sicherheitspolitischen Preis es wird zahlen müssen, wenn dieser Krieg auf unbestimmte Zeit weitergeht – und Europa muss herausfinden, in welchem Format es seine Beziehungen zur Ukraine am besten gestalten und sich die Sicherheitsrisiken am besten mit der Ukraine teilen kann.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld