Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat innerhalb weniger Wochen die sicherheitspolitische Lage im Norden Europas verändert. Die zwei bündnisfreien Länder der Region, Finnland und Schweden, wollen schnellstmöglich NATO-Mitglieder werden. Am 17. Dezember letzten Jahres forderte Wladimir Putin eine neue Sicherheitsordnung in Europa mit einem Stopp zukünftiger NATO-Erweiterungen und dem Rückzug alliierter Verbände aus Osteuropa. Mit seinem brutalen Angriffskrieg hat der Kreml nun das Gegenteil erreicht. Er hat die NATO geeint, die militärische Präsenz des Bündnisses nahe dem Konfliktgebiet verstärkt und zwei weiteren Staaten den Beitritt schmackhaft gemacht.

Das Bild habe sich durch den grausamen russischen Krieg in der Ukraine entschieden geändert, betonte Finnlands Präsident Sauli Niinistö am 12. Mai mit Blick auf seine veränderte Sicht auf eine finnische NATO-Mitgliedschaft. „Wenn jemand fragt, warum Russland jetzt mitansehen muss, dass Finnland sich der NATO anschließt, dann sage ich, das ist selbstverschuldet. Schauen Sie in den Spiegel.“

Niinistö, der Putin besser kennt als die meisten, machte schon in seiner Neujahrsansprache klar, dass die sicherheitspolitische Wegwahl seines Landes einzig und allein die Sache des finnischen Volkes sei. Zum Jahreswechsel war eine klare Mehrheit der Finnen noch gegen eine NATO-Mitgliedschaft. Nach dem 24. Februar hingegen berichteten finnische Abgeordnete, dass viele Wählerinnen und Wähler den Kontakt gesucht und sich für eine Debatte über eine NATO-Option ausgesprochen hätten. In aktuellen Umfragen vom 10. Mai waren ganze 76 Prozent für eine Mitgliedschaft.

Mit Blick auf den NATO-Mitgliedsantrag seines Landes betont der finnische Präsident Sauli Niinistö, dass Russland dies selbst verschuldet habe.

Die Finnen haben eine sehr pragmatische und praktische Sicht auf die NATO: Schutz gegenüber einem instabilen Russland, mit dem sie eine 1 340 Kilometer lange Grenze teilen. Sie haben eine völlig andere historische Erfahrung mit Moskau als ihre schwedischen Nachbarn. In den Wirren der russischen Revolution erklärte Finnland 1917 seine Selbständigkeit. Zwischen 1939 und 1945 erlebte es im Kampf gegen Stalins Russland enormes menschliches Leid und erlitt große Gebietsverluste. Nach dem Krieg zwang Moskau Finnland einen Pakt der Freundschaft, Zusammenarbeit und des Beistands auf und es musste sich zur Bündnisfreiheit verpflichten. Erst mit dem Fall der Sowjetunion 1991 konnte Finnland die EU-Mitgliedschaft beantragen.

Weder Finnland noch Schweden fühlten sich zwar nach ihrem EU-Beitritt 1995 durch die Sicherheitsgarantie nach Artikel 42(7) des EU-Vertrags sicher genug, doch eine NATO-Mitgliedschaft lag für beide Länder in weiter Ferne. Für Schweden rüttelt sie an der Identität und Selbstauffassung, die 200 Jahre Bündnisfreiheit und Frieden hinterlassen haben. Aber auch hier beeinflusste Russlands Angriffskrieg in der Ukraine die öffentliche Meinung und führende Politiker stark. Die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson erklärte nach dem Reichstagsbeschluss über den NATO-Beitritt, es wäre für Schweden sehr schwer geworden, als Außenseiterland in einer immer angespannteren sicherheitspolitischen Lage alleine dazustehen.

Die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson erklärte, es wäre für Schweden sehr schwer geworden, als Außenseiterland in einer immer angespannteren sicherheitspolitischen Lage alleine dazustehen.

Dänemark wird in einer Volksabstimmung am 1. Juni voraussichtlich dafür stimmen, seine Vorbehalte gegen die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU aufzuheben. Die strategische Landkarte Nordeuropas hat sich somit innerhalb weniger Monate komplett verändert. Der finnische und der schwedische NATO-Beitritt ist ein game changer. Das den Norden prägende strategische Loch wird gestopft und durch eine taktische „Tiefe“ ersetzt, die die Verteidigung der nordischen und der baltischen Staaten erleichtert. Mit allen fünf nordischen Ländern in der NATO wird die Ostsee weitgehend ein NATO-Meer.

Sowohl Schweden als auch Finnland sind politisch stabile Demokratien, gutverankerte Rechtsstaaten und militärisch stark. Ein vereinter Norden in der NATO erhöht die militärische Kapazität und die kollektive Verteidigungsbereitschaft des Bündnisses. Die Mitgliedschaft der beiden Länder wird die NATO als Wertegemeinschaft stärken und das politische Gewicht des Nordens im Bündnis erhöhen. Die Wehrfähigkeit beider Länder erweitert die Abschreckung der NATO und ihre Verteidigungsfähigkeit in einer für das Bündnis strategisch wichtigen Region. Auch die Zusammenarbeit im nachrichtendienstlichen Bereich wird deutlich erleichtert und ein besseres Verständnis der Lage ermöglicht.

Die strategische Landkarte Nordeuropas hat sich somit innerhalb weniger Monate komplett verändert.

Militär-strategisch lassen sich die finnischen und schwedischen Verbände leicht in die NATO integrieren. Die Streitkräfte beider Länder sind bereits NATO-kompatibel, weil sie schon seit Jahrzehnten unter anderem auf dem Balkan, in Afghanistan und in Norwegen an multinationalen Operationen und Übungen teilgenommen haben.

In den nächsten Jahren werden die nordischen Länder eine bedeutende Flotte moderner Kampfflugzeuge aufbauen. Insgesamt werden Norwegen, Finnland und Dänemark dann über etwa 150 F-35-Kampfflugzeuge verfügen und Schweden eine beträchtliche Anzahl von JAS 39 Gripen. Das ist eine eindrucksvolle luftmilitärische Kapazität. Damit verbunden ist ein bedeutendes Potential an kosteneffektiver Zusammenarbeit bei Stützpunkten, Logistik sowie Aus- und Weiterbildung. Zählt man Deutschland, die Niederlande und Großbritannien als Teil der Nordseekooperation dazu, verfügt Nordeuropa dann ungefähr über 250 bis 300 F-35 sowie die schwedischen Kampfflugzeuge. Dies schafft ein umfassendes und robustes Abschreckungsregime in Nordeuropa. Und es erhöht die Fähigkeit der NATO, die transatlantische Verbindung über den Nordatlantik gegen russische Unterbrechungsstrategien zu schützen. Letzteres ist ein entscheidender Punkt, um sicherzustellen, dass Verbände und Verstärkung aus den USA Europa im Falle einer Krise oder eines Krieges erreichen können. Oft hieß es, dass Norwegen „die NATO im Norden“ sei. Mit Finnland und Schweden in der NATO erhält Norwegen – als einziger atlantischer Küstenstaat mit einer Grenze zu Russland und mit einer Verantwortung für ein enormes Meeresgebiet, das siebenmal größer als sein Festland ist – erhebliche Rückendeckung.

Russland gefällt der verteidigungspolitische Kurswechsel Finnlands und Schwedens natürlich überhaupt nicht. Beide Länder haben angedeutet, dass sie – wie auch Norwegen – entspannungspolitische Elemente mit ihrer Mitgliedschaft verknüpfen wollen, darunter den Verzicht auf die Einrichtung ständiger NATO-Stützpunkte in Friedenszeiten und auf die Stationierung von Atomwaffen in ihren Ländern. Auf kurze Sicht sind dennoch erhöhte Spannungen mit Russland zu erwarten. Allerdings verfügt Moskau nur über begrenzte militärische Möglichkeiten, um den NATO-Erweiterungsprozess zu beeinflussen. Ein großer Teil der russischen Verbände ist durch den Krieg in der Ukraine gebunden. Aber der Kreml könnte natürlich hybride Mittel einsetzen, vor denen viele warnen. Das könnte eine Mischung aus Cyberangriffen und Grenzverletzungen im Luftraum oder in der Ostsee sein sowie die Verbreitung von Falschinformationen, um Angst und Unsicherheit zu schüren.

Die Wehrfähigkeit beider Länder erweitert die Abschreckung der NATO und ihre Verteidigungsfähigkeit in einer für das Bündnis strategisch wichtigen Region.

Es ist auch nicht auszuschließen, dass Moskau versucht, den Ratifizierungsprozess innerhalb der NATO zu beeinflussen, indem es einzelne Mitgliedstaaten unter Druck setzt. Darüber, ob ein solches Vorgehen hinter den plötzlichen Einwänden der Türkei steht, die diese nun gegen das von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Aussicht gestellte Schnellverfahren bei der Aufnahme der zwei Länder vorgebracht hat, kann man nur spekulieren. Die türkische Regierung behauptet, Schweden und Finnland seien „eine Heimstätte für kurdische Terroristen“. Sie haben ihre Zustimmung zum Schnellverfahren an eine Reihe von Forderungen geknüpft.

Erst wenn alle 30 NATO-Staaten die Aufnahme der beiden Länder ratifiziert haben, werden Schweden und Finnland Mitglieder, und erst dann greifen die kollektiven Sicherheitsgarantien aus Artikel 5. Diese sind letztlich der Hauptgrund für die Beantragung der Mitgliedschaft durch die beiden Länder. Denn de facto können sie nach den vielen Jahren enger Kooperation mit der NATO bereits jetzt quasi als „Semi-Mitglieder“ betrachtet werden.

Aus dem Norwegischen von Ralph Aurand