Der Appell „Waffenstillstand jetzt!“ in der ZEIT letzte Woche, der den Westen auffordert, den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen zu beenden, hat gehörige Wellen geschlagen. Ich habe grundsätzlich Sympathien für die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Artikels. Von vielen von ihnen habe ich in der Vergangenheit mit Gewinn Texte, Bücher und Aufsätze gelesen. Den einen oder anderen habe ich Laufe meines Lebens persönlich kennen und schätzen gelernt. Der neue, lockere Bellizismus in einigen deutschen Medien macht mich instinktiv misstrauisch und Stimmen der Reflexion und Abwägung sind mir hoch willkommen. Mit schweren Waffen spielt man nicht.

Aber der Text aus der ZEIT reizt zum Widerspruch. Die Prämissen erscheinen mir schlicht nicht richtig zu sein. Im argumentativen Eröffnungszug wird suggeriert, dass die Entscheidung, wie lange dieser Krieg dauern wird, im Grunde bei der Ukraine liege. Sie müsse entscheiden, ob sie tatsächlich einen Krieg bis zur Rückeroberung der besetzten Gebiete, einschließlich der seit 2014 russisch besetzten Landesteile, führen wolle. Und der Westen müsse sich entsprechend entscheiden, ob er dies unterstützen wolle (zu einem gegebenen Zeitpunkt würde er das tatsächlich müssen).

Doch welcher Wirklichkeit entspricht dies? Die Ukraine entscheidet militärisch und strategisch im Moment (noch) gar nichts. Die Entscheidung, wo, wie und mit welcher Intensität in der Ukraine Krieg geführt wird, liegt immer noch bei Russland. Die Ukraine verteidigt sich gegen einen nicht nachlassenden Angriff auf militärische und zivile Ziele. Nichts in der Kommunikation der russischen Seite lässt darauf schließen, dass diese davon Abstand nimmt, ihre „Kriegsziele“ zu erreichen. Und diese sind, soweit man dazu Aussagen machen kann, aus Sicht der heutigen Frontlage weiterhin offensiv: Wenn nicht (mehr) die Zerschlagung des „faschistischen“ ukrainischen Staates, dann doch die Eroberung des gesamten Donbas und des Südens der Ukraine entlang des Asowschen und des Schwarzen Meeres. Aus russischer Sicht ist dieser Krieg immer noch unfinished business.

Die Ukraine verteidigt sich gegen einen nicht nachlassenden Angriff auf militärische und zivile Ziele.

Es geht daher im Moment nicht um die Definition von langfristigen ukrainischen (und westlichen) Kriegszielen. Es geht nach wie vor um die Gegenwehr gegen eine anhaltende russische Aggression. Die Entscheidung darüber liegt in Moskau, nicht in Kiew: Russland könnte diesen Krieg sofort beenden, tut es aber nicht. Und solange dies so ist, ergibt es auch nicht viel Sinn, darüber nachzudenken, was vom Westen zu tun wäre, wenn es denn einmal anders sein sollte. Hic Rhodus, hic salta.

Gleichzeitig fordert der Appell den Westen auf, „Bedingungen zu schaffen, unter denen Verhandlungen überhaupt möglich sind“. Auch hier fragt man sich, was damit gemeint sein kann. Ist es denn nicht so, dass gerade die militärische Unterstützung für die Ukraine der entscheidende Faktor ist, der die Bedingungen für Verhandlungen schafft? Würde Putin mit einer militärisch unterlegenen Ukraine verhandeln? Kriege werden meistens dann per Verhandlung und nicht per Kapitulation beendet, wenn beide Seiten militärisch nicht siegen können. Wer Verhandlungen und Kompromisse will, muss erst einmal ein militärisches Patt organisieren. Sonst wird nämlich der Angreifer schlicht das tun, zu was er sich entschlossen hatte: seine Ziele mit militärischen Mitteln verfolgen. Warum sollte er nicht weitermachen, wenn es doch geht?

Es bleibt ein Eindruck von Widersprüchlichkeit und sehr vager Sachargumentation: So will man „anfängliche Verständigungsbereitschaft“ auf Moskauer Seite ausgemacht haben. Es wäre interessant zu wissen, auf was sich das bezieht. Die Argumentation des Kremls bezüglich dieses Krieges ist völlig uneinheitlich. Nach innen, gegenüber der russischen Bevölkerung wird mit einem angeblichen „Genozid“ im Donbas durch ukrainische „Faschisten“ argumentiert. Nach außen, gegenüber dem Westen, mit verletzten Sicherheitsbedürfnissen ob der Expansion der NATO.

Wer Verhandlungen und Kompromisse will, muss erst einmal ein militärisches Patt organisieren.

Putin sieht sich in der Tradition Katharina der Großen und Peter des Großen auf einer historischen Mission als „Sammler der russischen Erde“, zu denen er die Ukraine zählt. Und nicht auszuschließen ist, dass es sich am Ende auch um Ressourcen-Imperialismus handelt, mit dem die Rohstoff-Ökonomie Russland die Hand auf die beträchtlichen ukrainischen Gasreserven legt und ihre Marktmacht auf den globalen Rohstoffmärkten – von Getreide über Metalle bis zur Kohle – durch die Übernahme der ukrainischen Produktionskapazitäten betonieren will. Auf was bezieht sich die von den Autorinnen und Autoren des Appells erkannte „anfängliche Verständigungsbereitschaft“ Moskaus? Und wann war „anfänglich“? Vor dem Kriegsbeginn? Beim Kriegsbeginn? Nach dem Scheitern des russischen Angriffs auf die Hauptstadt Kiew?

Einen Angreifer, der laut ZEIT-Text zu einem jahrelangen Angriffskrieg bereit ist, will man in eine Strategie „zur schrittweisen Deeskalation“ einbinden. Durch was dieser Sinneswandel im Kreml erreicht werden soll, wird nicht einmal angedeutet. Es erscheint nicht sehr wahrscheinlich, dass Russland den Krieg deswegen beenden wird, weil der Westen, wie von den Autorinnen und Autoren gewünscht, bekundet, dass er kein Interesse an der Fortführung des Krieges hat. Sehr viel wahrscheinlicher erscheint die Vermutung, dass diese Aggression dann enden wird, wenn sich ihre Fortsetzung – aus welchen Gründen auch immer – für den Kreml nicht mehr lohnt oder wenn sie nicht mehr möglich ist.

Wie schon dem ersten Emma-Aufruf fehlt auch diesem Appell etwas Entscheidendes: Die Autorinnen und Autoren drücken sich um eine klare Aussage herum, um was sie glauben, dass es in diesem Krieg tatsächlich geht. Sie agieren ein bisschen wie ein Arzt, der auf eine Anamnese verzichtet, aber dennoch Therapievorschläge macht. Solange die Deeskalations-Befürworter nicht entlang einer expliziten politischen Argumentationskette begründen, warum ihrer Meinung nach Moskau den Krieg, den es mit dem Ziel der Zerschlagung der Ukraine als eigenständigen Staat außerhalb des russischen Machteinflusses begonnen hat, nicht zu Ende führen wird, wenn es denn kann – so lange fehlt diesen Appellen ein tragfähiges argumentatives Fundament.

Man kann sich um die Beantwortung dieser Fragen nicht drücken, denn sie sind entscheidend für die Bestimmung der richtigen Strategie im Umgang mit diesem Konflikt. Nur im Abstrakten und im Normativen zu verbleiben, geht hier nicht und überzeugt auch nicht. Wer Angst vor Schlafwandlern hat, muss nicht unbedingt falsch liegen. Aber er oder sie muss argumentativ schon mehr vorlegen, um eine gesellschaftliche Mehrheit von dieser Position zu überzeugen.