Die Sondierungen für eine mögliche Ampel-Koalition laufen. Wenn sie den nun so oft beschworenen Stilwandel auch außenpolitisch umsetzen möchten, sollten SPD, Grüne und FDP jetzt die Chance ergreifen, nach einer über 20 Jahre andauernden außen- und sicherheitspolitischen Debatte endlich einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten.

Der Druck, die Architektur der außenpolitischen Entscheidungsstrukturen, die sich seit den 1960er Jahren kaum verändert hat, an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen, ist in den letzten Jahren weiter gestiegen. Außenpolitik wird heute fast überall in der Regierung gemacht. In den Fachministerien gibt es zusammengenommen fast dreimal so viele Referate, die sich mit internationalen Fragen befassen, wie es Referate im Auswärtigen Amt gibt. In einer zukünftigen Dreier-Konstellation ohne Juniorpartner nimmt damit die Gefahr einer außenpolitischen Kakophonie und Entscheidungsunfähigkeit zu. Deutschland braucht eine handlungsfähige Regierung, die im Ausland zwar von mehreren Ressorts vertreten wird, aber sich nicht wechselseitig konterkariert. In den vergangenen Monaten forderten deswegen nicht nur einschlägige sicherheitspolitische Experten und der Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats. Auch die von der Bundesregierung eingesetzte Fluchtursachenkommission, bestehend aus 24 Vertretern aus NGOs, Wissenschaft und internationalen Organisationen, forderte in ihrer ersten (!) Empfehlung einen „Rat für Frieden, Sicherheit und Entwicklung“. Kein Wunder, dass sich Befürworter einer solchen institutionellen Weiterentwicklung – unter welchem Namen auch immer – in ganz verschiedenen politischen Kreisen und Parteien – FDP und Grüne eingeschlossen – finden.

Die neue Koalitionsregierung muss endlich einen Nationalen Sicherheitsrat einrichten.

Dennoch gibt es auch Widerstand gegen eine Reform. Die Kritiker – wie Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik kürzlich in diesem Magazin – haben im Kern zwei Argumente: Erstens passe ein Nationaler Sicherheitsrat nicht zum deutschen Regierungssystem, das durch Koalitionen bestimmt und von einem starken Parlament geprägt werde. Zweitens brauche, wer nur den politischen Willen habe, endlich eine strategischere Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, auch keine anderen Strukturen.

Vielleicht führt die Bezeichnung „Nationaler Sicherheitsrat“ dazu, dass die Kritiker viel Zeit darauf verwenden, gegen ein Gremium zu argumentieren, welches niemand in dieser Form gefordert hat. Von den Befürwortern eines Rats jedenfalls sieht niemand die riesige Bürokratie des US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsrats als Vorbild für Deutschland.

Gefordert und diskutiert werden im Kern zwei Dinge: ein Kabinettsausschuss mit relevanten Kabinettsmitgliedern, die regelmäßig die wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Dossiers besprechen, sowie ein Unterbau dieses Kabinettsausschusses für mehr Koordinierungsfähigkeit aus dem Kanzleramt. Beides wäre mit Koalitionsregierungen, dem Ressortprinzip und auch mit der Rolle des Bundestags bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen oder der Verabschiedung des Bundeshaushalts selbstverständlich vereinbar.

Für die Skeptiker liegt der Kern der bestehenden Koordinierungsprobleme darin, dass es in Deutschland Koalitionsregierungen gibt. Wo sich die Parteien nicht einigen könnten, helfe eben auch ein Rat nicht. „Im besten Fall wäre er unnötig, weil die Konsensfindung im Kabinett bzw. im Koalitionsausschuss stattfindet; im schlechtesten Fall wäre er blockiert“, argumentiert etwa Markus Kaim. Das Argument ist insoweit richtig, dass ein Nationaler Sicherheitsrat kein Allheilmittel für die Lösung politischer Großkonflikte ist, für die in den Koalitionsverhandlungen keine Kompromisse gefunden werden. Abgesehen davon, dass dies niemand behauptet, greift es aus mindestens zwei Gründen zu kurz.

Erstens verkennt es, dass die Koordinierungsdefizite und fehlende Strategiebildung sich nicht ausschließlich auf die politischen Großkonflikte beziehen. Im gegenwärtigen System sind auch für viele Themen, bei denen es auf politischer Ebene gar keine oder leicht überwindbare Konflikte gibt, die Anreize so gesetzt, dass Entscheidungen – wie etwa zur Entwicklungshilfe und Stabilisierungsprojekten in Mali – blockiert, verzögert, verschleppt werden. Die Konsensfindung findet eben nicht im Kabinett statt. Dabei werden zehntausende Arbeitsstunden verschwendet, die dringend für eine aktivere, strategischere Außen- und Sicherheitspolitik gebraucht würden.

Es gibt zurzeit im deutschen System keinen Ort für gemeinsame außenpolitische Strategiebildung.

Zweitens gibt es zurzeit im deutschen System keinen Ort für gemeinsame Strategiebildung. Alle bisherigen Mechanismen, Ressortkreise, Koordinierungsgruppen, Staatssekretärsrunden sind hier weitestgehend gescheitert. Natürlich ist es schwierig, im Nachhinein zu beweisen, dass ein Nationaler Sicherheitsrat in wichtigen außenpolitischen Konfliktfällen einen Unterschied gemacht hätte. Aber hätte es zum Beispiel regelmäßige Strategiesitzungen auf Kabinettsebene gegeben, in denen handels-, sicherheits- und technologiepolitische Interessen abgewogen würden, wären die sicherheitspolitischen Bedenken in Bezug auf den chinesischen 5G-Anbieter Huawei deutlich früher prominent artikuliert worden. Gäbe es alle zwei Wochen eine Sitzung eines Kabinettsausschusses, bei der alle relevanten Minister mitdiskutierten, könnten Konflikte und Blockaden auf Arbeitsebene wie zu Stabilisierungsprojekten in Mali oder zum Umgang mit den Ortskräften in Afghanistan schneller gelöst werden.

Das zweite Hauptargument der Skeptiker lautet, dass es auf den politischen Willen oder die Bereitschaft der politischen Klasse ankomme, nicht auf neue Strukturen. Niemand bestreitet, dass es für eine effektivere, strategischere Außenpolitik den politischen Willen im Kanzleramt und an der Spitze der relevanten Ministerien und Parteien braucht.

Doch erstens unterschlägt dieses Argument den Gewohnheits- und Einübungseffekt, den gemeinsame Strukturen haben können. Befürworter einer Reform setzen darauf, dass die Schaffung von Strukturen die Willensbildung befördern kann. Das mag seine Zeit brauchen, ist aber keinesfalls aussichtslos. Ganz sicher ist diese Strategie deutlich aussichtsreicher als die Alternative: das Warten auf den „politischen Willen“ oder eine veränderte „strategische Kultur“, die dann am St. Nimmerleinstag zu einer strategischen Außenpolitik führen.

Zweitens impliziert das Argument, dass es keine neuen Strukturen bräuchte, wenn nur der politische Wille vorhanden wäre. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ein Beispiel: Laut einem Spiegel-Bericht hatte Angela Merkel das Gefühl, dass die Ministerien in der Frage der Rettung der Ortskräfte in Afghanistan nicht schnell genug agierten, und sprach zweimal „am Rande des Kabinetts“ mit den entsprechenden Ministern. Was hätte eine Kanzlerin mit einem größeren politischen Willen in dieser Situation getan? Sie hätte die Minister öfter zusammengetrommelt und das Kanzleramt auf Arbeitsebene bei den Ministerien immer wieder nachfragen lassen. Was würden Minister tun, die den politischen Willen hätten, in der Außenpolitik einheitlicher zu handeln? Sie würden nicht nur das eigene Haus entsprechend anweisen, sondern auch die Strukturen schaffen, um sich regelmäßig mit den entsprechenden Kollegen zusammenzusetzen, gemeinsam strategische Vorausschau zu betreiben und Strategien zu entwickeln.

Ein „Weiter so!“ ist viel problematischer als die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats.

Dass ein Nationaler Sicherheitsrat nicht alle Probleme der deutschen Außen –und Sicherheitspolitik lösen kann, ist kein überzeugendes Argument gegen eine Reform. Angesichts der enormen außenpolitischen Herausforderungen ist ein „Weiter so!“ viel problematischer. Deswegen sollte das Thema in den Koalitionsverhandlungen berücksichtigt werden – mit allen möglichen Machtverschiebungen, die sich daraus ergeben können. Bereits 1998 hatte die rot-grüne Koalition in ihrem Koalitionsvertrag die Aufwertung des Bundessicherheitsrats beschlossen. Doch Außenminister Joschka Fischer kippte das Projekt, weil er die Entmachtung des Auswärtigen Amts befürchtete. Doch diese Schwächung trat ohnehin ein, weil das Kanzleramt viele wichtige Themen an sich gezogen hat, vor allem seit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags, der den Europäischen Rat mit den Staats- und Regierungschefs gestärkt hat, und weil die Fachressorts einige auch außenpolitisch wichtige Politikbereiche federführend verhandeln. Damit es nicht bei Formelkompromissen oder Lippenbekenntnissen zur besseren Koordinierung bleibt, müssen die möglichen Koalitionäre neben inhaltlichen Kompromissen die strukturellen Details mitverhandeln: Braucht es einen neuen Kabinettsausschuss, in dem der Bundessicherheitsrat aufgeht, oder reicht dessen Aufwertung? Welche Rolle könnte ein Nationaler Sicherheitsberater spielen, und könnten die Parteien diesen gemeinsam benennen? Welche Kompensation enthält der Koalitionspartner, der das Auswärtige Amt übernimmt? Welche Rolle kann das AA bei der Unterstützung des Rats spielen? Welche weiteren Anpassungen und Kompetenzverschiebungen zwischen den Ressorts sind geboten? Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch.

Vor allem sollte die Debatte nicht allein darum kreisen, wer wie viel und was verliert. Denn so verlieren am Ende alle. Im besten Fall bietet eine Reform die Chance für eine mögliche Ampel-Koalition, einer Außen- und Sicherheitspolitik den Weg zu bereiten, die alte Strukturen aufbricht und neu interpretiert, die mehr ist als die bloße Summe von Einzelthemen und -interessen der verschiedenen Ressorts und die damit tatsächlich neue Handlungsfähigkeit schafft. Das wäre doch ein Projekt für eine Koalition, deren Anspruch es sein soll, aus Partnern mit unterschiedlichen Hintergründen und Identitäten etwas Neues, Gemeinsames, Besseres zu formen.