Seit dem Jahr 2014 steht das Thema NATO-Mitgliedschaft ganz oben auf der außenpolitischen Agenda des jüngsten europäischen Staates, Kosovo. Gäbe es einen kosovarischen Wappenspruch, würde er lauten: „NATO is for life – EU is for better life“.

Bislang haben, je nach Standpunkt, schon oder erst 112 der 193 UN-Mitgliedstaaten die Staatlichkeit Kosovos anerkannt. Im UN-Sicherheitsrat verweigern diese Anerkennung jedoch China und insbesondere Russland, wegen seiner historischen und ethnopolitischen Verknüpfungen mit Serbien, mit Verweis auf Resolution 1244 des Sicherheitsrats aus dem Jahr 1999.

Aber auch die vier NATO-Mitglieder Griechenland, Rumänien, Slowakei und Spanien verwehren der Regierung in Pristina aus Sorge um sezessionistische Präzedenzfälle für eigene Minderheiten die diplomatische Anerkennung. Kosovo stellt damit bislang einen vielfach nicht anerkannten, ausgeschlossenen Staat dar, der keine nennenswerten Mitsprache- und Partizipationsrechte auf internationaler Bühne hat.

Für die Entscheidungsfindung über den künftigen NATO-Beitritt scheint deshalb das Bonmot zutreffend zu sein: Wer Schmetterlinge im Bauch haben will, muss zuerst eine Raupe schlucken. Denn alle Entscheidungen des Bündnisses müssen bekanntlich einstimmig beschlossen werden.

Investieren und profitieren bilden für die NATO-Mitgliedschaft ein konstitutives Tandem.

Die „Study on NATO Enlargement“ wie auch der „Membership Action Plan“ definieren in den Sektoren Politik, Wirtschaft, Militär, Ressourcen, Sicherheit und Recht Voraussetzungen an einen NATO-Aspiranten. Im Unterschied zum Kriterienkatalog der EU besteht jedoch bei der NATO kein zwingender Zusammenhang zwischen deren Nichterfüllung und Ablehnung. Entscheidend ist die Zustimmung aller Mitglieder, dass mit der Erweiterung ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses geleistet wird. Investieren und profitieren bilden hierbei für die NATO-Mitgliedschaft ein konstitutives Tandem. Jeder Allianzpartner investiert in die „security posture“ und trägt damit zur kollektiven Verteidigung als Funktion der NATO bei. Im Gegenzug kann er auf die Sicherheit durch die anderen NATO-Partner zählen.

Erfüllt Kosovo die Anforderungsprofile der verschiedenen Sektoren und wäre ein Beitritt ein Gewinn für die Verteidigungsgemeinschaft? Ein Blick auf Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit stimmt nicht optimistisch.

Im Korruptionsranking belegt Kosovo Platz 103, gleichauf mit Moldau, Äthiopien und der Dominikanischen Republik.

Im Kapitel Rechtsstaatlichkeit des jüngsten EU-Fortschrittsberichts 2016 heißt es: „Die Justiz ist immer noch anfällig für unangemessenen politischen Einfluss, und rechtsstaatliche Institutionen sind unterfinanziert und unterbesetzt.“ Freedom House gibt Kosovo bei den politischen Rechten auf der Skala 1 bis 40 nur Rang 24. Auch bei den bürgerlichen Freiheiten rangiert es lediglich auf Position 28 von 60 als beste Beurteilung. Im Korruptionsranking von Transparency International belegt das Land Platz 103, gleichauf mit Moldau, Äthiopien und der Dominikanischen Republik.

Die Landesverteidigung obliegt bislang noch der multinationalen militärischen Formation KFOR unter NATO-Leitung auf der Rechtsgrundlage der Resolution 1244. Aufgabe der nur leicht bewaffneten 2500 Soldaten und 800 in Reserve der Kosovo Security Force (KSF) ist im Wesentlichen der Katastrophenschutz und ein bisschen Selbstverteidigung. Die Transformation der KSF in reale Streitkräfte verfolgt der zuständige Minister Haki Demolli aus zwei Gründen: Militär sei der sichtbare Ausdruck von Eigenstaatlichkeit. Mit der Präsenz von kosovarischen Streitkräften würde die Staatsqualität von Kosovo einmal mehr herausgestellt. Und um NATO-Mitglied zu werden, müsse Kosovo ohnehin zunächst über eine eigene Armee verfügen und die KSF entsprechend den geforderten Allianz-Standards in ein modernes Heer umstrukturieren. Außerdem müsste das Bündnis nicht auf Dauer teurer seine Soldaten im Land stationieren. Geschickt wirbt er mit der Botschaft: „Wir wollen Sicherheit nicht nur konsumieren, sondern selbst anbieten.“ Im Rahmen der künftigen Kosovo-Armee mit maximal 5000 Berufssoldaten soll eine Spezialeinheit für „Such- und Rettungsmissionen“ zur Teilnahme an „internationalen UN- und NATO-Einsätzen“ aufgebaut werden, die es bislang in der gesamten Westbalkan-Region nicht gibt.

 

Sich als ärmstes Land auf dem Balkan auch nur in Richtung der geforderten zwei Prozent bewegen zu wollen, ist eher wie Luftgitarre spielen.

Könnte Kosovo überhaupt die finanzielle Anforderungen einer Mitgliedschaft erfüllen? Auf dem NATO-Gipfel von Wales im Jahr 2014 verpflichteten sich die Mitglieder, mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung auszugeben. Das Budget für die KSF betrug 2015 45,26 Millionen Euro. Das entspricht 0,79 Prozent des kosovarischen BIP. Sich als ärmstes Land auf dem Balkan mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 4000 US-Dollar pro Jahr damit auch nur in Richtung der geforderten zwei Prozent bewegen zu wollen, ist keine Ästhetik der Realpolitik, sondern eher wie Luftgitarre spielen.

Außer von Serbien und Bosnien-Herzegowina ist Kosovo von allen Staaten des Westbalkans völkerrechtlich anerkannt und hat diplomatische Beziehungen mit ihnen. Aller Voraussicht nach wird es zeitlich gesehen als letztes Land aus der jugoslawischen Erbmasse der EU beitreten. Während des Prozesses dahin wird es bereits von immer mehr Westbalkan-EU-Mitgliedern, also von Demokratien, umgeben sein. Dazu gehört dann auch Serbien. In diesem Sinne liegt es im Interesse von Belgrad und Pristina, auf eine Detente der bilateralen Beziehungen hinzuarbeiten, um die Perspektive eines künftigen EU-Beitritts zu verwirklichen. Besteht in diesem sicherheitspolitischen Kontext überhaupt die Notwendigkeit einer doppelten Integration in EU- und NATO-Strukturen?

Im Rahmen einer EU-Integration Kosovos würde das Land nach Artikel 42, Absatz 7 des Lissaboner Vertrags bei einem „bewaffneten Angriff“ garantierte „Hilfe und Unterstützung“ aller EU-Mitglieder bekommen. Der Bedarf an zusätzlicher Beistandsverpflichtung, wie sie Artikel 5 beim NATO-Beitritt gewährleistet, scheint unter dieser Prämisse für Pristina nicht dringlich zu sein.

Aus Washingtoner Sicht wäre ein Bündnispartner Kosovo hingegen sehr wohl nützlich. Damit würde nämlich der südliche sicherheitspolitische Ring der US-geführten Allianz, entlang der Adriaküste und weiter im Mittelmeer über Griechenland bis zur Türkei, geschlossen werden. Slowenien, Kroatien und Albanien sind bereits im Bündnis. Der bevorstehende NATO-Beitritt von Montenegro ist ein nächstes Glied in dieser Kette. Mazedonien soll folgen, aber Griechenland droht fortgesetzt mit seinem Veto gegen den Beitritt, da eine griechische Provinz und der Staat Mazedonien den gleichen Namen tragen. Hinsichtlich der Integrationsentscheidungen von Serbien und Bosnien-Herzegowina findet hinter den Kulissen ein Tauziehen zwischen den USA und Russland statt.

Statt eine Vollmitgliedschaft anzustreben, könnte Kosovo an der NATO-Partnerschaft für den Frieden in vielen Bereichen teilnehmen.

Kosovo sollte andere Optionen der sicherheitspolitischen Kooperation nicht von vornherein ausschließen, sondern alle sich bietenden Möglichkeiten abwägen und ausloten. Statt eine Vollmitgliedschaft anzustreben, könnte Kosovo nach dem Vorbild der Schweiz, Österreichs, Schwedens, Finnlands und Irlands an der NATO-Partnerschaft für den Frieden in vielen Bereichen teilnehmen und kooperieren. Es könnte zudem eine modernisierte KSF-Armee dauerhaft den Vereinten Nationen für Friedensmissionen anbieten. Solch eine Truppenstellung würde sicherlich zu weiterer internationaler Anerkennung und weltweiter Beachtung Pristinas führen, was wiederum auch Schutz generiert.

Für Regierung und Think Tanks sind dies aber Rezepturen einer Art sicherheitspolitischer Palliativmedizin. Sie halten vielmehr unbeirrt am Ziel NATO-Mitgliedschaft fest. Doch zur dafür erforderlichen parlamentarischen Zweidrittelmehrheit werden die mit Belgrad eng verbundenen zehn Abgeordneten der serbischen Minderheit benötigt. Es kann somit nicht überraschen, dass Serbien mit deren Hilfe die politische Ampel erst einmal auf Rot stellt.