Wie tickt Russland? Auf diese Frage ist angeblich noch nie eine überzeugende Antwort gefunden worden. Weder im Zarenreich, noch in der Rätezeit. Und schon gar nicht für die Russische Föderation. Dabei ist die Klärung recht einfach und folgt folgendem simplen Dreisprung: Aus Gedanken folgen Worte und aus Worten folgen Taten. Nach diesem Schema haben sich seit einem Vierteljahrhundert die russische Außenpolitik und deren Rolle in der Weltpolitik entwickelt.

Die verdammten und glorreichen 90er Jahre

Erste Gedanken entwickelten sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Bekanntlich verliefen die für die westlichen Länder mit der Rückkehr der zentraleuropäischen Länder ins europäische Haus fast glorreich. Doch für Russland bedeutet diese Zeit die Verarbeitung des Zusammenbruchs der Sowjetunion, also die Niederlage im Kalten Krieg. Natürlich gab das im Kreml keiner offiziell zu. Die “Zeit der Wirren”, wie die Präsidentschaft Boris Jelzins in die russische Geschichte bisher eingegangen ist, wurde, so die heutige russische Lesart von seinem Nachfolger Wladimir Putin beendet. Auch in der Ära Putin denkt das Land über die russische Außenpolitik nach. Putin selber fasste das Ergebnis auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 in Worte zusammen, indem er die Nato-Osterweiterung heftig kritisierte, weil deren militärische Infrastruktur “bis an unsere Grenzen” heranreiche. 2008 folgten die ersten Taten in Georgien, sechs Jahre später in der Ukraine. Beide Länder waren einst geeint in der Sowjetunion, beide sind souveräne Staaten, die an Russland grenzen, beide wollen in die Nato.

"Wir erwarten von Euch Russen, dass Ihr Euch wie eine westliche Demokratie verhaltet, aber wir werden Euch behandeln als wäret Ihr weiterhin die Sowjetunion."

Thomas Friedman, ein bekannter Autor und Kolumnist der New York Times kritisierte die russische Führung unter Putin und Dmitrij Medwedew nach dem Georgienkrieg im August 2008. Doch er kritisierte zugleich die amerikanische Regierung unter Bill Clinton und dessen Politik gegenüber Russland in eben den neunziger Jahren. Für Friedman stellte sich die Lage so dar: „Wir erwarten von Euch Russen, dass Ihr Euch wie eine westliche Demokratie verhaltet, aber wir werden Euch behandeln als wäret Ihr weiterhin die Sowjetunion.“ Und er schloss mit den Worten: “Der Kalte Krieg ist für Euch vorbei, aber nicht für uns“.

Dieses Gefühl hat die russischen Eliten nachhaltig geprägt. Und es findet Unterstützung in der Bevölkerung. Erst im 21. Jahrhundert sei man “von den Knien auferstanden”, so eine populäre Formulierung. Dieses unterschiedliche Verständnis der neunziger Jahre ist prägend für Russland. Auch wenn die Geschichte in Russland objektiv anders verlaufen ist, so muss man diese Interpretation ernst nehmen und sich damit auseinandersetzen. Denn es ist diese Analyse, auf deren Grundlage Russland Politik betreibt: Stabilität um jeden Preis. Und zwar nicht nur im eigenen Land sondern auch in den Anrainerstaaten. Als Begründung müssen die dort lebenden Russen herhalten, die es zu schützen gilt. Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrten nicht allzu viele nach Russland zurück.

Für westliche Beobachter scheint diese Politik wie aus einer anderen Zeit. So brandmarkte US-Außenminister John Kerry Putins Politik als Rückfall ins „19. Jahrhundert“. Doch Russlands Beharren auf dieser Interpretation im Zusammenhang mit seiner Größe und seinen militärischen Instrumenten, bedeutet für den Westen, damit umgehen und dies in Politikoptionen berücksichtigen zu müssen. Zu glauben, dass eine EU-Annäherung der sechs Länder der Östlichen Partnerschaft genauso reibungslos verläuft wie die EU-Osterweiterung, an dem ja mit den drei baltischen Staaten auch ehemalige Sowjetrepubliken beteiligt waren, ist nur durch eines zu erklären: Eine Hybris, die sich aus den neunziger Jahren speist. Wir sind stark, auf der richtigen Seite der Geschichte und Russland ist schwach und auf der falschen Seite.

Die Fehler des Westens wiederholen sich

Natürlich hatten und haben die Länder der Östlichen Partnerschaft das Recht, sich ihre eigene Zukunft aufzubauen. Das hat Russland ja auch anerkannt. Aber als direkte oder mittelbare Nachbarn des größten Landes der Welt, das sich als Verlierer der geopolitischen Neuordnung Ende des 20. Jahrhunderts sieht, gelten neben den internationalen Vereinbarungen eben auch noch andere Faktoren. Sicher, man muss diese nicht mögen, schon gar nicht akzeptieren, aber einkalkulieren sollte man sie schon.

Stattdessen laufen die westlichen Länder Gefahr, die Fehler, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Russland gemacht worden sind, zu wiederholen. Auch dort waren die Erwartungen an den Westen riesig. Umso bitterer die Enttäuschung, als mit der Einführung des kapitalistischen Marktes und freier Wahlen kein Wohlstand einzog. Im Gegenteil, viele Menschen erlebten einen sozialen Notstand. Denn die Transformation entpuppte sich als “Massenplünderung der Sowjetzeit”, wie es der Princeton-Wissenschaftler Stephen Kotkin beschreibt, oder als “Verkauf des Jahrhunderts”, so der Titel des wohl besten Buches über die Zeit von der Financial Times Korrespondentin Chrystia Freeland. Und die Menschen bekamen eine „Secondhand-Zeit“, wie die belarussische Autorin Swetlana Alixejewitsch in ihrem gleichnamigen Buch so eindrücklich feststellt. Schuld daran, so die überwiegende Meinung, war nicht der Zusammenbruch des eigenen Landes, sondern die Folgen westlicher Reformen.

In der Ukraine und anderen in der Region zu Reform bereiten Ländern könnte es zu ähnlichen Entwicklungen kommen. Also zunächst die große Euphorie und dann die Ernüchterung, sobald sich die Dividende nicht einstellt. Denn diese Länder haben bereits eine Transformation hinter sich. Ob sie imstande sind eine zweite durchzustehen, bleibt wünschenswert, ist jedoch keineswegs garantiert. Die EU-Osterweiterung II, die zunächst mit keiner Mitgliedschaft verbunden ist, könnte nur gelingen, sofern sie nicht en passant, sondern mit ganzer Kraft von den EU-Staaten und den entsprechenden Bewerberländern betrieben werden. Dafür ist nicht nur politischer Wille erforderlich, sondern ein finanzieller Gewaltakt, der der EU eigentlich kaum zuzutrauen ist.

Deshalb sollten wir alles daran setzen, die so unterschiedlichen Analysen der 90er Jahre zumindest ansatzweise in Einklang zu bringen.

Dabei gilt auch: Dieses Vorhaben wird ohne Russland nicht umzusetzen sein, weder politisch, noch wirtschaftlich. Auch hierüber mag man lamentieren. Doch die Ereignisse in der Ukraine zeigen deutlich, dass Moskau weder ausländische Kritik noch wirtschaftliche Nachteile, ja nicht einmal den Einsatz von Menschenleben scheut, um außenpolitisch stark zu agieren und die Schmach der 90er Jahre zumindest nachträglich vergessen zu machen.

Diesen Willen haben wir bisher unterschätzt. Die Gründe sind bekannt. Deshalb sollten wir alles daran setzen, die so unterschiedlichen Analysen der 90er Jahre zumindest ansatzweise in Einklang zu bringen. Das wäre der Kern von Vertrauensbildung, der unbedingt notwendig ist. Sonst droht erneut eine Spaltung Europas.