Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Westen in der vergangenen Woche mit seiner Ankündigung geschockt, Russland würde noch in diesem Jahr 40 moderne Interkontinental-Raketen anschaffen, die mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden könnten. Nach Daten des „Stockholm International Peace Research Institute“ (SIPRI) würde dieser Schritt das russische Nuklearwaffenarsenal auf 1820 einsatzfähige Atomwaffen erweitern. In einer ersten Reaktion sprach NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg von einem „nuklearen Säbelrasseln Russlands“, das „ungerechtfertigt, destabilisierend und gefährlich“ sei. Er kündigte eine Antwort des westlichen Militärbündnisses an.

Lettlands Außenminister Edgars Rinkēvičs hat die Eskalationsdynamik der anhaltenden Krise zwischen Russland und der NATO vor diesem Hintergrund mit der Kubakrise von 1962 verglichen. Er hat völlig Recht. Doch zugleich übersieht er die zentrale Lehre aus dieser Krise. Die nämlich lautet: Missverständnisse über außenpolitische Absichten können in einer nuklearen Katastrophe enden.

Auch zwischen Russland und den USA und der NATO bestehen heute fundamentale sicherheitspolitische Missverständnisse. Sie können die aktuelle Eskalation mit Russland durchaus erklären – ohne, und das ist wichtig, den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands in der Ukraine zu entschuldigen.

In der Kubakrise wie auch heute spielt die Wahrnehmung von Bedrohung eine zentrale Rolle die aber ist subjektiv und sozial konstruiert.

Diese Missverständnisse beschränken sich dabei nicht auf die Ukraine-Krise. Tatsächlich bietet sie keine hinreichende Erklärung für die aktuelle Eskalation im Verhältnis zwischen Russland und NATO. Auch hier ist eine Parallele zur Kubakrise zu ziehen. Denn die Versuche der Regierung Kennedy, das System Castro zu destabilisieren, um eine Contra-Revolution auszulösen, reichen nicht aus, um die Eskalation bis kurz vor den Atomkrieg zu erklären. Vielmehr ging es um ein weiteres Beziehungsgeflecht konkurrierender Sicherheitsbedürfnisse. In der Kubakrise wie auch heute spielt die Wahrnehmung von Bedrohung eine zentrale Rolle die aber ist subjektiv und sozial konstruiert.

Chruschtschow sah sich von den USA und den Raketen in der Türkei bedroht, weil die Jupiter-Raketen in unmittelbarer Nähe zu Moskau stationiert waren und die Sowjetunion den USA damals noch militärisch heillos unterlegen war. Umgekehrt sah sich Kennedy durch die Raketen auf Kuba bedroht, da diese ebenfalls in unmittelbarer Nähe zu Washington stationiert waren, und Chruschtschow den USA in der Berlin-Frage offen mit Eskalation gedroht hatte.

Wie wir heute wissen, handelte es sich weder bei den US-Atomraketen in der Türkei, noch bei den sowjetischen Atomraketen auf Kuba um Angriffswaffen. US-Präsident Kennedy und der sowjetische Parteichef Chruschtschow sahen in den Raketen der anderen Seite jedoch jeweils eine unmittelbare Bedrohung. Aus der Perspektive Kennedys und Chruschtschows war die Bewertung der Raketen jeweils folgerichtig – aber eben falsch. Bemerkenswert ist, dass weder Kennedy noch Chruschtschow jemals auf die Idee kamen, dass die eigenen Raketen wie die gegnerischen bewertet werden könnten – nämlich als Bedrohung. Ein Missverständnis, das beinahe ein nukleares Armageddon ausgelöst hätte.

Ebenso bemerkenswert ist, dass heute schon die Möglichkeit, Russland könnte sich von sicherheitspolitischen Entscheidungen der USA oder der NATO bedroht sehen, konsequent negiert wird. Das etablierte Narrativ von NATO wie USA lautet: Die jeweils geplanten oder ergriffenen Maßnahmen – wie die NATO-Osterweiterung oder der Raketenabwehrschirm – sind rein defensiver Natur und stellen keine Bedrohung Moskaus dar.

Das Problem daran ist weniger, dass dieses Narrativ völlig falsch wäre. Im Gegenteil: Tatsächlich hegen vermutlich weder NATO noch die USA offensive Pläne gegenüber Russland. Nur nimmt Russland die Entwicklung anders wahr und begreift diese Schritte als Offensivmaßnahme und Bedrohung. John J. Mearsheimer hat deshalb völlig Recht, wenn er meint “Die Russen, nicht der Westen, dürfen selbst entscheiden, was sie als Bedrohung wahrnehmen.“

Auch deshalb ist ein genauerer Blick in die Rüstungsdatenbank von SIPRI hilfreich. So verfügen allein die USA aktuell über 2080 einsatzfähige Atomwaffen. Zusammen mit Frankreich und Großbritannien kommt die NATO sogar auf 2520 einsatzfähige Atomwaffen. Der Militärhaushalt der USA beläuft sich für 2014 auf rund 610 Mrd. US-Dollar, was einem Anteil von 3,5 Prozent des BIP entspricht. Moskau hat im selben Jahr „nur“ 84,5 Mrd. US-Dollar (4,5 Prozent des BIP) für Rüstung ausgegeben.

Sowohl die NATO-Osterweiterung als auch der Raketenabwehrschirm verändern das strategische Gleichgewicht weiter zuungunsten Moskaus.

Dabei ist auch klar: Sowohl die NATO-Osterweiterung als auch der Raketenabwehrschirm verändern das strategische Gleichgewicht weiter zuungunsten Moskaus. Durch die Osterweiterung rückt das westeuropäische Militärbündnis territorial immer näher an die Westgrenze Russlands und an die Macht- und Interessenssphäre Moskaus heran. Die USA würden eine vergleichbare Entwicklung unter entgegengesetztem Vorzeichen kaum tolerieren. Auch dafür ist die Kubakrise ein historischer Beleg. 

Der US-Diplomat George Kennan, vielleicht einer der besten Kenner der Sowjetunion und Russlands, hatte bereits 1998 vor den Folgen der NATO-Osterweiterung gewarnt. Seine Warnung vor „dem Beginn eines neuen Kalten Krieges” liest sich heute fast prophetisch: „Of course there is going to be a bad reaction from Russia, and then [the NATO expanders] will say that we always told you that is how the Russians are – but this is just wrong.”

Durch den Raketenabwehrschirm würde die nukleare Abschreckungsfähigkeit Russlands nutzlos. Moskau wäre einem Erstschlag ausgeliefert. Um die mit einem Abwehrschirm verbunden Gefahr der Präventionslogik („Strike first!“) zu bannen, schlossen die Sowjetunion und die USA 1972 den ABM-Vertrag, der Raketenschirme verbot und die wechselseitige Vergeltungsfähigkeit beider Seiten sicherte. 2002 haben die USA den ABM-Vertrag einseitig gekündigt. Moskau hat diesen Schritt wiederholt kritisiert und klar gemacht, dass es einen Raketenschirm als Bedrohung interpretiert.

Vor diesem Hintergrund ist es aus Perspektive Moskaus durchaus folgerichtig, dass die 40 neuen russischen ICBMs, die einen Raketenabwehrschirm offenbar durchdringen können, als Defensivmaßnahme bezeichnet werden. Nur dass die NATO und die osteuropäischen Staaten Putins Ankündigung angesichts der Ukraine-Krise eben anders und ebenfalls folgerichtig wahrnehmen können – als Bedrohung und Provokation.

Die Kubakrise hat gezeigt, dass Bedrohungswahrnehmungen der anderen Seite ernst genommen werden müssen, um Krisen zu entschärfen. Kennedy tat dies buchstäblich in letzter Minute, als er, wenn auch unter dem Vorbehalt der Geheimhaltung, dem Abzug der Atomraketen aus der Türkei zustimmte. Unter dieser Bedingung war auch Chruschtschow bereit, die Atomraketen auf Kuba wieder abzubauen.

Das Dilemma der aktuellen Krise ist, dass weder Russland noch der Westen willens oder in der Lage scheinen, die Bedrohungswahrnehmung der anderen Seite ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Jede Seite beharrt darauf, lediglich zu reagieren und sich nur zu verteidigen. Damit aber bestätigt sie die längst etablierte Wahrnehmung des anderen als Bedrohung. Es wird höchste Zeit, dass sich Russland und der Westen an jene 13 Tage im Oktober 1962 erinnern. In diesem Sinne wäre uns eine Neuauflage der Kubakrise vielleicht sogar zu wünschen.