Eine berühmte Definition von Krise geht auf den italienischen Schriftsteller und Intellektuellen Antonio Gramsci zurück. In einer Krise, sagt er sinngemäß, ist das Alte nicht mehr da, das Neue hat aber noch nicht begonnen.

Heute leben wir in einer Zeit der vielfältigen Krisen: Krieg, Klima, Pandemie, Inflation, gesellschaftliche Spaltung. Jede Krise an sich ist schon eine enorme Herausforderung für unsere Gesellschaft. Aber die Krisen treten derzeit zusammen auf, stehen miteinander im Zusammenhang und verstärken sich gegenseitig.

Der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war eine Zäsur für die europäische Friedensordnung – eine „Zeitenwende“. Wir stehen vor einer riesigen Gestaltungsaufgabe. Nun geht es darum, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, denn die derzeitigen Umbrüche haben Auswirkungen auf unser Zusammenleben und die politische Agenda für die nächsten 20 Jahre.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat diesen Krieg begonnen. Er trägt die Verantwortung für das brutale Morden, für das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer. Es ist sein Angriff auf die Souveränität eines europäischen Landes. Wir sind nicht schuld an Putins Krieg, aber wir müssen uns selbstkritisch fragen, was wir vor dem 24. Februar hätten anders machen können. Vor allem aber müssen wir uns überlegen, was wir in Zukunft besser machen sollten.

Nach dem Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden und den vom Deutschen Reich begonnenen beiden Weltkriegen, wurden wir wieder aufgenommen in die internationale Staatenfamilie. Es war ein Wunder, dass zuerst die Bundesrepublik und später das vereinigte Deutschland wieder beliebter Partner der internationalen Gemeinschaft wurden. Unsere Geschichte hat es uns auferlegt, Zurückhaltung zu üben. Unsere Integration in Europa wurde Teil unseres neuen Selbstverständnisses.

Für viele war es nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt nur noch aus liberalen Demokratien besteht.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstand eine bipolare Weltordnung, wir erlebten Blockbildung und Systemkonkurrenz. Entweder Westen oder Osten, Kapitalismus oder Kommunismus. In dieser Weltordnung haben wir über Jahrzehnte gelebt. 1989 ging sie abrupt zu Ende, der Westen hatte gewonnen. Für viele war es nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Welt nur noch aus liberalen Demokratien besteht.

Samuel Huntington schrieb über die Wellen der Demokratisierung. Francis Fukuyama rief sogar das Ende der Geschichte aus. Heute wissen wir: Die Geschichte war nie zu Ende. Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Gesellschaftsmodell einer demokratischen und freien Gesellschaft das Beste ist. Aber nur, weil wir das so sehen, heißt das nicht, dass das überall auf der Welt so gesehen wird.

Der Westen hat sich lange zu sicher gefühlt. Ein Krieg zwischen Staaten in Europa schien unvorstellbar. Unsere Friedensordnung basierte viele Jahrzehnte auf dem Glauben an die Unverrückbarkeit von Grenzen, an staatliche Souveränität, alles gegossen in Verträge und internationales Recht. Wir haben uns in dieser Welt bequem eingerichtet. Wenn es hier und da mal ruckelte, waren wir davon überzeugt, dass sich am Ende alles schon wieder einordnen würde. Weil wir daran geglaubt haben, dass sich unser politisches Modell und die regelbasierte Ordnung durchsetzen würden.

Wir haben verkannt, dass sich bestimmte Dinge längst anders entwickelt haben. Die Signale aus Russland hätten wir anders sehen müssen – spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Russland wurde immer autoritärer und ist heute eine Diktatur. Auch China hat eine gänzlich andere Vision als wir. Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Staaten im globalen Süden enttäuscht sind von den Verheißungen liberaler Demokratien.

Bisher haben sich die großen globalen Player weltpolitischen Einfluss über Druck und Gefolgschaft gesichert. Die Welt wird sich in Zukunft jedoch anders ordnen. Sie wird künftig nicht mehr in unterschiedlichen Polen, sondern in Zentren organisiert, die auf eine andere Art und Weise Macht ausüben. Nicht mehr Gefolgschaft, Druck und Unterdrückung sind entscheidend für die Zuordnung, sondern Überzeugungen und Interessen. Diese dynamischen Machtzentren sind attraktiv, sie schaffen Bindungen, Abhängigkeiten und Kooperationen. Sich ihnen anzuschließen, erfolgt im eigenen Interesse.

Diese Weltordnung hat für Staaten, die noch kein starkes Zentrum sind, aber über großes wirtschaftliches und politisches Potenzial verfügen, große Vorteile, weil sie sich nicht mehr einem Block zuordnen müssen. Sie können sich aussuchen, bei welchen Themen sie mit wem zusammenarbeiten.

Die Signale aus Russland hätten wir anders sehen müssen.

China geht sehr strategisch vor, seinen Einfluss auszubauen und Staaten vor allem durch seine wirtschaftliche Macht auf seine Seite zu ziehen. Auch Russland hat jahrelang Beziehungen zu aufstrebenden Staaten gepflegt und sie damit an sich gebunden. Es sind Alternativen zum westlichen Entwicklungsmodell gewachsen. Russland und China haben über viele Jahre hinweg auch demokratische Staaten wie Südafrika, Indien oder Brasilien hofiert, ihnen etwa über die BRICS-Initiative eine Stimme auf internationaler Ebene gegeben. Sie haben die Interessen dieser Länder gesehen und sind ihren Regierungen mit Respekt begegnet. Das hat Vertrauen aufgebaut.

Die Auswirkungen sehen wir aktuell, wenn viele Staaten unseren Weg der Sanktionen gegen Russland ablehnen. Die Abstimmungen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zeigen, dass die Hälfte der Weltbevölkerung nicht hinter unserer Politik steht. Das muss uns zu denken geben. Das sollte zwar keine Auswirkung auf die Substanz und Härte unserer Entscheidungen haben, aber auf unsere Aktivitäten in anderen Regionen der Welt.

Für uns muss es darum gehen, Bindungskraft zu entfalten, neue politische Allianzen zu schmieden, partnerschaftliche Abkommen zu schließen und offene Strukturen wie etwa den Klimaklub anzubieten. Es braucht Strukturen, die integrativ und nicht exklusiv sind. Wir müssen diese strategischen Partnerschaften auf- und ausbauen. Ganz konkret schon in den kommenden Monaten, wenn es um Lebensmittelknappheit geht.

In Afrika, Lateinamerika und in vielen Ländern Asiens wird es Hungerkatastrophen geben, auch als Folge von Putins Krieg. Wir müssen intensiver auf die Länder des globalen Südens zugehen und ihnen Angebote zur Kooperation machen. Dabei sollten wir neue Partnerschaften suchen: etwa in den Bereichen Gesundheit, Technologie, Wasserstoff und Klima.

Unser Anspruch in Europa muss sein, uns zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu entwickeln, dafür Innovationen und Standards zu schaffen und die Transformation sozial gerecht zu gestalten. Wir wollen zeigen, dass Klimaschutz und Wohlstand Hand in Hand gehen können. Wenn uns das gelingt, werden sich andere Länder an uns orientieren und auch diesen Weg gehen.

Wandel durch Annäherung darf nie wieder auf Wandel durch Handel reduziert werden.

Es ist klar, dass wir dabei auch mit Ländern zusammenarbeiten müssen, die nicht unsere Werte teilen oder sogar unsere Gesellschaftsordnung ablehnen. Es ist jedes Mal eine Abwägung, wie tief unsere Kooperation geht und ab wann unsere Grundsätze und Werte durch eine solche Zusammenarbeit verletzt sein könnten. Wir müssen weiterhin Unrecht ansprechen, es kann keine Kooperation ohne Haltung geben. Wandel durch Annäherung darf nie wieder auf Wandel durch Handel reduziert werden.

Nie wieder dürfen wir uns in so starke Abhängigkeiten begeben, wie das energiepolitisch bei Russland der Fall war. Europa muss deshalb seine strategische Autonomie ausbauen. Kritische Güter und kritische Infrastruktur müssen hier bei uns in Europa hergestellt und gefördert werden. Mit Blick auf China bedeutet das etwa, dass wir Abhängigkeiten in den Bereichen Medizin oder Technik abbauen. Das bedeutet nicht, dass wir mit Staaten wie China keinen Handel mehr betreiben sollten, wie es manche fordern – aber es bedeutet, dass wir uns strategisch klug und resilient aufstellen.

Wir haben jetzt einige Jahre der Unklarheit und der Unsicherheit vor uns, was die künftige Weltordnung anbelangt. Es wird in den kommenden Jahren einen Wettstreit um Beziehungen, Abhängigkeiten, Bindungen und Kooperationen geben. Kein Staat alleine kann die Herausforderungen der globalisierten Welt meistern. Daher braucht es starke Zentren, die in eine Richtung arbeiten. Es bleibt dabei enorm wichtig, dass wir als Westen eng zusammenstehen: ein starkes Europa als Kern, aber in engem Schulterschluss mit den USA, dem Vereinigten Königreich, Australien, Japan und anderen. Unser Anspruch muss sein, dass wir das attraktivste Zentrum sind.

Dabei kommt es ganz viel auf uns an. Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem. Unser Land hat sich in den letzten Jahrzehnten ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet. Mit diesem geht aber eine gewisse Erwartungshaltung einher. Die vergangenen Wochen haben gezeigt: Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt. Wir sollten diese Erwartungen erfüllen.

Führung bedeutet nicht, breitbeinig oder rabiat aufzutreten.

Führung bedeutet nicht, breitbeinig oder rabiat aufzutreten. Auch in der internationalen Politik setzen sich hoffentlich – genauso wie in der Innenpolitik – kluge Führungskulturen durch. Dazu gehört übrigens auch die Idee einer feministischen Außenpolitik. Führung bedeutet, sich seiner Rolle bewusst zu sein, sich nicht wegzuducken und andere einzusammeln. Nie überheblich, aber durchdacht, überzeugt und konsequent zu handeln. Ein kooperativer Führungsstil ist ein kluger Führungsstil.

Dabei muss immer klar sein, was unsere Motivation ist. Wir machen Außenpolitik dafür, dass Menschen in Sicherheit, Frieden und Wohlstand leben können. US-Präsident Biden spricht von „Foreign Policy for the Middle Class“. Dies ist der richtige Ansatz. Außenpolitisches Engagement ist nie ein Selbstzweck, es hat immer Auswirkungen auf unser Zusammenleben vor Ort.

Wir erleben gerade, was für enorme Kosten eine instabile internationale Ordnung, Krieg und unterbrochene Lieferketten für das Leben bei uns haben. Am Ende haben internationale Konflikte auch eine enorme Sprengkraft für unsere Demokratie und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Gerade deswegen ist außenpolitisches Engagement so wichtig. Die neue Rolle als Führungsmacht wird Deutschland harte Entscheidungen abverlangen – finanzielle als auch politische. Wir müssen Strukturen verändern, auch Budgets neu verhandeln.

Bundeskanzler Olaf Scholz und die Bundesregierung haben in den vergangenen Wochen einige Grundprinzipien deutscher Außenpolitik überdenken und verändern müssen. Wir stehen solidarisch an der Seite der Ukraine. Wir liefern Waffen, auch schwere Artillerie. Wir verhängen harte Sanktionen, die Russland über Jahrzehnte spüren wird. Und wir üben harten politischen Druck gemeinsam mit unseren Partnern in den USA und Europa aus. Es ist richtig, dass wir diese Schritte gehen. Auch das hat mit unserer neuen Rolle zu tun.

Wir alle sind in den letzten Jahren den sicherheitspolitischen Mainstream mitgegangen, die Landes- und Bündnisverteidigung zu vernachlässigen. Mitte Februar kamen mehr als 2000 Expertinnen und Experten auf der Münchner Sicherheitskonferenz zusammen. Nur die wenigsten sind davon ausgegangen, dass Putin die Ukraine angreift. Wenige Tage später hat Putin seinen Angriff gestartet. Mich beschäftigt, dass wir das alle nicht gesehen haben.

Im Umgang mit unseren ost- und mitteleuropäischen Partnern haben wir Fehler gemacht.

Daher müssen wir in Szenarien denken und uns auf diese vorbereiten. Wenn wir aus den baltischen Staaten oder Polen hören, dass sie Angst davor haben, die nächsten Ziele Russlands zu sein, dann müssen wir das ernst nehmen. Im Umgang mit unseren ost- und mitteleuropäischen Partnern haben wir Fehler gemacht. Es ist deswegen wichtig, dass wir den Dialog mit ihnen intensivieren und Europa gemeinsam voranbringen.

Olaf Scholz hat mehrfach deutlich gemacht, dass wir jeden Zentimeter Nato-Territorium verteidigen werden. Ich begrüße seine Entscheidung, mehr deutsche Truppen an der Ostflanke der Nato zu stationieren und den Schutz unserer osteuropäischen Partner zu intensivieren. Hierzu ist jedoch eine bessere Ausstattung der Bundeswehr dringend notwendig.

Es ist gut, dass wir die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr auf den Weg gebracht haben. Damit können wir Fähigkeitslücken schließen und die Landes- und Bündnisverteidigung wieder in den Mittelpunkt rücken. In der Vergangenheit hatte man fast den Eindruck, manche dachten, je weniger Bundeswehr es gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg, sondern das Verschließen der Augen vor der Realität.

Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen. Das sieht übrigens auch die Charta der Vereinten Nationen vor. Es ist stets das äußerste Mittel, aber es muss eben auch klar sein, dass es ein Mittel ist. Wir sehen das gerade in der Ukraine.

Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg, sondern das Verschließen der Augen vor der Realität.

Einige mögen jetzt alarmiert sein. Der Vorsitzende der SPD redet von Führungsmacht, von Bundeswehr, von militärischer Gewalt. Ich kann mir vorstellen, wie so manche Debatte jetzt läuft. Ich habe aber den Anspruch, dass wir realistisch sind. Schon Willy Brandt und Helmut Schmidt haben gewusst, dass die Grundlage für eine kraftvolle Friedenspolitik auch militärische Stärke ist. Damals lag der Wehretat bei mehr als 3 Prozent unserer Wirtschaftskraft.

Die Hand, die wir ausstrecken, muss stark sein. Brandt und Schmidt haben verstanden, dass man nur aus eigener Stärke heraus für Frieden und Menschenrechte eintreten kann. Wir sollten Debatten nicht verkürzt führen. Ich bin stolz auf die Ostpolitik von Willy Brandt, für die er immerhin den Friedensnobelpreis erhielt. Diese war die Grundlage für die Wiedervereinigung, das Überwinden der Systemgegensätze sowie die Demokratisierung vieler ehemaliger Staaten des Ostblocks.

Die Zeitenwende erfordert, sich von Gewissheiten zu verabschieden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir alles über Bord werfen, was richtig war. Diplomatie, Abkommen, internationale Abrüstungsinitiativen, das Völkerrecht, Entwicklungspolitik, Multilateralismus, gerechte internationale Finanzpolitik – das sind und das bleiben die erfolgreichsten Mittel der Konfliktlösung und vor allem der Konfliktprävention. Sie gehören zu einer umfassenden Sicherheitspolitik dazu.

Das wichtigste Projekt sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik ist Europa. Als Führungsmacht muss Deutschland ein souveränes Europa massiv vorantreiben. Deutschland kann nur stark sein, wenn Europa stark ist. Wir haben in der Geschichte der EU gesehen, was möglich ist, wenn etwas politisch gewollt war und vorangetrieben wurde. Schengen, die Einführung des Euro, die historischen Verträge von Maastricht und Lissabon oder auch jüngst der Corona-Wiederaufbau: Das alles waren Entscheidungen mit großer Tragweite, die unser Leben in Europa besser gemacht haben.

Als Führungsmacht muss Deutschland ein souveränes Europa massiv vorantreiben.

Olaf Scholz hat vor kurzem Nordmazedonien und Albanien in Aussicht gestellt, bald mit den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union zu starten. Und auch bei seiner Reise nach Kiew hatte er gemeinsam mit anderen Regierungschefs eine wichtige Botschaft im Gepäck: Ihr, die Ukraine, gehört zu Europa. Ihr kämpft für europäische Werte. Mit euch ist Europa stärker. Auch die Republik Moldau braucht einen Kandidatenstatus. Diese Zeichen sind extrem wichtig.

Die Zeitenwende ist ein epochaler Umbruch. Die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung sortiert sich gerade neu. Dass sich Staaten an der Europäischen Union orientieren und zu uns dazugehören wollen, zeigt, welche Attraktivität wir als Zentrum jetzt schon haben.

Diese Attraktivität geht jedoch auch mit einer politischen Verantwortung einher. Dazu gehört auch die Erweiterungspolitik. Europa muss als geopolitischer Akteur mehr Gewicht bekommen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die EU schon einmal gezeigt, dass sie in der Lage ist, geopolitisch und strategisch zu handeln. Es war ein politisches Ziel, den ehemaligen Staaten des Ostblocks eine schnelle Beitrittsperspektive in die EU zu ermöglichen.

Die EU sollte auch jetzt die nächsten Beitrittsverhandlungen mit politischem Druck vorantreiben. Das bedeutet keineswegs einen Rabatt für die Beitrittskandidaten – kein „Fast Track“. Die Kopenhagener Kriterien gelten, aber wir dürfen die Beitrittsprozesse nicht in den Mühlen der Brüsseler Bürokratie versanden lassen, sondern müssen sie als geopolitisches Projekt aktiv vorantreiben.

Wenn wir über Erweiterung sprechen, müssen wir aber natürlich auch über Reformen nach innen sprechen. Nur so wird die EU aufnahmefähig. Die Europäische Union muss auch mit mehr Mitgliedern in der Lage sein, schnell zu handeln. Daher müssen wir das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen, etwa in der Außenpolitik oder in der Finanz- und Fiskalpolitik. Das macht die EU schlagfertiger, handlungsschneller und demokratischer. Es darf jedoch keine Abstriche bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geben. Daher brauchen wir einen neuen Mechanismus, die Kopenhagener Kriterien auch nach einer Aufnahme wirksam zu verteidigen.

Die europäischen Nato-Staaten sollten in Zukunft in der Lage sein, europäisches Territorium gemeinsam zu verteidigen.

Viele ambitionierte Ideen für Europa wurden in den letzten Jahren andiskutiert und wurden dann so lange in den Fluren der Bürokratie hin- und hergeschoben, bis sie irgendwann versandet sind. Beispielsweise wäre genau jetzt der richtige Moment, um endlich eine europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik voranzutreiben. 27 Länder, die ihr eigenes Beschaffungswesen unterhalten, ihre eigenen Rüstungskonzerne haben und einzeln mit diesen Konzernen verhandeln – es ist nicht erklärbar, warum wir das nicht endlich gemeinsam europäisch regeln.

Am Ende muss das Ziel sein, dass wir Ressourcen effektiv bündeln und eine starke europäische Säule in der Nato aufbauen. Die europäischen Nato-Staaten sollten in Zukunft in der Lage sein, europäisches Territorium gemeinsam zu verteidigen. Das ist keine Politik gegen das transatlantische Bündnis, sondern eine Politik, die das Bündnis stärkt.

Neben der Außen- und Sicherheitspolitik geht es auch darum, Europa nach innen zu stärken und in den sozialen Zusammenhalt zu investieren. Überall in Europa kämpfen die Menschen gerade mit den gestiegenen Preisen. Der Krieg gefährdet auch den sozialen Frieden bei uns. Das gehört zu Putins Strategie. Er führt einen Krieg gegen die europäischen Demokratien, er will sie zersetzen und auseinanderdividieren.

Wir müssen unsere Gesellschaften in dieser Krise zusammenhalten. Mit dem Corona-Wiederaufbaufonds und dem SURE-Programm, einem europäischen Schutzschirm gegen Arbeitslosigkeit, haben wir dies erst in der jüngsten Geschichte gezeigt. Das hat Sicherheit gegeben, überall in Europa. Jetzt kommt es darauf an, diese Fortschritte fest zu verankern. Dazu gehört auch, dass wir bei einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Flexibilität ermöglichen, um in Zukunftsthemen wie die ökologische und digitale Transformation zu investieren.

Die Transformation ist das Zukunftsthema schlechthin.

Die Transformation ist das Zukunftsthema schlechthin. Sie hat eine ökologische, eine ökonomische, aber spätestens mit diesem Krieg auch eine sicherheitspolitische Dimension. Wir haben im Koalitionsvertrag bereits ambitionierte Ziele gesetzt: Klimaneutralität bis 2045, massiver Ausbau der Erneuerbaren Energien, Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft, Förderung innovativer Technologien. Dies alles hat durch die Zeitenwende eine neue Dringlichkeit erhalten. Wir wollen das nicht gegen die Industrie erreichen, sondern mit ihr zusammen vorantreiben.

Wir müssen jetzt mit Investitionen in Erneuerbare Energien und neue Energiequellen schnell vorankommen. Das wird für einige Jahre erhebliche Anstrengungen erfordern, aber es ist notwendig für unseren langfristigen Wohlstand. Damit schaffen wir die Grundlagen für gute Jobs und gute Löhne in Europa. Durch die Förderung klimafreundlicher Innovationen kann Europa auch globale Standards setzen. Es sind Investitionen in unsere Unabhängigkeit und damit auch in unsere Sicherheit.

Das Alte ist nicht mehr, das Neue ist noch nicht. Doch ich glaube an die einzigartige Kraft Europas. Ich glaube an die Kraft sozialdemokratischer Überzeugungen für ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Solidarität. Und ich glaube an die Gestaltungskraft unserer Demokratie, die Kraft von Politik, an Krisen zu wachsen, und eine bessere Zukunft zu gestalten.

Auszüge der Rede Lars Klingbeils zur Zeitenwende im Rahmen der Tiergartenkonferenz 2022, gehalten am 21. Juni 2022 in Berlin