Am 14. März 2016 kamen die Außenminister der Europäischen Union zusammen, um über die Beziehungen zwischen der EU und Russland zu sprechen. Als Ergebnis der Diskussion wurden fünf Prinzipien präsentiert. Diese stellen den Konsens der 28 EU-Mitgliedstaaten dar. Ihrem genauen Wortlaut ist daher die entsprechende Bedeutung beizumessen.

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini formulierte die fünf Prinzipien so:

1. „(...D)ie vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ist der Schlüssel für jede wesentliche Änderung in unseren Beziehungen (...W)ir bekräftigten unseren gemeinsamen festen Standpunkt der Nichtanerkennung der Krim-Annexion.“

Zum Kernprinzip wird damit ein Abkommen erklärt, zu dessen Parteien weder Russland noch die EU gehören. Das bedeutet praktisch, dass die grundlegenden Beziehungen zwischen den Schlüsselakteuren in Europa direkt vom Verhalten Dritter abhängig gemacht werden. Dabei setzte sich Russland in jeder Phase des Minsker Prozesses konsequent für die möglichst vollständige und fristgerechte Umsetzung der Vereinbarungen ein. Zudem kommt das Thema Krim in den Minsker Vereinbarungen gar nicht vor. Die Krim ist von der EU willkürlich in den Minsker Prozess einbezogen worden. Diese Logik ist sehr gefährlich, da sie die Normalisierung unserer Beziehungen auf unbestimmte Zeit hinausschieben kann.

2. „…Stärkung der Beziehungen zu unseren östlichen Partnern und anderen Nachbarstaaten, insbesondere in Zentralasien.“

Es sei daran erinnert, dass es um die Prinzipien der EU-Beziehungen zu Russland geht. Damit wird die Fortsetzung der politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, kulturellen und anderweitigen Expansion der EU in der gemeinsamen Nachbarschaft zu einem Leitprinzip. Muss noch daran erinnert werden, dass fast alle kritischen Situationen der jüngsten Vergangenheit genau darauf zurückzuführen waren, dass euroatlantische Institutionen die ehemaligen Sowjetrepubliken aktiv zu „erschließen“ begannen und dort vehement die Idee der vermeintlichen Alternativlosigkeit der geopolitischen Orientierung Richtung Westen propagierten, die allerdings eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Russland völlig ausschließt?

3. „(...) Stärkung der internen Widerstandskraft der Europäischen Union, insbesondere, aber nicht ausschließlich, im Hinblick auf die Energieversorgungssicherheit, hybride Bedrohungen und strategische Kommunikation.“

Die EU vertrat bereits vor den Sanktionen konsequent immer härtere Positionen in Bezug auf Russland und zwang Russland die eigenen Regeln und Normen als universell auf.

Die EU vertrat bereits vor den Sanktionen konsequent immer härtere Positionen in Bezug auf Russland und zwang Russland die eigenen Regeln und Normen als universell auf. Das betraf beispielsweise das sogenannte Dritte Energiepaket zur Energiecharta, in dem faktisch die Regeln des Käufers dem Energielieferanten auferlegt wurden. Genauso wurde bei Verhandlungen zum Gastransit über die Ukraine und im Hinblick auf das South-Stream-Projekt verfahren. Wieder einmal sehen wir anstelle einer Suche nach Lösungen den Wunsch, für eine entschlossene Abwehr jeglicher hybrider „feindlicher Machenschaften“ die Reihen zu schließen.

4. „(...D)ie Notwendigkeit einer selektiven Zusammenarbeit mit Russland sowohl in außenpolitischen Angelegenheiten (…) als auch in anderen Bereichen, in denen es ein klares Interesse der Europäischen Union gibt.“

Das heißt: Einen Dialog mit Russland nur dort führen, „wo es ein klares Interesse der Europäischen Union gibt“. Es ist offensichtlich, dass genau das die Vorgehensweise der EU seit dem Ende des Kalten Krieges ist. Als Russland vorschlug, ein Abkommen zur gemeinsamen europäischen Sicherheitsarchitektur zu schließen und auf die Osterweiterung der NATO zu verzichten, einen Dialog mit Slobodan Milošević oder Wiktor Janukowitsch zu führen, die Rechte der ethnischen Russen in baltischen Staaten zu thematisieren, den schon abgestimmten Plan für die Beilegung des Transnistrien-Konflikts anzunehmen, ein gemeinsames Raketenabwehrsystem oder die South-Stream-Pipeline zu bauen usw., waren die Europäer nicht an der Diskussion dieser Themen mit Russland interessiert. Welchen Schluss ziehen die EU-Diplomaten heute? Weitermachen wie bisher: nicht darüber sprechen, was für Russland wichtig, sondern nur darüber, was für die EU wichtig ist.

5. „(...D)ie Bereitschaft, die russische Zivilgesellschaft immer stärker zu unterstützen und zwischenmenschliche Kontakte (…) zu pflegen, (…) mit einem besonderen Augenmerk auf die Jugend in Russland und in der Europäischen Union, da wir der Ansicht sind, dass die Zukunft unserer Länder unserer Investitionen bedarf.“

Im Grunde handelt es sich um eine Weigerung, mit dem realen, aber unbequemen Russland einen Dialog zu führen und den Ansatz, Russland von innen umzugestalten. Nicht die Tonart und den Inhalt des Dialogs, sondern den Dialogpartner selbst zu ändern – als unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg des Prozesses.

 

Welche Motivation Russland nach der Kenntnisnahme der europäischen Thesen haben kann, ist mir ein Rätsel.

Bereits der Ansatz, die Bedingungen der Zusammenarbeit einseitig zu formulieren und den Partner davon unvermittelt, fast in der Form eines Ultimatums – „so oder gar nicht!“ –  in Kenntnis zu setzen, wirft sicherlich eine ganze Reihe von Fragen auf. Zusammenarbeit setzt eigentlich zwei Seiten voraus. Und damit sie gelingt, müssen beide Seiten eine entsprechende Motivation haben. Welche Motivation Russland nach der Kenntnisnahme der europäischen Thesen haben kann, ist mir ein Rätsel. Hier ist das Kalkül offensichtlich, Russland habe sowieso keine Alternativen. Dieses Kalkül ist aber grundverkehrt.

Besonders bedauerlich ist an diesen Thesen, dass gar keine Schlüsse aus den akuten Krisen der letzten Jahre gezogen wurden. Nicht zuletzt die Ukraine-Krise war eine direkte Folge der dargestellten EU-Politik. Sie zeigte mit aller Deutlichkeit, wie verkehrt und fruchtlos dieser Ansatz ist. Nun sehen wir aber einen Versuch, das Feuer mit Benzin zu löschen.

Ich habe versucht, mir vorzustellen, ob wir unser EU-Konzept ebenfalls in wenigen Punkten zusammenfassen können. Die russischen Prinzipien könnten in etwa so aussehen:

1. Europa ist nicht nur die Europäische Union. Geografisch endet Europa am Ural und kulturell und zivilisatorisch im Fernen Osten. Daher sind Versuche eines Teiles von Europa, im Namen von ganz Europa zu sprechen und die eigenen internen Normen und Standards als universell darzustellen, inakzeptabel.

2. Zwischen Russland und der EU gibt es keinen Wertekonflikt. Es gibt Interessenkonflikte. Es gibt die Logik der Einflusssphären, die euroatlantische Institutionen zur ununterbrochenen Osterweiterung treibt. Diese Logik und diese Expansion haben jedoch eine Grenze, und diese Grenze ist unserer Ansicht nach erreicht. Leider hatte und hat die EU für diesen Fall bisher keine Handlungsstrategie.

3. Russland ist genauso wie die EU und andere Staaten, die nicht zur EU gehören, ein Teil des europäischen Konstrukts. Die europäische Zukunft liegt nicht in der Transformation Russlands, sondern in der Transformation Europas, in einem tatsächlichen Übergang von Geopolitik zu Werten und zur Zusammenarbeit. Die Prinzipien dieser Zusammenarbeit wurden von den Europäern bereits formuliert und verabschiedet, und zwar in der Charta von Paris für ein neues Europa von 1990, die im Zuge der Umsetzung der euroatlantischen Strategie des Westens in Vergessenheit geraten ist.

Zwischen Russland und der EU gibt es keinen Wertekonflikt. Es gibt Interessenkonflikte.

4. Alle europäischen Konflikte, die heute eine ernste Gefahr für die Sicherheit in Europa darstellen, müssen auf der Grundlage der Achtung der Rechte sämtlicher Konfliktparteien gelöst werden. Es gibt keine Konfliktpartei, die allein im Recht wäre. Auf diesem Grundsatz beruhen die Minsker Vereinbarungen, und genau deswegen sind sie von allen Seiten strikt zu befolgen.

5. Ein Kernprinzip der EU-Russland-Beziehungen sollte der Verzicht auf jegliche Vorbedingungen, Ultimaten und einseitige Vorwegnahmen sein. Verweise auf das „Recht des Stärkeren“ beziwhungsweise die Argumentation mit Bevölkerungszahlen und Wirtschaftsmacht sind nicht stichhaltig: Die Europäische Union bestand selbst immer darauf, dass das „große“ Russland einen gleichberechtigten und respektvollen Dialog mit kleinen Staaten führe. Die EU muss den Dialog demokratisieren. Dann sehen wir sofort Lösungen für viele Probleme, die heute unlösbar erscheinen.

Der französische Senat hat vor kurzem einen Bericht zu den französisch-russischen Beziehungen vorgelegt. Der Ausschuss für internationale Angelegenheiten des russischen Föderationsrats konnte in Paris mit den Verfassern des Berichts sprechen und erstellt nun einen eigenen Bericht. Bis Herbst 2016 werden wir versuchen, unsere Standpunkte zu vereinen und einen gemeinsamen Text zu verfassen.

Mir ist klar, dass unser Vorhaben in der heutigen Situation schwierig oder gar kühn erscheint. Diese Arbeit ist aber unerlässlich. Wir sollten auf einseitige Stellungnahmen verzichten und zu gemeinsamen kommen. Das ist viel schwieriger und nicht mit jedem Partner möglich, doch mit gutem Willen und aufrichtigem Interesse an einem Ergebnis, ist uns Erfolg beschieden.

Daher würde ich alle Prinzipien wohl durch ein einziges ersetzen: „Wille und aufrichtiges Interesse“. Wenn wir das haben, werden wir immer zu einer Einigung kommen können, zunächst mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten, soweit das möglich ist. Und dann kommt vielleicht die Europäische Union wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt)

Quelle: http://www.ng.ru/ideas/2016-04-04/9_dialog.html