Eine seltsame Begeisterung für das Militärische hat dieses Land ergriffen und vor allem seinen politischen Betrieb. Der Berliner „Blob“, wie Hans Kundnani den wissenschaftlich-medial-politischen Hauptstadtkomplex vor kurzem nannte, kennt derzeit mehrheitlich nur eine Message: mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung. Stellt man dies nicht bereit, „kommt der Russe“.

Für an Fakten und Zahlen orientierte Staatsbürger sind diese Forderungen nicht ganz einfach zu verstehen. Egal welchen Indikator man sich anschaut, man kommt immer zu demselben Ergebnis: Die NATO ist Russland um ein Vielfaches überlegen. Vor allem die Forderung nach mehr Geld erscheint grotesk: Die kombinierten Rüstungsausgaben der NATO-Mitgliedstaaten überstiegen 2023 – einem Jahr, in dem Russland sich mitten in einem massiven konventionellen Krieg befand – die Russlands um knapp das Dreizehnfache: Fast 1,3 Billionen US-Dollar für die NATO stehen circa 110 Milliarden Dollar für Russland gegenüber. Auch wenn man den Anteil der USA abzieht, übersteigen die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Mitglieder die Russlands immer noch um das Dreifache. Seit Jahrzehnten besteht ein Militärausgaben-Verhältnis in einer Größenordnung von zehn zu eins zugunsten der NATO. Wenn das nicht zu genügend Sicherheit geführt hat – was dann?

Denn es ist ja nicht so, als bildeten sich diese Ausgaben nicht in militärischen Kapazitäten ab. Egal welche Indikatoren man heranzieht – rein numerische oder auch qualitativ bewertende –, ist die NATO Russland haushoch überlegen. Dies gilt, so das Webportal Global Firepower Index, selbst für Szenarien, in denen die NATO lediglich 25 Prozent ihrer Kapazitäten zum Einsatz bringt, Russland aber 75 Prozent.

Das Argument, ein russischer Angriff auf NATO-Territorium wäre nach einer Nicht-Niederlage in der Ukraine nur eine Frage der Zeit, wirkt entsprechend freihändig. Mit der Ukraine hat Russland als global zweitstärkste Militärmacht ein auf dem Papier militärisch vielfach unterlegenes Land angegriffen (Rang 18 im Global Firepower Index). Ein Angriff auf ein schwächeres Land hat eine innere militärische Logik: Man kann einen solchen Krieg gewinnen. Ein Angriff auf einen vielfach überlegenen Gegner hat sie nicht: Man kann diesen Krieg eigentlich nur verlieren. Natürlich können sich politische Entscheider darüber täuschen, welche Siegesaussichten sie im Falle eines militärischen Konflikts haben, und der russische Überfall auf die Ukraine ist das beste Beispiel dafür. Aber angesichts der bestehenden kompletten Asymmetrie der militärischen Arsenale der NATO und eines in der Ukraine ausblutenden russischen Militärs erscheint dies als extrem unwahrscheinlich.

In vielerlei Hinsicht wirkt die gegenwärtige Berliner Militarisierungsbegeisterung daher eher wie eine Art Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen. Dies gilt gerade für die Grünen, die in der Person Anton Hofreiters vor kurzem ein zusätzliches 100-Milliarden-Paket für Militärausgaben und die Aufhebung der Schuldenbremse forderte. Das ist derselbe Dr. Anton Hofreiter, der im Juli 2020 einen Antrag der Grünen-Bundestagsfraktion unter dem Titel „Beitrag der Bundeswehr gegen die Klimakrise stärken – CO2-Ausstoß der Streitkräfte deutlich reduzieren und konsequent erfassen“ in den Bundestag einbrachte. Dort wurde die Bundesregierung aufgefordert, „eine Strategie vorzulegen, um den CO2-Ausstoß innerhalb der Bundeswehr in Gänze zu reduzieren und sich auch innerhalb der NATO für eine generelle Reduktion des CO2-Ausstoßes der Streitkräfte einzusetzen“. Auch bei Waffenkäufen sollte das gelten. Es gelte „bei sämtlichen Beschaffungsentscheidungen den CO2-Ausstoß stärker zu gewichten und, wo es möglich ist, zu priorisieren“ sowie natürlich „Munitions-, Raketentests sowie sonstige Schießübungen auf das notwendige Maß zu reduzieren“.

In vielerlei Hinsicht wirkt die gegenwärtige Berliner Militarisierungsbegeisterung wie eine Art Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen.

Wir sprechen vom Juli 2020, mit Bundeswehrsoldaten in Mali und Afghanistan, einem anhaltenden low intensity-Artilleriekrieg im Donbass, einem anschwellenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan und einem militärischen Konflikt in Syrien unter direkter Beteiligung der NATO-Partner USA und Türkei. Von ähnlicher militärischer Weitsicht zeugt auch der Antrag der Grünen-Fraktion vom Dezember 2020, in der es um die Ablehnung von bewaffnungsfähigen Drohnen ging – ein Antrag, dessen verteidigungspolitische Klugheit man heute am Himmel über der Ukraine täglich überprüfen kann.

Nicht unähnlich präsentiert sich das Bild aber auch bei der Union. Es war die CDU-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die ihre vornehmste Aufgabe im Umbau der Bundeswehr zu einem „familienfreundlichen Arbeitgeber“ gesehen hatte. Die damit verbundenen Anpassungsmaßnahmen haben zeitweise die operativen Fähigkeiten halber Waffengattungen gelähmt. Und die Bundesakademie für Sicherheitspolitik veröffentlichte im Mai 2021 – Verteidigungsministerin war damals die ehemalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer – eine Studie mit dem schönen Titel „Vom Leopard zum E-Opard: Die Bundeswehr sollte bei der Klimaneutralität vorangehen“. Vor einigen Jahren brachte ein polnischer Teilnehmer bei einer Tagung deutscher und polnischer Verteidigungsexperten die deutsche Stimmungslage der späten Merkel-Jahre so auf den Punkt: „Wenn wir von Sicherheitsbedrohungen sprechen, sprechen wir von Mittelstreckenraketen in Kaliningrad. Wenn die Deutschen von Sicherheitsbedrohungen sprechen, dann sprechen sie vom Bienensterben.“

Tatsächlich brauchte die Bundesrepublik damals und braucht sie jetzt eine Neubewertung ihrer Verteidigungspolitik. Aber der Grund dafür liegt weniger an einem dringenden Aufrüstungsbedürfnis gegen einen überlegenen Gegner, sondern in der Tatsache, dass das langjährige Trittbrettfahren Deutschlands bei den Verteidigungsanstrengungen des Westens bei unseren Partnern nicht mehr akzeptiert wird. Als reichste Volkswirtschaft der EU haben wir uns drei Jahrzehnte lang nicht nur auf die USA verlassen, sondern auch darauf, dass wesentlich ärmere Staaten gemessen am BIP sehr viel höhere Anteile in die kollektiven Verteidigungsanstrengungen des Westens investiert haben als wir. Diese Zeiten sind vorbei.

Eine fairere Verteilung der Verteidigungslasten zwischen stärkeren und schwächeren Schultern innerhalb des atlantischen Bündnisses ist aber etwas anderes als die gegenwärtige Begeisterung für Aufrüstung und gesellschaftliche Militarisierung, die auch Teile des liberalen und „progressiven“ Milieus erfasst hat. Deutschland hat noch ein paar andere Baustellen, auf denen Geld gut gebraucht werden kann: Wohnungsbau, Bildung, Infrastruktur, Energiewende, Integration, Pflege, Digitalisierung, um nur ein paar der Großaufgaben zu nennen. Die politische und soziale Destabilisierung, die von ungelösten Hausaufgaben in diesen Bereichen ausgeht, könnte sich als deutlich realer erweisen als ein sehr unwahrscheinlicher, im Kern suizidärer Angriff Russlands auf die NATO. Und auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung dürfte von Messerangriffen im öffentlichen Raum nachhaltiger gestört werden als von der Angst, dass der russische Bär schon durchs Schlüsselloch schnaubt.

Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen ist menschlich verständlich. Sie ist aber keine rationale Politikbegründung. Für all diejenigen, die es eher mit faktenbasierter Politik halten, bleibt angesichts des Militarisierungsbegeisterung im Berliner „Blob“ der gute alte Satz Joschka Fischers: „Sorry, but I am not convinced!“