In den ersten Tagen seiner bisherigen Amtszeit unterzeichnete der neue US-Präsident Joe Biden eine Reihe hochkarätiger Dekrete, die einige von Trumps schlimmsten Maßnahmen rückgängig machten und, so schien es, einen grundlegenden Kurswechsel einleiteten. Die Verfügungen des neuen Präsidenten wurden über Tage und Wochen verteilt, um eine maximale Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzielen.

Jede neue Reihe von Maßnahmen wurde von der Presse umfassend begleitet. In der Berichterstattung wurden in der Regel lediglich die offiziellen Aussagen der Regierung wiederholt, die die Beherztheit und transformative Wirkung ihres Handelns betonte. Sie fügt sich nahtlos in das vorgefertigte Mediennarrativ ein, wonach eine – im historischen Kontext betrachtet – ungeheuer progressive neue Führungsfigur das Land nun in die „Normalität“ zurückführt.

Nach dieser ersten Welle positiver Presse gewannen Journalistinnen die nötige Zeit, um das Kleingedruckte der Maßnahmen zu prüfen und mit Experten und Vertreterinnen der Industrie zu sprechen oder einfach nur ihre Auswirkungen in der realen Welt zu beobachten. Und so wird in den Medien nun über die ernüchternde Realität hinter vielen der bejubelten Verfügungen berichtet. Meist geschah das allerdings in Beiträgen, die weit seltener gelesen werden als die ursprünglichen, aufmerksamkeitserregendenSchlagzeilen, die die vom Weißen Haus intendierte Botschaft verbreiteten.

Nun scheint sich dieses Muster bei der neuesten, viel beachteten Ankündigung zu wiederholen. Zwar passt die mediale Lobhudelei, mit der die Rückzugsankündigung aus Afghanistan begrüßt wurde, zum allgemeinen Tenor der bisherigen Berichterstattung zur Biden-Regierung. Aber sie ist aus mehreren Gründen befremdlich. Dieselben Medien, die jetzt Lobeshymnen anstimmen, haben in den vergangenen drei Jahren jedes Mal empört reagiert, wenn Trump andeutete, sich aus Afghanistan zurückziehen zu wollen – eine der wenigen guten Absichten während seiner Amtszeit.

In der Berichterstattung wurden in der Regel lediglich die offiziellen Aussagen der Regierung wiederholt, die die Beherztheit und transformative Wirkung ihres Handelns betonte.

Das geschah zuletzt erst vor wenigen Monaten. Jahrelang wurde die Selbstverständlichkeit, mit der Trump Ratschläge  militärischer  Führungskräfte  überging und ignorierte, insbesondere was Truppenabzüge betrifft, als eine seiner skandalösesten Verhaltensweisen dargestellt; aber jetzt, da Biden dasselbe tut, gilt es plötzlich als mutig und rechtschaffen.

Noch bedeutender ist jedoch: Es war gar nicht Biden selbst, der den Rückzug aus Afghanistan erklärt hat. Ein solcher Rückzug war bereits im letzten Jahr ausgehandelt worden, als Trump – im Wahljahr um den Wahlsieg kämpfend – in einem Deal den Taliban zusicherte, das Land bis Mai dieses Jahres zu verlassen.

Tatsächlich hat Biden nach monatelangem Zögern die Beendigung des Krieges um weitere vier Monate hinausgezögert. Im Anschluss hielt er eine vielbeachtete Rede, in der er sich nicht nur für etwas rühmte, was er tatsächlich gar nicht getan hatte, sondern gegen das er sich in der Realität sogar aktiv gewehrt hatte. Dafür wurde er medial genauso  überschwänglich gelobt wie beispielsweise auch für seine Entscheidungen in der Migrationspolitik. Während die wohlwollende Berichterstattung sein Vorgehen als Rücknahme von einigen von Trumps umstrittensten Maßnahmen verkaufte, werden diese Maßnahmen in Wahrheit weiter aufrechterhalten.

Der Zynismus, mit dem das Weiße Haus unter Biden agiert, ist an dieser Stelle allerdings weniger bedeutend als die Aussicht darauf, dass die Vereinigten Staaten ihren furchtbaren, sinnlosen Krieg in Afghanistan endlich beenden könnten. Unter Politikerinnen und Politikern ist es üblich, sich die Erfolge anderer auf die eigene Fahne zu schreiben. Auch Trump beanspruchte etwa die quälend langsame Erholung der Wirtschaft, die nicht von ihm, sondern seinemVorgänger angestoßen wurde, als seinen Verdienst.

Mit seinem Zögern verletzt Biden eindeutig die Vereinbarung, die Trump mit den Taliban getroffen hat.

Für alle, die wollen, dass die USA Afghanistan, diesen „von Imperien geschaffenen Friedhof“ verlassen, kann Bidens Hinauszögern kein Anlass zum Feiern sein. Schlimmstenfalls macht sich Biden dieselbe Strategie zunutze, die schon viele Regierungen verfolgt haben, einschließlich derjenigen, in der er selbst als Vizepräsident agierte: lautstark das Ende eines Krieges verkünden, um sich das Wohlwollen der Wählerinnen und Wähler zu sichern, und gleichzeitig im Stillen einen Weg finden, um den Krieg fortzuführen – üblicherweise durch endlose Verzögerungen. Im besten Fall versucht er, sich die Zeit für einen geordneten Abzug zu verschaffen, die er verlor, weil er drei Monate lang untätig vertrödelt hat – und erhöht damit unabsichtlich die Wahrscheinlichkeit, dass der Abzug nicht stattfinden wird. 

Das ist keine Übertreibung. Mit seinem Zögern verletzt Biden eindeutig die Vereinbarung, die Trump mit den Taliban getroffen hat, und letztere reagieren dementsprechend. Sie drohen mit Angriffen auf US-Truppen, die sich nach dem vereinbarten Abzugstermin noch im Land aufhalten, und weigern sich in Reaktion auf die Vertragsverletzung, am bevorstehenden Friedensgipfel mit der afghanischen Regierung in der Türkei teilzunehmen. Die Gewalt im Land nimmt zu, und die Taliban stehen zudem kurz vor ihrer jährlichen Frühjahrsoffensive.

Somit könnten in den kommenden Monaten mehr Angriffe und militärische Eroberungen bevorstehen – und damit auch mehr Tote auf US-Seite. Das wiederum wäre entweder der perfekte Vorwand oder zumindest ein triftiger und dringender Anlass, den Abzug aus Afghanistan gänzlich zu verwerfen. Selbst wenn man der US-Regierung die ehrlichsten Motive unterstellt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation zudem durch ihre Ankündigung gegenüber den Taliban, jeden Angriff auf US-Truppen mit Vergeltung zu bestrafen.

Sollte Biden sein Versprechen, die US-Truppen bis September abzuziehen, formal einhalten, besteht dennoch Grund zur Sorge. Nicht namentlich genannte „aktuelle und ehemalige amerikanische Funktionäre“ haben gegenüber der New York Times  bereits die Vermutung geäußert, dass die Biden-Administration „höchstwahrscheinlich“ einfach die offiziellen US-Truppen durch Spione, Spezialeinheiten und private militärische Truppen ersetzen wird.

Biden mag also einem sinnlosen Krieg ein Ende setzen, aber er befeuert einen noch viel größeren.

Andere nicht genannte Beamte sagten der Zeitung zudem, der Plan sei, US-Truppen in den umliegenden Ländern zu stationieren, um dann Drohnen und Flugzeuge einzusetzen, um mutmaßliche Terroristen zu töten – wie es bereits überall in Nordafrika und im Nahen Osten geschieht. Wir sollten uns fragen: Wenn eine Besatzungsmacht Truppen aus den USA abziehen, aber ihre Bombardements fortsetzen und weiterhin Geheimtruppen dorthin entsenden würde, glauben wir dann wirklich, dadurch würde der Krieg beendet?

Im Wesentlichen verweist Biden gegenüber Afghanistan auf die Strategie zur Terrorismusbekämpfung unter dem Titel „Counterterrorism-plus“, die er selbst unter Obama entwickelt hat. Sie erlaubt es, Krieg gegen mehr Länder als je zuvor zu führen, ohne aber die innenpolitischen Rückschläge hinnehmen zu müssen, die mit einer tatsächlichen Invasion einhergehen. Wie Spencer Ackerman hervorhob, rechtfertigte Biden in seiner Rede den Abzug aus Afghanistan teilweise sogar mit der Begründung, terroristische Gruppen hätten „sich immer mehr zerstreut und rund um den Globus Metastasen gebildet“.

Biden deutete damit an, dass es keinen Sinn ergebe, Tausende Streitkräfte und Milliarden von Dollar in den Kampf in nur einem einzigen Land zu investieren, wenn die US-Regierung diesen Kampf überall auf der Welt bestreiten müsse, auch in Syrien und im Irak. Biden mag also einem sinnlosen Krieg ein Ende setzen, aber er befeuert einen noch viel größeren.

Möglicherweise noch beunruhigender ist eine andere Begründung, die Biden anführte, um die Beendigung des Krieges zu rechtfertigen: die Notwendigkeit, es mit China aufzunehmen. Berichten zufolge war der amtierende US-Außenminister  Tony Blinken, der zunehmend in Konfrontation mit China geht, die treibende Kraft hinter der Entscheidung, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Vor diesem Hintergrund wirkt die Ankündigung weniger wie ein zaghafter Kurswechsel einer vermeintlich fortschrittlichen Regierung und mehr wie eine Verschiebung von Ressourcen für einen völlig anderen und noch viel gefährlicheren Konflikt. Ähnlich wie die Jahreszeiten einander ablösen, könnte hier ein ewiger Krieg zu Ende gehen, um einem neuen Platz zu machen. 

Alle bisherigen Anzeichen deuten darauf hin, dass Biden auch nach dem formellen Abzug aller US-Truppen weiterhin eine Art von Krieg in Afghanistan führen wird, wenn auch in verminderter Form – und es ist noch lange nicht sicher, dass selbst das überhaupt geschehen wird. Zugleich zeichnet sich ab, dass der Präsident an anderer Stelle einen endlosen globalen Machtkampf eskalieren lässt, der sowohl den Menschen auf der ganzen Welt als auch ihren vermeintlichen Gegnern in den Vereinigten Staaten bereits sehr geschadet hat. Es sollte Aufgabe der Presse sein, all das der Öffentlichkeit zu vermitteln. Aber bislang werden solche Stimmen von den Jubelschreien allzu oft übertönt.

Aus dem Englischen von Franziska Heinisch

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin Jacobin.