In Deutschland herrscht allgemein die Vorstellung, dass die Ostpolitik – worunter man gewöhnlich eine Politik versteht, die auf der Idee einer friedlichen Koexistenz mit Russland basiert und auf die Entspannungspolitik Willy Brandts zurückgeht – inzwischen völlig diskreditiert ist. Selbst diejenigen, die zugestehen, dass sie in den 1970er Jahren erfolgreich war, halten sie anscheinend für überholt und sind der Ansicht, sie sollte komplett aufgegeben werden. Dabei brauchen wir Ostpolitik – und das wohl derzeit mehr denn je. Insbesondere die Sozialdemokratie sollte sich wieder auf sie besinnen, statt sie ad acta zu legen.

Deutschlands außenpolitische Eliten sind überwiegend der Ansicht, die Sozialdemokraten seien bis zum russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 in einer überkommenen Sichtweise gefangen gewesen, die auf Brandts Ansatz zurückgehe. Bundeskanzler Olaf Scholz habe zwar nach dem Einmarsch einen neuen Kurs versprochen, sei aber beim Investieren in die militärischen Kapazitäten nicht weit genug gegangen, bei den nötigen Waffenlieferungen an die Ukraine zu zögerlich gewesen und habe nicht deutlich genug gesagt, dass Russland besiegt werden müsse. Mit anderen Worten: Die Sozialdemokraten können von der Ostpolitik nicht ganz lassen.

Ich sehe das anders. Mehr als zehn Jahre lang habe ich die damals in Deutschland und in anderen westlichen Ländern vorherrschende Auffassung kritisiert, die wirtschaftliche Verflechtung mit China und Russland werde diese Länder entweder demokratisieren oder in „verantwortungsvolle Akteure“ der internationalen Ordnung verwandeln. Ich war also alles andere als ein Verfechter des von Gerhard Schröder bis Angela Merkel vertretenen weichen Kurses gegenüber autoritären Staaten. Schon 2013 habe ich darauf hingewiesen, das Prinzip „Wandel durch Handel“ sei keine Fortführung, sondern ein Zerrbild der Ostpolitik.

Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik, war ein Realist und hatte nicht die Transformation der Sowjetunion, sondern die Wiedervereinigung Deutschlands im Sinn. Das Konzept, das er 1963 in seiner berühmten Rede in Tutzing vorschlug, zielte keineswegs auf wirtschaftliche Verflechtung. Damals lautete das Schlagwort „Wandel durch Annäherung“, nicht „Wandel durch Handel“. Es ging mehr um zwischenmenschliche Beziehungen als ums Geschäft – und soweit die wirtschaftliche Verflechtung überhaupt eine Rolle spielte, war sie nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck.

„Wandel durch Handel“ war das liberale Zerrbild einer realistischen Grundidee.

Doch seit der Ära Schröder wurde dieser durchaus kluge und erfolgreiche Grundsatz aus der Zeit des Kalten Krieges nicht nur von den Sozialdemokraten, sondern auch von anderen instrumentalisiert. Er musste als Rechtfertigung für einen ganz anderen Kurs gegenüber einem Land herhalten, bei dem es sich nicht mehr um die Sowjetunion handelte, sondern um ein nach dem Kalten Krieg von Grund auf verändertes Russland. Nun war das Geschäftemachen nicht mehr ein Mittel zum Zweck, sondern das eigentliche Ziel. Um dem Ganzen einen moralischen oder strategischen Anstrich zu geben, wurde jedoch behauptet, Handel führe von sich aus zu „Wandel“ in den autoritären Staaten, mit denen Deutschland Geschäfte machte. Kurzum: „Wandel durch Handel“ war das liberale Zerrbild einer realistischen Grundidee.

Inzwischen hat Deutschland aber offensichtlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Da die Ostpolitik derart sinnentstellt ist, dass man vergessen hat, worum es eigentlich ging, erscheint sie angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine bestenfalls irrelevant und schlimmstenfalls kontraproduktiv. Stattdessen heißt es, es könne keinen Frieden mit Russland geben, solange das Land nicht vollständig besiegt sei, und wir müssten uns deshalb auf einen langen Krieg einstellen. Außerdem ergebe es keinen Sinn, über einen Frieden mit Russland überhaupt nur nachzudenken – allein schon das Nachdenken spiele Putin in die Hände.

Doch die Ostpolitik – im Unterschied zu dem Zerrbild von „Wandel durch Handel“, das mit Schröder seinen Anfang nahm – ist nach wie vor relevant. Mehr noch: Eine Ostpolitik wird heute dringender gebraucht als vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022. Bei allen Unterschieden zwischen damals und heute gleicht die derzeitige Lage in Europa dem Kalten Krieg stärker als in den zwei Jahrzehnten nach dessen Ende. Damit könnte die geschickte Strategie aus der Zeit des Kalten Krieges so relevant werden wie schon lange nicht mehr.

Heute muss das Ziel Frieden mit Russland sein.

Bahrs Konzept beinhaltet zwei ausgesprochen innovative und interessante Aspekte, die für das Nachdenken über die deutsche Russlandpolitik heute bedeutsam sind. Der erste Aspekt ist der paradoxe Gedanke, die Realität zu akzeptieren, um sie verändern zu können. Für Bahr war dies die Teilung Deutschlands. Er kam zu der Einsicht, dass die Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik der beste Weg sei, um die Teilung zu überwinden. Er nannte das „innerdeutsches Judo“.

Der zweite Aspekt der Ostpolitik ist der Gedanke, in kleinen Schritten auf ein langfristiges Ziel hinzuarbeiten, das unerreichbar scheint. Für Bahr war der erste Schritt ein Abkommen mit der DDR, das es der Bevölkerung Westberlins ermöglichte, Passierscheine für den Besuch bei Verwandten in Ostberlin zu beantragen. Das muss damals bestenfalls belanglos gewirkt und schlimmstenfalls als Zugeständnis wahrgenommen worden sein – doch es war der Beginn eines Prozesses, der die beiden deutschen Staaten zusammenführen sollte.

Auch wenn viele den Eindruck haben, es gebe einen neuen Kalten Krieg, ist die heutige Situation natürlich eine ganz andere als in den frühen 1960er Jahren, als Bahr die Ostpolitik auf den Weg brachte, und in den 1970er Jahren, in denen Willy Brandt sie als Kanzler in die Tat umsetzen konnte. Vor allem ist Deutschland inzwischen wiedervereinigt. Die Sozialdemokraten sollten darüber nachdenken, wie sie diese beiden Aspekte von Bahrs Ansatz auf die heutige Situation in Europa anwenden könnten.

Heute muss das Ziel – also das, was für Bahr die deutsche Wiedervereinigung war – Frieden mit Russland sein. Im Moment scheint dies so weit entfernt und unerreichbar wie die deutsche Wiedervereinigung in den frühen 1960er Jahren. Doch die Ostpolitik lehrt, auf der einen Seite die aktuelle Realität zu akzeptieren, ohne aber auf der anderen Seite das Ziel aus den Augen zu verlieren, was die außenpolitischen Eliten in Deutschland allem Anschein nach tun. Zudem sollte darüber nachgedacht werden, welche kleinen Schritte unternommen werden können, um dieses Ziel am Ende zu erreichen.

Aus dem Englischen von Christine Hardung