Kanzlerin Angela Merkel versuchte kürzlich wieder, es allen recht zu machen. Ja, im Prinzip stehe Deutschland dahinter, gegen den inakzeptablen Chemiewaffeneinsatz in Syrien „ein Zeichen zu setzen“. Aber wenn es sich dabei um einen Militärschlag handele, mache man nicht mit. Die völkerrechtliche Problematik stand zu dem Zeitpunkt noch gar nicht im Raum. Die sicherlich ungewollte Analogie zur westdeutschen, pazifistischen „Ohne mich“-Haltung der 1950er Jahre ist frappant. Kategorisch wurde auf diese Weise die Frage nach einer deutschen Militärintervention beantwortet. Damit wurden schwierige, innenpolitische Probleme umgangen. Denn verfassungsrechtliche Hürden der Bundeswehr als Parlamentsarmee mit schwächelnden militärischen Fähigkeiten mussten so gar nicht erst überwunden werden. Mit Blick auf die Stimmung in Deutschland war das ein geschickter Schachzug. Nur fünf Prozent der Deutschen befürworten klar eine Beteiligung an einer Militärintervention in Syrien.

Deutsche Zurückhaltung bei militärischen Kampfeinsätzen hat Tradition. Berlin verklärte seine Mission in Afghanistan lange als Stabilisierungseinsatz, lehnte einen Einsatz im Irak strikt ab und beteiligte sich im Kosovo nur widerwillig. Auch in Lybien 2011 hielt sich Deutschland zurück. Die Bündnispartner im UN-Sicherheitsrat rieben sich bei der damaligen Abstimmung über militärische Schritte gegen Diktator Muammar al Gaddafi bei der deutschen Stimmenthaltung noch irritiert die Augen. Jetzt, beim jüngsten Luftschlag gegen das Assad-Regime, forderten sie gar nicht erst eine deutsche militärische Mitwirkung.

Frankreich wird für die deutsche Zurückhaltung wahrscheinlich mehr sicherheitspolitische Leistungen in Afrika verlangen. Und machen wir uns nichts vor: Friedensmissionen sind nicht eo ipso friedlich. Eine Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat erschöpft sich nicht im prosaischen Konfliktmanagement.

Die Formel von zugleich Sicherheit vor und Sicherheit für Deutschland, wurde in der neuen Berliner Republik erweitert zu Sicherheit mit Deutschland.

Um den „deutschen Weg“ im Bündnis zu verstehen, braucht es einen Rückblick: Nach dem NS-Totalitarismus bildeten in der eingeschränkt-souveränen  Bundesrepublik die Trias „Nie wieder“, „Niemals alleine“ sowie „Diplomatie und Politik anstelle Militär“ ein robustes Axiom. Der verfassungsnormative und politisch-explizite Machtverzicht entsprach dem Rollenverhalten einer friedvollen Zivilmacht. Zugleich aber wurde die Machtenthaltsamkeit für den Aufbau wirtschaftlicher Stärke genutzt.

Nach der deutschen Einheit forderten Bündnispartner und förderten insbesondere die Rot-Grünen Bundesregierungen die schrittweise Emanzipation vom Sicherheitskonsumenten zum Sicherheitsproduzenten. Die Formel von zugleich Sicherheit vor und Sicherheit für Deutschland, wurde in der neuen Berliner Republik erweitert zu Sicherheit mit Deutschland. Aufgeweckt aus dem 1949 von den Westalliierten versetzten Machtkoma, musste das „politische Tier deutsche Macht“ gleichzeitig domestiziert werden. Es sollte künftig ein mitbestimmender Faktor außen- und sicherheitspolitischen Handelns werden. Um Macht aus der scheinbar obszönen Ecke zu holen und für die deutsche Politik wieder zu resozialisieren, verbrämte man sie mit Begriffen wie etwa „Macht des guten Vorbilds“. Der deutsche sicherheitspolitische Weg bedeutete Macht ohne Vision, Mission und Ambition.

Das befreundete Ausland argumentierte, warb und forderte hingegen unermüdlich Deutschland auf, mehr Mut ebenfalls in harten Machtfragen sowie mehr Führung in Europa zu wagen. Erinnert sei beispielhaft an die couragierte Rede des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski im Jahr 2011. Die Münchner Sicherheitskonferenz 2014 schien als Auftakt für ein „Wir haben verstanden“. Unisono drängten Joachim Gauck, Frank Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen zu mehr Verantwortungsübernahme. Doch wer tatsächlich glaubte, jetzt ändere sich etwas, der irrte. Die Politik machte das, was sie gut kann: Kleinmut und Kalkül anstatt strategischer Diskurse.

Die innenpolitische Kontroverse darüber, wie scharf die Zähne der deutschen Zivilmacht sein sollen und dürfen, hält bis heute an. Wie stark muss der friedvolle deutsche Gulliver im Bündnis gefesselt sein, aber trotzdem gerüstet genug für militärische Einsätze im Rahmen von internationalen Verpflichtungen? Exemplarisch verdeutlicht sich das schwierige machtpolitische Verhältnis in Kampfbeiträgen gegen den internationalen Terrorismus. Die deutschen Einsatzrollen sind im Vergleich zu denen der britischen oder französischen Verbände durchaus keine Kuraufenthalte. Aber hinsichtlich der Mandatsfestlegung mit weniger gefährlichen geographischen Sektoren im Einsatzgebiet, begrenzter Auftragsbeschreibung und oft unzureichender Ausrüstung, gibt es oft ein Gefälle gegenüber den großen Allianzmitgliedern. Zu deren macht- und militärpolitischen Vollreife kann Deutschland objektiv gar nicht aufrücken und sollte es auch nicht versuchen.

Im Selbstbild ist Deutschland ein europäischer zivilgesellschaftlicher gentle giant und neigt mit Blick auf seine Friedenspolitik, Weltoffenheit, Energiewende und Flüchtlingshilfe zu moralischer Großmächtigkeit.

Die USA, Großbritannien und Frankreich sind Nuklearstaaten und als ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat Vetomächte. Ihre Streitkräfte sind keine Parlamentsarmeen und nicht wie die deutschen Streitkräfte im Umfang limitiert. Die Regierungen in Washington, London und Paris weisen ihnen ganz selbstverständlich eine große und robuste Bedeutung in der Interessendurchsetzung zu. Im Kontext von Geopolitik und Geoökonomie bilden sicherheitspolitische Strategien, operative humanitäre Abwägungen und taktische Zweckmäßigkeit auch von ad-hoc-Militäraktionen eine politisch-pragmatische Achse.

Vordergründig liegt der Unterschied zur deutschen Sicherheitskultur darin, dass ihre Militäreinsätze mit Kampfauftrag im Konzept der vernetzten Sicherheit an letzter Stelle stehen und wenn möglich, vermieden werden sollen. Sicherheitspolitisches Denken hat in Deutschland keine selbstverständliche geopolitische Konnotation wie in Washington, London und Paris. Wegen der expansiven NS-Raumordnungspolitik löste sich erst spät, im Zuge der Einheit, das Denken von Politik im Raum aus seiner historischen, ideologischen Verortung. Gleichwohl wird heute im politischen Berlin über Geopolitik immer noch eher mit gerümpfter Nase gesprochen. Auch langfristig wird keine Regierung den drei Bündnispartnern folgen und diese Denkfigur als einen Treiber von deutschen außenpolitischen Interessen statuieren wollen. Geopolitik als eine analytische Kategorie in den internationalen Beziehungen bedingt strategisches Denken und ist überdies dem machtpräferenziellen, interessengeleiteten politischen Realismus zuzurechnen.

Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik orientiert sich demgegenüber an der Denkschule des Liberalismus mit seinen von Werten, Regeln und Interessenausgleich bestimmten Prinzipien. Das macht uns in der Welt zwar vertrauensvoll und sympathisch. Aber strategisches politisches Denken beherrschen wir nicht. Dieses Defizit hob auch Sigmar Gabriel als Außenminister Ende letzten Jahres beim Berliner Forum Außenpolitik hervor. Der Mittlere Osten und Asien als Beispiele zeigten, „wie schwierig es für uns Deutsche sein wird, ein strategisches Verhältnis zur Außenpolitik zu finden“, sagte Garbiel.

Gegenüber Konflikten verharrt Deutschland zu lange abwägend in Duldungsstarre und reaktiver Haltung. Es darf sich nicht scheuen, eigene Interessen deutlich zu identifizieren und zu formulieren und muss sie aktiv in einen strukturierten Abstimmungsprozess mit den europäischen Partnern einbringen, damit Europa als Akteur wahrgenommen wird und mitgestalten kann. So hätte sich Deutschland schon seit langem politisch für eine gemeinsame europäische Syrien-Strategie einsetzen können. Das wäre strategisches Betrachten und Agieren gewesen.

Im Selbstbild ist Deutschland ein europäischer zivilgesellschaftlicher gentle giant und neigt mit Blick auf seine Friedenspolitik, Weltoffenheit, Energiewende und Flüchtlingshilfe zu moralischer Großmächtigkeit. Es sollte sich jedoch vor moralischer Selbstüberschätzung hüten, etwa der Vorstellung, dass Deutschland mit Blick auf Trump nun die freie Welt anführt.

Berlin ist ständig bestrebt, die Grammatik des Selbstverständnisses deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – Multilateralität, Kooperation, Regelverlässlichkeit und universale Zivilität – als eine Weltsprache zu etablieren. Doch auf der internationalen Bühne  überwiegen die Imperative aus Geopolitik, Multipolarität und Vorteilsringen. Das deutsche Mantra, es gebe in Syrien keine militärische Lösung, wird etwa in Moskau anders gesehen. In den Konfliktdilemmata zwischen Werten und Interessen legitimiert Berlin bevorstehende Militäreinsätze gerne gesinnungsethisch als Rechtsdurchsetzung und humanitäre Intervention. Im Konvoi der realpolitisch handelnden großen Partner ist man – wie im Kosovo aktiv handelnd oder im Fall Syrien politisch flankierend – hingegen bereit, die normative Prinzipientreue (Völkerrecht) zu durchbrechen und argumentiert dann verantwortungsethisch. Kleinmütig wird eine klare Priorisierung bei Werten und Interessen verweigert, stattdessen mäandert deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in einem hybriden Sowohl als auch. Über die Menschenrechtsverletzungen und Interventionen wird bei der Türkei in Syrien und bei Saudi Arabien im Jemen hinweggeschwiegen. Im Fall der Ukraine steigt man jedoch in ein Sanktionsregime mit Russland ein. Natürlich hat jeder Fall seine eigene Agenda. Aber Prinzipien und Relativismus können nicht gemeinsam Tango tanzen.